Jenseits der Kulturkritik

Der Bamberger Soziologe Gerhard Schulze durchstreift die Eventkultur

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Die Dialektik der Kulturgeschichte hält als Gegenstück [...] das eigensinnige Subjekt bereit, auf der Suche nach Wirklichkeit jenseits des eigenen Horizonts, jedoch auf eigene Faust." Für Gerhard Schulze, den Autor der fast schon legendären "Erlebnisgesellschaft" (1992), leidet die gegenwärtige Kultur unter einer Paradoxie: dem Widerspruch zwischen dem Wunsch, die eigene Individualität zu verwirklichen und dem Ensemble der zu Gebote stehenden Möglichkeiten (Erlebnisformen). Jeder Versuch, die Einzigartigkeit des Individuums öffentlich zu inszenieren, ist somit zum Scheitern verurteilt. Deshalb müssen wir zu den "Kulissen des Glücks" wieder auf Distanz gehen. In Schulzes neuem Essayband erstreckt sich die Suche nach dem versteckten und vergessenen "Anderen" auf vier Aufsätze über Sinnlichkeit, Lachen, Medien und Eventfolklore.

Das eingängige Modewort für unseren unstillbaren Erlebnishunger heißt "Event". Hinter dessen Fassaden verbirgt sich eine zirkuläre, nur noch auf sich selbst gravitierende Subjektivität. Wohnte Ereignissen wie einer Hinrichtung noch ein Bezug auf überindividuelle Orientierungsvorgaben ("gerechte Strafe") inne, so bleibt heute davon nur der Bezug auf das autistisch ausgekostete Erleben übrig. Gleich, ob Formel-1-Rennen, Expo 2000, Fitnesscenter, Matthäus-Passion oder Dichterlesung - das Event weist nicht mehr über das eigene Leben hinaus. Es umplätschert uns wie körperwarmes Badewasser. Das Gefühl, vordem nur eine Begleiterscheinung objektiver Inhalte (Kunst, Religion), erhebt sich zum einzigen Kristallisationspunkt. Entscheidend ist nun, in welcher Form ein Gegebenes (als Kunsterlebnis, als religiöse Empfindung) "anschlußfähig" wird.

Schulze beschreibt das Aufrücken innerer Befindlichkeit und spontaner Wünsche zur obersten Instanz von Subjektivität zutreffend als eine Form nachmetaphysischer Selbstapotheose: "Man betrachtet das Leben als eine Art Gott - ihm gilt es zu dienen, von ihm bezieht man seine grundlegenden Maßstäbe. Sein oberstes Gebot lautet: 'Fang etwas mit mir an!` An die Stelle des alten Begriffs der Sünde hat der Gott 'Leben' einen existenziellen Vermeidungsimperativ gesetzt: 'Verpfusch mich nicht!' Entschied einst die Bildung über die kulturelle Kompetenz der Subjekte, so kommt nun auf "folkloristische Formensouveränität" an, darauf, mit dem Archiv der Ereignismuster vertraut zu sein. Nach der Weise des Patchworks sucht der Einzelne sein Glück in der Auswahl und Komposition der gewählten Kulissen. Von der richtigen Automarke bis zu Designerjeans und Love-Parade - sein Handeln ist wesentlich bestimmt durch das "Herstellen, Verwenden, Umbauen und Entsorgen von Modulen des Menschseins".

Das Beispiel Fernsehen: Hier ringen verschiedene Anbieter um ein begrenztes Aufmerksamkeitspotential, über ihre Existenz oder Nichtexistenz entscheidet der Marktanteil. Dazu bedient sich das Medium einer Professionalisierung seiner Ausdrucksmittel. Die Bilder wurden bunter und freizügiger, die Musik eingängiger, die Sprache einfacher und die Intervalle zwischen den Bildfolgen kürzer. Der Unterschied zwischen der modernen Flimmerkiste und der friedlichen Vorgeschichte des öffentlich-rechtlichen Fernsehens dürfte so beträchtlich sein wie der zwischen Kubricks Weltraumepos "2001 - Odyssee im Weltraum" und einem MTV-Spot. Doch diese "Steigerungsphase" stößt beim Zuschauer irgendwann an ihre physiologischen Grenzen. Was danach kommt? Schulze weiß die Antwort: nichts. Die undialektischen Medien werden zu langweiligen Medien, die Eventkultur zu einer langweiligen Kultur.

