Die Leipziger Doppelspitze der Aufklärung

Ein Tagungsband aus Wolfenbüttel erhellt die Einbettungen der Eheleute Gottsched

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Johann Christoph Gottsched hat seinen festen Platz in den Literaturgeschichten als Leipziger Leuchtturm der Frühaufklärung mit zahlreichen Zeitschriftenprojekten, als Reformator der deutschen Sprache und Literatur sowie als klassizistisch orientierter Propagator einer Deutschen Schaubühne durch Vermittlung internationaler Vorbilder. Für Luise Gottsched haben die Literaturgeschichten meist eine kleine Nische reserviert; unter dem Stichwort 'Sächsische Typenkomödie' werden ihre Originallustspiele gewürdigt und ihre umfängliche Übersetzungsarbeit aus dem Französischen und Englischen wird erwähnt. Lessings harsche Aburteilung ihrer Komödien in seiner 'Hamburgischen Dramaturgie' haben ihre Texte recht nachhaltig aus dem literarischen Kanon und von den Bühnen vertrieben. Zwar gibt es viele biografische oder werkanalytische Essays und wenige Monografien zu Frau Gottsched im Reservat der (Literatur-) Geschichte der Frauen, doch gründliche, auch archivgestützte Studien zur Zusammenarbeit der aufklärerischen Eheleute und zu ihrem Danziger, Königsberger, Leipziger oder gar europäischen Hintergrund und Netzwerk fehlten bisher.

Diese Lücke zu füllen nahm sich eine Wolfenbütteler Tagung vor, deren Ergebnisse jetzt publiziert vorliegen. Die Ausgangshypothese der Tagung vermutet ein spannungsreiches Miteinander der Eheleute, die in unterschiedlichen emotionalen und intellektuellen Lebenswelten verankert waren und gleichwohl gemeinsame Projekte verfolgten und weltanschauliche Haltungen teilten.

Katherine R. Goodman erkundet die religiöse und intellektuelle Szene Danzigs, wo Luise zu Beginn des 18. Jahrhunderts als Tochter des Mediziners Kulmus aufwuchs. Ihr Vater war der Sohn eines zu Reichtum gelangten Bäckermeisters. Er besuchte das gleiche Gymnasium wie der bedeutende rationalistische Philosoph Christian Wolff und studierte bei teils animistisch und teils materialistisch orientierten Medizinprofessoren. Seine eigene Dissertation über die Träume und den Schlaf war unbedingt fortschrittlich, indem sie die medizinische Scholastik zurückwies und sich ganz der empirischen Beobachtung der Phänomene widmete. Dies brachte ihm einigen Widerstand am Studienort Breslau ein, hinderte ihn aber nicht, protegiert vom anti-pietistischen Theologen Samuel Schlewig, in Danzig Leibarzt der polnischen Krone zu werden.

Goodman skizziert einige der etablierten Freunde aus Wissenschaft, Politik und Militär, die mit ihren Eltern verkehrten und mit der jungen Frau, die die Zither und Tasteninstrumente spielte, im Trio musizierten. Neben der ärztlichen Tätigkeit des Vaters trug auch die Herkunft der Mutter aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie zu den guten Kontakten bei, die sich auch in den hochrangigen Taufpaten Luises manifestierten. Dieser Aufsatz zur Danziger Lebenswelt der Familie Kulmus kritisiert Wolfgang Martens Nachwort zur 1968 erschienen Reclam-Ausgabe von Luise Gottscheds Religionssatire 'Die Pietistery im Fischbeinrocke' (die neben dem Abdruck ihres dichtungssatirischen Einakters 'Der Witzling' in einer Sammlung von Einaktern der Aufklärung, ebenfalls bei Reclam erschienen, immerhin die einzigen neueren Publikumseditionen ihrer Texte darstellt; Abhilfe schafft die Digitale Bibliothek, die drei Stücke zugänglich macht; etwa hier).

