In fremden Landen
GermanistInnen der iberischen Halbinsel gehen dem Beziehungsgeflecht zwischen Geschlecht und Macht in Werken der deutschsprachigen Literatur nach
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMacht sei "im strengen Sinne das, wovon unsere Existenz abhängt", erklärt Judith Butler in einer vor einigen Jahren erschienen Studie. Da zum einen Judith Butler eine der renommiertesten Gender-TheoretikerInnen ist und zum anderen die Literatur nicht zuletzt von Existentialen des menschlichen Daseins handelt, kann es nicht überraschen, dass zum Themenspektrum, mit dem sich Literaturwissenschaft und Germanistik befassen, auch das vielfältige Geflecht zwischen Gender und Macht zählt. Zwei literaturwissenschaftliche Bände dieser Thematik sind in jüngster Zeit erschienen. Außer dem doppelten Untersuchungsgegenstand verbindet sie noch eine weitere Gemeinsamkeit: Die HerausgeberInnen und AutorInnen kommen (bis auf eine Ausnahme) aus Ländern, die nicht der deutschen Sprachgemeinde angehören. Mehr noch, sie leben auf der Iberischen Halbinsel, in Spanien und Portugal.
Zunächst einmal ist da der von Bascoy Montserrat, Rosa Marta Gómez, Jaime Feijóo und Dolores Sabaté herausgegebene Sammelband "Gender und Macht in der deutschsprachigen Literatur", der aus einer Reihe von Arbeitstagungen zu "Schriftstellerinnen deutscher Sprache 1945-1960" an der Universität Santiago de Compostela hervorgegangen ist. So konzentriert sich auch die Mehrzahl der Beiträge auf die anderthalb Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg. Marisa Siguan etwa schreibt über "Ruth Klügers Beschwörungsformeln" und Isabel Hernández über "Machtausübung in Gertrud Leuteneggers Roman 'Gouverneur'". Maria António Hörster wendet sich mit Heinrich Bölls Novelle "Haus ohne Hüter" hingegen dem Werk eines männlichen Autors zu und beleuchtet die Frauenrepräsentationen in dessen portugiesischer Übersetzung.
Ungeachtet des Untersuchungszeitraumes der Tagungen werden in den Beiträgen jedoch auch einige Schlaglichter auf AutorInnen frühere Epochen oder der Zeit nach 1960 geworfen. So wendet sich etwa Maria Teresa Delgade Mingocho der um und nach 1900 literarisch besonders produktiven Autorin Frieda von Bülow als Beispiel für Frauen, die über Frauen schreiben, zu. Gudrun Loster-Schneider geht anhand von Ingeborg Drewitz' Werken der Literarisierung von "Gender und Macht im NS-kritischen Zeitroman der 70er-Jahre" nach. Hierbei konzentriert sie sich insbesondere auf den Roman "Gestern war Heute", den sie als "Ausstellungsort zeitgenössischer - fremder wie eigener - Gendertheoreme" liest. Dass Loster-Schneider "ältere feministische Lektüren" kritisiert, ist wenig erstaunlich. Bemerkenswert ist allerdings ihr Hinweis auf die "biologistische Geschlechertheorie", die Drewitz' "spezifische[m] Konzept weiblicher Identität" inhäriert. Eine These, die dazu beiträgt, dass Loster-Schneider einer der lesenswertesten Beiträge des Bandes gelungen ist.
Juan-Fadrique Férnandez Martinez' unter dem Titel "Feministische Utopie - Gegenutopie am Ende der 70er Jahre" veröffentlichter Beitrag widmet sich zwar dem selben Jahrzehnt, doch lässt sich über seinen Aufsatz weit weniger Positives sagen. Schon dass er zu Beginn Esther Vilars antifeministisches Pamphlet "Der dressierte Mann" (1971) als Werk einer "scharfsinnige[n] Provokateurin" preist, stimmt hinsichtlich der Urteilskraft des Autors einigermaßen skeptisch. Ins Auge fällt zudem, dass in seinem Utopiebegriff selbst noch "das Schlaraffenland", "das biblische Paradies" und gar "das Jenseits" Platz finden, und der Terminus somit bis zur Unbrauchbarkeit aufgebläht wird. Warum der Autor diesen überdehnten Utopiebegriff entwirft, erschließt sich allerdings nicht, da dies ganz ohne Not geschieht. Denn seine Arbeit besteht im Wesentlichen aus einen Vergleich zwischen Ulla Hagenaus Roman "Schöne verkehrte Welt oder die Zeitmaschine meiner Urgroßmutter" (1980) und der deutschen Übersetzung des Romans "Die Töchter Egalias" (deutsche Übersetzung 1980, Original 1977) der norwegischen Autorin Gerd Brantenberg. Beide Romane beschreiben eine Gesellschaft, in der sich Männer- und Frauenrollen umgekehrt haben.
Zwar bieten die meisten Beiträge des vorliegenden Buches kaum mehr als inhaltliche Abrisse der untersuchten Werke und nur selten innovative Interpretationen oder Deutungen. Dennoch gewährt das Buch einige Einblicke in aktuelle Forschungen der genderorientierten Germanistik Portugals.