Was aber, wenn das Fernsehen seinen Kampf um Marktanteile von der nicht mehr steigerbaren Steigerung auf die Präsentation der dargestellten Inhalte verschöbe? In diesem Prozess würden die vorfabrizierten Schemata zerbrechen zugunsten einer Subjektivität, die sich über Bedeutung und Ziel ihrer Existenz Rechenschaft ablegt. Eine Medienkultur könnte entstehen, die ihren blinden Fleck (die Marktbeobachtung) verlieren würde und dem "Anderen" Einzug gewährte. Ganz richtig, das lässt sich nur im Irrealis formulieren. Schulze wird zugestehen müssen, dass die Anhaltspunkte für den angekündigten Transformationsprozess mehr als dürftig sind. Der Umschlag von Quantität in Qualität wird auch diesmal ausbleiben.

Schulzes Streifzüge sind anregend und aufschlussreich, im Blick auf die soziale Konstruktion von Wirklichkeit allerdings zutiefst problematisch. Mit dem Obsoletwerden der traditionellen Verklammerung des Subjektiven, Intersubjektiven und Objektiven ("Drei-Sphären-Paradigma") wird für die Studie nämlich auch das Instrumentarium der mit den Kategorien "Aufklärung" und "Verblendung" operierenden Kulturkritik unbrauchbar - gemeint ist die Kritische Theorie der Gesellschaft. Anders als seine Vordenker will Schulze nicht belehren oder verändern. Den Mahnern im Feuilleton hört heute schließlich niemand mehr zu.

Das klingt nicht von ungefähr wie ein Verzicht auf jede Kritikoption. Schulze selbst versteht diesen Schritt als Übergang zur Kulturmorphologie, die nur beschreibt, "was tatsächlich der Fall ist". Solche Lippenbekenntnisse haben bekanntlich schon einmal die Gemüter erhitzt, und zwar im "Positivismusstreit der deutschen Soziologie" (1969), vor dessen Hintergrund auch die Theorie der Eventkultur auszumessen wäre. Überdies bleibt der Autor die Antwort schuldig, welcher Motor seine soziologische Dialektik - begriffen als Konstruktion und Destruktion von Erlebnisformen, als Hinkehr und Abwendung - denn antreiben könnte. Wo (fast) nichts ist, da kann ohne den Durchlauferhitzer von Kritik und Utopie auch nichts entstehen. Mit der Zurückweisung gesellschaftlicher Gestaltungsansprüche degradiert Schulze die Überwindung des Status quo zur Glückssache.

Ist nicht auch unser Inneres den Gesetzen der Erlebnisrationalität unterworfen und wurde uns das, was wir erleben, nicht schon tausendfach auf Leinwänden und Fernsehbildschirmen vorgegaukelt? Nicht in Schulzes Augen. Mit einem unzeitgemäßen Rousseauismus propagiert er den Rückzug ins Private, genauer: ins Bett, dessen Metaphorik er das Schlusskapitel widmet. Die Glückskulissen, so erfährt der verblüffte Leser, sitzen locker auf den Subjekten wie ein zu weit geratener Morgenrock. Mit diesem streift der Bettlägrige auch seinen Weltbezug ab und schaltet um auf "reine Subjektivität". Wer's glaubt, mag darüber selig einschlummern, jeder andere wird kein Auge zu tun und sich auf die Suche nach einem dritten Weg begeben: jenseits der Kulturmorphologie.

Titelbild

Gerhard Schulze: Kulissen des Glücks - Ein Streifzug durch die Eventkultur.
Campus Verlag, Frankfurt 1999.
112 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3593363054

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