Danzig sei, so Goodman gegen Martens, zu dieser Zeit eine weltoffene und auch weltanschaulich pluralistische Handelsstadt gewesen, in der keineswegs dumpf dogmatischer Pietismus herrschte und in der durchaus das Theaterspiel, animiert vom Schauspieler Martin Müller, betrieben wurde. Schon vor der Bekanntschaft mit Gottsched war Luise Kulmus als Tochter eines so gebildeten wie fortschrittlichen Hauses mit den Denkbewegungen der Aufklärung bestens vertraut, etwa durch die Lektüre von Bayles 'Dictionnaire historique et critique'. Wiewohl viele der Familienbekannten sich durch längere Englandaufenthalte auszeichneten, bleibt das genaue Ausmaß von Luises früher Englandrezeption noch zu erforschen. Ebenso die Frage, welche Faktoren, neben den Berichten des Wolffianischen Philosophen Christian Gabriel Fischer über seine schlechten Erfahrungen mit den Pietisten in Königsberg, die junge Dame zu ihrer Adaptation der französischen anti-jansenistischen Satire in ihrem ersten Theaterstück motivierte.

Detlef Döring, der die umfangreichen Briefwechsel der Gottscheds in einer auf 25 Bände angelegten Ausgabe der sächsischen Akademie der Wissenschaften ediert (der erste Band, 1722-1730, erschien 2007), beklagt, dass zu Luise Gottsched bisher keine ausführliche, biografische Monografie vorliege und zu ihrem Gemahl auch nur sehr veraltete. Der biografische Nachruf aus Gottscheds Feder von 1763 habe nur höchst zweifelhaften Wert als Quelle. Ebenso ist die 1772 von Dorothea Henriette Runckel edierte Briefauswahl Luises von zweifelhafter Authentizität, da die Herausgeberin sie eifrig frisierte, zum Zwecke, vorbildliche, "gute deutsche Briefe" zu präsentieren. Runckel wollte also einen didaktischen Briefsteller und kein authentisches Lebenszeugnis vorlegen (zu einer weitgehend unkritischen Neuausgabe dieser Briefauswahl siehe Literaturkritik.de Nr. 5, Mai 2000).

Döring erörtert nun den geselligen Kontext dieses Lebens und Schaffens, das kulturelle Leben Leipzigs in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Über die Kontakte Luises zu den Professorenkollegen ihres Mannes weiß man allerdings immer noch wenig Konkretes. Wiewohl Leipzig eine Handelsstadt fern von einem Hofe war, korrigiert Döring das Bild von der Kapitale bürgerlicher Aufklärung. Viele Adelige besaßen Häuser in Leipzig, die Gottscheds pflegten Umgang mit ihnen, nicht zuletzt um Unterstützung für ihre zahlreichen Projekte zu erhalten. Der Kurfürst hielt sich mit Teilen seines Hofes mehrere Wochen im Jahr in der Stadt auf, besonders während der Messen. Lange vor den Berliner Salons des späten 18. Jahrhunderts gab es in Leipzig ähnliche Orte der Geselligkeit; etwa der Salon Christiane Mariane von Zieglers, die Empfänge in den Häusern der Honoratoren oder die gelehrten oder musikalischen Gesellschaften. Obwohl ältere Quellen von einem Salon im Hause der Gottscheds sprechen, hält Döring dies für eine Verzeichnung. Wohl aber gab es neben den Mittagstischen für Studenten und den Ausleihbesuchern der Professorenbibliothek ein reiches gesellschaftliches Leben von 'Kränzchen' und Hausmusik beim Gelehrtenpaar.

Inka Kording untersucht mit einigem theoretischen Aufwand die rhetorische Konstruktion von Unmittelbarkeit in den Brautbriefen der Luise Kulmus. Individualität und ihr naheliegendes Medium des Briefes werden hier verdeutlicht als Prozessprodukte aus dem Zusammenspiel von unmittelbarem Selbstausdruck und sozialen Rollenerwartungen. Die Brüche und Ambivalenzen in Selbstentwurf und Individualität Luises, die Kording in Mikroanalysen der Briefe herauspräparieren möchte, sind aber vielleicht nicht nur dem allgemeinem Widerstreit zwischen persönlicher Autonomie und sozialer Rollenerwartung oder den medialen Paradoxien zwischen aufrichtigem Seelenausdruck und rhetorischen Sprachkonventionen geschuldet, sondern womöglich auch der wenig authentischen Quellenlage der durch Runckel bearbeiteten Briefe.

