Homo Sapiens 2.0

Marcus Hammerschmitt entführt seine jugendlichen LeserInnen ins Jahr 2030

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zeit des Cyberpunks scheint sich fast schon ihrem Ende entgegenzuneigen, da legt Marcus Hammerschmitt unter dem Titel "Das Herkulesprojekt" einen Jugendroman eben dieses Genres vor. Entsprechend sprüht er nur so vor Zukunftsjargon und -begriffen. Dass letztere zunächst nicht erklärt werden, vermag den Lesespaß durchaus zu erhöhen, etwa wenn man errät, erschließt und erkennt, was jeweils gemeint und wovon die Rede sein könnte. Nach wenigen Seiten lässt der Autor jedoch schon erste Begrifferklärungen einfließen. Wohl weil er fürchtet, den Lesenden könnte die Lektüre andernfalls doch zu anstrengend werden und sie das Buch beiseite legen.

Ungeachtet der zahlreichen Neologismen hat der Autor allerdings eine wohl auch für das anvisierte 13-jährige Lesepublikum etwas unterkomplexe Welt gestrickt, die etwa weder unter nennenswerter Rohstoff- und Energieknappheit noch dem voranschreitenden Klimawandel zu leiden scheint. Technische, gesellschaftliche und ökologische Entwicklungen, die nicht unmittelbar mit dem Plot zu tun haben, kommen bei Hammerschmitt nicht vor. Das vereinfacht die Sache zwar, doch immerhin verschlingen Angehörige dieser Altersgruppe ohne weiteres "Tintenwelt"- und Harry Potter-Bände. Mit deren vielschichtigen Kosmen kann die kleine Welt der drei ohne sonderlichen psychologischen oder charakterlichen Tiefgang gezeichneten HeldInnen des vorliegenden Buches nicht konkurrieren.

Schauplatz des Romans ist die bundesdeutsche Hauptstadt anno 2030. Ein Jahr, das die Zielgruppe des Buches sicherlich noch erleben dürfte. Und vielleicht hat es der Autor mit Bedacht gewählt. Geschichten aus einer Zukunft, die man vermutlich selbst noch miterleben darf, sind für Jugendliche wohl interessanter als solche, die in unabsehbarer Ferne handeln. Ob sie sich allerdings in gut zwanzig Jahren in einer Welt wiederfinden werden, die mit der von Hammerschmitt erdachten viel gemein hat, ist fraglich. Zwar wandelt sich die Gesellschaft stetig und der Fortschritt zumal im Bereich der Kommunikationstechnologien scheint sich immer rasanter zu entwickeln. Ob im Jahre 2030 die Menschen hierzulande allerdings tatsächlich mit Körpernetzen ausgestattet sind, die es ermöglichen, sämtliche Zellen ihrer Leiber als Datenspeicher zu nutzen, sich mit einander zu vernetzen und unmittelbar in die Zukunftsversion des World Wide Web einzutreten, ist noch zweifelhafter als die politische Entwicklung Deutschlands, das bei Hammerschmitt zwar noch über einen gewählten Bundestag verfügt, jedoch zu einem totalitär anmutenden Polizeistaat mutiert ist. Besonders streng wird das WWW kontrolliert, das nicht nur der Kommunikation dient, sondern auch einen beträchtlichen Wirtschaftsfaktor darstellt, ist doch das Herunterladen von Informations- und anderen -dateien überaus kostspielig.

Zu teuer jedenfalls ist es für Menno, Flex und Paula, die drei HeldInnen des Buches. Die beiden Jungen und das Mädchen teilen mit der Zielgruppe des Romans nicht nur das Alter, sondern vermutlich auch die Vorliebe für die neuesten Hits in den Charts. Doch angesichts der "offenen und verdeckten P-LAN-Überwachung an allen denkbaren und undenkbaren Plätzen" ist der "ungeschützte Tausch heißer Daten" ein ziemlich sicheres "Ticket" zur Löschung des Körpernetzes, was nicht nur zur Folge hat, dass man keinen Zutritt mehr zum WWW hat, sondern dass man auch alle Informationen verliert, außer den wenigen, die das Gehirn ohne die technische Aufpeppung speichern konnte. Noch schlimmer ist allerdings, dass man mit der Löschung seine Persönlichkeit verliert, wie die ProtagonistInnen vermuten. Jedenfalls vegetieren die Gelöschten in der sprichwörtlichen Gosse vor sich hin. All dies sind jedenfalls Gründe genug, warum sich das jugendliche Kleeblatt zu einer Gruppe von "Datenpiraten" zusammengeschlossen hat, von denen es nicht nur in Berlin geradezu zu wimmeln scheint.

Da sich das Trio immer wieder Musik und ähnliches kostenlos aus dem Netz herunterlädt, ist es natürlich ständig auf der Hut vor der Polizei. Die eigentliche Gefahr aber lauert ganz woanders. Nazis des Jahres 2030 wollen den arischen Übermenschen schaffen, den "Homo Sapiens 2.0". Dafür benötigen sie einige menschliche Versuchskaninchen und finden sie in den drei DatenpiratInnen.

Während der eine der beiden männlichen Helden, Flex, als besonders befähigter Hacker dargestellt wird, und der andere, Menno, ein ganzer Kerl ist, der Probleme, für die er verantwortlich ist, gerne "persönlich und aus eigener Kraft" aus der Welt schafft, wird Paula als "Kind" vorgestellt, dass zu ihrem "gehassten Gott" Menno aufblickt. Sie ist es denn auch, die gleich zu Beginn in eine Falle tappt, weil sie die großen Jungs beeindrucken und auch "einmal erwachsen sein" will. Statt dessen ist sie schon nach wenigen Seiten "am Ende" und "in Panik". Was aber noch schlimmer ist: Sie bringt nicht nur sich, sondern auch ihre beiden Freunde in Gefahr. Überhaupt erweist sie sich ein ums andere Mal als "die Schwächste in der Gruppe", wie Baumann, dem Gegenspieler der drei, nicht entgehen kann, weshalb er denn auch immer wieder bei ihr ansetzt, um die ganze Bande zu knacken. Kurz: Paula, im übrigen nicht nur die einzige Identifikationsfigur, welcher der Autor keinen Spitznamen gönnte, sondern überhaupt die einzige weibliche Figur des Buches, ist jungen Mädchen nicht eben als rolemodel zu empfehlen.

Dass sich das Buch ganz offensichtlich nicht an Leserinnen, sondern an Leser wendet, macht die Sache nicht eben besser. Wird der pubertierenden männlichen Leserschaft doch ein rückwärtsgewandtes Geschlechterverhältnis präsentiert, in dem ihre Geschlechtsgenossen eindeutig den überlegenen Part einnehmen, während das 'andere' Geschlecht in der Gestalt Paulas mal wieder zum schwachen degradiert wird.


Titelbild

Marcus Hammerschmitt: Das Herkules Projekt.
Patmos Verlag, Düsseldorf 2006.
160 Seiten, 10,90 EUR.
ISBN-10: 3794170431

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch