Klingwerke

Thomas Klings "Gesammelte Gedichte" präsentieren das Werk des großen deutschsprachigen Lyrikers

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Durs Grünbein und Thomas Kling haben sich am Ende des 20. Jahrhunderts ebenso durchgesetzt wie Hugo von Hofmannsthal, Stefan George oder Rainer Maria Rilke zu Beginn des Jahrhunderts. Sie sind die paradigmatischen Autoren einer deutschsprachigen Lyrik zu Beginn und zum Ende eines Zeitraums, der - leider nicht nur im literarischen Raum - für viele Ungeheuerlichkeiten und Überraschungen gesorgt hat. So viele Unterschiede sich im Sprachstand, in der Sprachgestaltung, in der Nutzung des so kleinen Raums, über den diese Autoren regieren, auch existieren mögen, sie verbindet dabei vor allem ihr zugleich kritisches, reaktives wie gestaltendes Verhältnis zur Realität und ihr von Skepsis wie Spiel gleichermaßen bestimmtes Verhältnis zu dem Medium, das ihnen zur Verfügung stand und steht: zur Sprache.

Thomas Kling aber ist tot. Der am 5. Juni 1957 geborene Autor starb am 1. April 2005, und mit ihm starb der wohl neben Durs Grünbein wichtigste Lyriker der Gegenwart. Während aber Grünbein repräsentativen Status hat, sein Werk intensiv öffentlich diskutiert wird, er zudem selbst mit großem Gestus in die öffentlichen Diskussionen eingreift, war Kling deutlich zurückhaltender, war seine öffentliche Position deutlich weniger exponiert. Ihn als Exempel einer neuen Kölner Schule zu verstehen, die von Christian Döring befördert und von Kollegen wie Marcel Beyer ergänzt wird, mag vielleicht zu sehr als Griff in die literaturhistorische Klamottenkiste dastehen.

Wenn dem so ist, sei es dennoch erlaubt, denn der Vergleich liegt nahe: Das Gespann des Lektors Dieter Wellershoff und des Autors Rolf Dieter Brinkmann war für die deutschsprachige Literatur eine glückliche Chance, die sie dann auch ergriffen hat. Ohne den Spracherneuerer Brinkmann und ohne dessen Förderer Wellershoff sähe die Literatur nach 1970 anders aus. Ähnliches ist vom Gespann Christian Döring und Thomas Kling zu sagen. Vielleicht auch mit ähnlichen Auswirkungen. Selten zumindest ist in den letzten Jahrzehnten mit derart großer Intensität Sprache moduliert worden wie in Klings Werk.

Nach der großen Zeit der hermetischen Dichtung eines Paul Celans und den hyperrealistischen Tiraden eines Rolf Dieter Brinkmann hat sich die Gegenwartslyrik allzu sehr auf ein mittleres Niveau routinierter Wortmonteure und -jongleure begeben. Das mag wie im Fall des Poetry Slams sogar begeisternd, teilweise sogar von hoher sinnlicher und sprachlicher Qualität sein. Aber der Referenzraum, in den Klings Lyrik (nebst Kombattanten wie Grünbein) hineinwirkte, wurde allzu lange von traurigen Performern wie Reiner Kunze ausgefüllt, denen Routine die Qualität, der weihevolle Vortrag die Essenz ersetzen musste.

In diesen Raum platzte der Glücksfall Thomas Kling mit seinen - nach einem Auftakt bei der Düsseldorfer Eremiten-Presse - zuerst bei Suhrkamp, schließlich bei DuMont erschienenen Bänden. Glücksfall insofern, weil er eine alte und zugleich doch neue Radikalität in der Sprachbehandlung und -variation einführte, die stilbildend und vor allem höchst eindruckvoll und nachhaltig geblieben ist. Bereits mit dem 1989 erschienen Band "geschmacksverstärker" zeigte er sich von einer Radikalität, die in der Textgestaltung an Stefan George erinnern mag (wenngleich ihm der George'sche Weltvermeidungs- und -verbesserungsdrang fehlte): Kling hielt sich nie lange mit korrekter Rechtschreibung auf, die Kleinschreibung war sein Standard (Versalien sind seine Ausrufezeichen), nicht nur die Kombination von Wörtern, nicht nur Neologismen, auch Satzzeichen und Wörter selbst waren seine Modulationsmaterialien. Und auch wenn die Verstöße gegen Konventionen und Regeln zum guten Ton der avantgardistischen Lyrik gehören, geraten sie Kling in seiner ganzen Karriere nicht zum Selbstzweck, sondern zum Gegenstand seiner Gestaltung. Sie sind, wenn man ihn beim Wort nehmen will (aber wer wagte das angesichts dieser Lyrik?) "schrifterosionen, damit kein / mißverständnis entsteht" ("schaber"). Im Regelverstoß selbst liegt gar die Neueinführung von Regelmäßigkeiten und Rhythmen verborgen. Selbstverständlich ist das Spiel seiner Sprache eben auch ein Spiel zwischen den Sprachzeichen, ihren Bedeutungen und ihren Referenzen. Ein "kraftraum" ist eben auch ein Zeichen, ein Klang, eine Sammelstelle von Bedeutungen und ein bildlicher Vorstellungsraum, der relativ frei variieren darf. Aber auch hier sind Grenzen gesetzt, die den Assoziationen und Bedeutungszuschreibungen einigermaßen Halt geben können.

Marcel Beyer und Christian Döring haben nach dem Tod Thomas Klings das gedruckte Werk gesammelt vorgelegt und damit den publizierten Nachlass, der teilweise nur in kleinen Auflagen verbreitet worden war, gesichert. Was aussteht - von den Herausgebern auch offen eingestanden - ist die Sichtung und Einbeziehung des Nachlasses. Von ihm lassen sich vielleicht neue Werke erwarten, lassen sich Erkenntnisse über Klings Arbeitsverfahren, auch über die Entstehung von Gedichten erwarten. Was ebenfalls fehlt, sind die CDs der letzten Werke, leider. Ob der nun vorgelegte Band dem "größten deutschen Lyriker der letzten beiden Dekaden", wie ihn sein Lektor Christian Döring genannt hat, die dauernde Beachtung sichern wird, die er zweifelsohne verdient hat, wird man sehen. Dass sich Lektorat und Verlag so kurz nach dem Tod und gegen jede wirtschaftliche Vernunft dazu entschieden haben, ihren größten Lyriker auf diese Weise die Referenz zu erweisen, gereicht ihnen jedenfalls zur Ehre. Hut ab.


Titelbild

Thomas Kling: Gesammelte Gedichte 1981-2005.
Herausgegeben von Marcel Beyer und Christian Döring.
DuMont Buchverlag, Köln 2007.
975 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783832179779

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