Barbara Becker-Cantorino analysiert die Geschlechterdiskurse in Luises Lustspielen. Einerseits orientiert sich die Leipziger Autorin an den französischen und englischen Komödien des 17. und 18. Jahrhunderts, andererseits auch an den strikten gattungstheoretischen Vorgaben der Poetik ihres Mannes (Befolgung der drei Einheiten, Wendepunkt in der Mitte, Umsetzung eines moralischen Satzes in der Handlung et cetera). Schon in ihrer frühen Komödie 'Die Pietistery im Fischbeinrocke', die eine Adaptation einer französischen Vorlage war, führt Luise mit der Frau Ehrlichin eine "resolute, selbständige Frauenfigur" ein. Solche aktiven, redegewandten Vorläuferinnen von Lessings Minna von Barnhelm kennzeichnen im folgenden alle ihre Komödien. Doch verschwand dieser Typ der handlungsmächtigen Frau (der, nebenbei bemerkt, in den Dienerinnen klassischer Komödien, besonders Molières, schon lange etabliert war, nur eben im niedrigen Stande) recht schnell in den Lustspielen der Empfindsamkeit mit ihren meist schweigsamen, passiven Frauenfiguren. Entgegen der Komödienkonvention steht in den meisten der späteren Original-Lustspiele der Gottschedin keine Hochzeit am Ende, vielmehr werden die gattungstypischen Heiratsprojekte mit der Frau als Tausch- und Handelsobjekt kritisiert.

Rätselhaft bleibt dem Rezensenten ein Aspekt des Fazits zu Luise Gottscheds 'Die Hausfranzösin': "Hier werden beide Nationen und beide Geschlechter verlacht, wie sich denn auch beide Franzosen als verkleidete Deutsche herausstellen und damit die Maskarade und das wahllose Nachäffen alles Französischen, nicht aber Frankreich selbst verspottet wird." Gewiß werden in diesem durchaus groben und durchaus deutschtümelnden Stück unkritische Frankreichnachäffer, männliche wie weibliche,verspottet. Doch nirgends im Komödientext, der in Gottscheds 'Deutscher Schaubühne' gedruckt wurde, findet sich der Hinweis, die beiden Franzosen Sotenville und La Fleche, die am Ende als Vater und Tochter decouvriert werden, seien verkleidete Deutsche (Eine Maskerade, die, wenn es sie denn gäbe, das irritierende, heftige antifranzösische Ressentiment und die zahllosen, auch vulgären antifranzösischen Stereotype abmildern könnte). Der Brief des deutschen Verwandten aus "Bourdeaux", der kürzlich in Geschäften in Paris war, enthüllt nämlich lediglich, dass Sotenville in Frankreich ein unsittliches Leben führte, aus dem Gefängnis ausbrach, sich fälschlich als Offizier ausgebe und dort steckbrieflich gesucht werde.

Anett Lütteken analysiert sehr detailliert die Kritik, die der Zürcher Bodmer an Luises Tragödie 'Panthea' übte. Dabei erfahren wir recht wenig über das Stück, das als Modelltragödie intendiert war, und seine Autorin - einiges hingegen über die Entwicklung der Schreibweisen deutscher Literaturkritik im 18. Jahrhundert nebst ihren englischen Kontexten, speziell den philologisch-satirischen Polemiken zwischen Lewis Theobald und Alexander Pope. Das mühsame Ringen um angemessene Formen der Literaturkritik kennzeichnet laut Lütteken nicht nur Bodmers Rezension, die auch als Nebenschauplatz im größeren Kampf der Zürcher Poetologen mit dem Leipziger Regelpoetiker verstanden werden muss. Das Changieren der Formen zwischen akademischer Pedanterie und rhetorisch publizistischer Brillanz präge auch Johann Gottscheds eigene Kritiken und letztlich noch Lessings kritische Arbeiten, die weithin als erste Höhepunkte der deutschen Literaturkritik betrachtet werden. Die allgemeine Verurteilung der Debattengegner erlitt Luise nicht nur als Opfer, etwa in Lessings berühmter Aburteilung ihrer Lustspiele; sie selber polemisierte in ähnlich pauschaler Weise in ihrer anonym publizierten Kritik an einer Telemach-Übersetzung Bodmers aus dem Jahre 1742.