Der zweite hier zu besprechende Band richtet seine Aufmerksamkeit ganz auf Gender- und Machttransgressionen in den Romanen nur einer Autorin: Irmgard Keun. Es handelt sich um die deutsche Fassung einer 2003 von Carme Bescansa Leirós als Dissertation an der Universität von Santiago de Compostela eingereichten Arbeit. Ziel des Buches ist es, zwei Forschungslücken zu Keuns Werk zu schließen. Zum einen untersucht die Autorin Gender als "Element", das die "Handlungsebenen und die Entwicklungsmöglichkeiten" der Figuren bestimmt und zum zweiten geht sie seiner "Bedeutung für die Strukturierung der sozialen Realität in den Romanen" nach. Hierzu fasst die Autorin nicht nur die zentralen Figuren wie etwa die Titelheldin des Romans "Gilgi - eine von uns" oder das "kunstseidene Mädchen" Doris näher ins Auge, sondern auch und gerade "die Einstellung und die Lebensschwierigkeiten der sekundären Figuren". Außerdem analysiert sie die Kategorie Gender "in Verbindung mit weiteren Aussagesystemen wie dem ökonomischen, sozialen oder ideologischen". So möchte Leirós aufzeigen, "dass durch die Transgression der vermeintlichen Einheitlichkeit der Gendernorm die Romanfiguren nicht nur das auf dieser Norm basierende Sozialsystem ins Wanken bringen oder in Frage stellen", sondern zudem auf ein "Potential" hinweisen, "das allgemein die Machtverflechtungen im androkratischen Kanon subvertiert bzw. illegitimiert". Ziel der Arbeit ist es, deutlich werden zu lassen, "wie die Verbindung von Realismus und Utopie in den Romanen Keuns die Kritik an der behandelten historischen Situation ermöglicht und zugleich eine Alternative zu diesem Sozialsystem bietet".
In einem der eigentlichen Untersuchung vorangestellten Kapitel legt die Autorin ausführlich die theoretische und methodologischen Grundlagen ihrer Arbeit dar. Hierzu unterzieht sie zunächst die Entwicklung der deutschen feministischen und gendertheoretisch orientierten Literaturwissenschaft seit den 1970er-Jahren einer Kritik, die kaum heftiger ausfallen könnte. Zweifellos muss man ihr in vielem zustimmen, insbesondere, was die ältere feministische Literatur- und mehr noch die Sozialwissenschaft und deren Reaktionen auf Judith Butlers Kritik an der Sex-/Gender-Unterscheidung betrifft. Doch gelegentlich schießt die Autorin auch über das Ziel hinaus. Die Auffassung, das "Patriarchatskritik" nicht mit Argumenten begründen werden könne, "die aus der Analyse literarischer Texte stammen", wird man schwerlich teilen. Abwegig ist, dass "[d]ie seit den achtziger Jahren verschleppte theoretische Verwirrung" der feministischen Literaturwissenschaft in Deutschland in den 1990er-Jahren "durch die oberflächliche und verzerrte Übernahme einiger Aspekte der Gender Studies nur verschlimmert wurde". Ein Befund, der nur dadurch zustande kommen kann, dass Leirós deutschsprachige Arbeiten, die Butlers Erkenntnisse fruchtbar anwenden, nicht oder doch kaum zur Kenntnis nimmt.
Insgesamt neigt Leirós dazu, ihren eigenen Ansatz als den einzig wissenschaftlichen gelten zu lassen und drückt anderen feministischen oder den Gender Studies verpflichteten Ansätzen nur allzu gerne das Kainsmal der Unwissenschaftlichkeit auf die Stirn. Von ihrem Rundumschlag nimmt sie gerade mal die aus dem Graduiertenkolleg "Geschlechterdifferenz und Literatur" der Ludwig-Maximilians-Universität in München hervorgegangenen Arbeiten aus. Tatsächlich zählen etliche der seinerzeitigen KollegiatInnen des bereits vor einigen Jahren aufgelösten Kollegs zu den avanciertesten und innovativsten Gender-ForscherInnen und -TheoretikerInnen, welche diese Disziplin im deutschsprachigen Raum zu bieten hat.
Gender Studies, wie Leirós sie versteht, verknüpfen die "diskursive Kategorie" Gender mit anderen Kategorien wie race und class, wodurch sie eine "den Genderdiskurs deabsolutierende Perspektive" einnimmt, die den "Genderparameter" relativiert. Dabei "illegitimiert" die von Leirós "vertretene diskursanalytische Perspektive" zweifellos tatsächlich "die Kritik des traditionelleren Feminismus an der vermeintlich unengagierten Haltung der Gender Studies bezüglich der feministischen Ziele". Gar so neu, wie die Autorin zu meinen scheint, ist dieser Ansatz aber auch für die deutschsprachige gender-orientierte Literaturwissenschaft nicht.
Was nun den Forschungsertrag ihrer eigenen Arbeit betrifft, so hat sie zweifellos einige weiterführende Erkenntnisse zum Thema ihrer Arbeit zu bieten, die in dem allerdings wenig bahnbrechenden allgemeineren Befund münden, "dass Keuns Werk das Verständnis der Literatur als Raum zur (Gender-)Subversion bestätigt", da sowohl die Charakterisierung der Figuren als auch Keuns erzählerische und stilistische Mittel "die herrschende Ordnung untergraben" und "hegemonische Botschaften" "entlarv[en]".
Ein Manko des von der Autorin selbst übersetzten Buches besteht in seiner gewöhnungsbedürftigen Sprache mit ihren oft ausgefallenen Wort- und Begriffsbildungen, von denen einige schlicht unverständlich sind ("Verhaltenspatrone"), und den gelegentlich etwas eigentümlichen Satzbildungen. Beide erschweren den Zugang zu der vorliegenden Untersuchung.