Walter Hettche skizziert das Autorprofil des Fabeldichters Magnus Gottfried Lichtwer sowie Gottscheds überaus aktives Mitwirken an der Verbreitung von Lichtwers schmalem Werk. Dies umfasst neben seinen 'Vier Büchern äsopischer Fabeln' das 1758 publizierte wolffianische Lehrgedicht 'Das Recht der Vernunft'. Durch Gottscheds Mithilfe wird die Widmung des Gedichts an Friedrich II. von Preußen mit einem handschriftlichen, doch konventionellen Gefälligkeitsschreiben des Königs erwidert. Der frankophile Preuße ging freilich nie wirklich auf Gottscheds Bemühen ein, ihn "für die deutschen Musen einzunehmen". (Zum unlängst von Hettche edierten Briefwechsel Lichtwers mit Gottsched siehe Literaturkritik.de Nr. 3, März 2003).

Marie-Hélène Quéval untersucht die Anmerkungen, die Gottsched seiner deutschen Übersetzung von Pierre Bayles 'Historisch-critischem Wörterbuch' beigab. Laut Quéval war Gottsched, der seine Frau gerne rühmte, das Bayle'sche aufklärerische Dictionnaire dreimal vollständig gelesen zu haben, ein Bewunderer der "Offenheit, Schärfe und Radikalität des französischen Philosophen". Die distanzierenden Kommentare der Gottsched'schen Übersetzung angesichts Bayle'scher Dogmen- und Religionskritik deutet der Beitrag sehr weitgehend als bloße publizistische Strategien des Aufklärers: Durch Beistellung einer Kritik zu den ausführlich zitierten und collagierten (und somit verbreiteten) fortschrittlichen Religionskritiken begegne der virtuose Stratege der Zensur. Quévals Bild eines noch über Bayles Bibelkritik hinausgehenden religionskritischen Gottsched als radikalem Freigeist, dem es zuallererst um die Publikation und Auslegung gewagter Thesen ging, erscheint freilich selber (auch methodisch) allzu gewagt. Gegen das herkömmliche Bild von Gottsched als Pastorensohn, der christliche Ideale und Glauben zwar vor dem Dogmatismus retten aber doch bewahren will, entwirft Quéval einen Religionskritiker, dessen Distanzierungen mittels kritischer Kommentare nur taktische Volten (mithin nichts als "Rhetorik der Dissimulation") seien, um Bayle und andere Religionskritiker ausführlich zu Wort kommen zu lassen.

Gaby Pailer vergleicht die Darstellung des republikanischen Roms in Tragödien der Gottscheds. Die republikanische Idee wird bei beiden von Eltern vertreten; die Stadt Rom figuriert zudem stets als Mutter. In Luises 'Cornelia' wird die vernünftige Republik als Kulturnorm von der leiblichen Mutter propagiert, in Johanns 'Cato' hingegen von der Vaterfigur. Wie in seiner theoretischen Schrift zur Weltweisheit, bleibe freilich auch in beider Tragödien das Verhältnis von Monarchie und Republik unschlüssig und aporetisch: denn noch die Verteidiger der republikanischen Sache berufen sich in ihrer Politik und Moral kaum auf aufgeklärte Vernunft und Erziehung. Vielmehr basieren die familiarisierten Plots den Republikanismus auf Herkunft und Erbe, mithin auf dynastischen Prinzipien.

Helga Brandes analysiert die Übersetzungs - und Vermittlungsarbeit der Gottscheds aus dem Französischen. Das auf der Wolffenbütteler Konferenz durch einen Vortrag von Albrecht Meyer präsente wichtige Gegenstück, nämlich die England-Importe der Leipziger, fehlt leider in diesem Aufsatzband. Brandes fokussiert einerseits Johanns Kommentare zu Fontenelles Rolle in der Debatte über den Vorrang der Antike oder der Moderne. Der Leipziger Professor bleibt hierbei letztlich unentschieden, denn seinem aufklärerischen Fortschrittsoptimismus widerstrebt seine klassizistische Bewunderung der Alten. Aus Luises sehr breiter Frankreich-Rezeption wählt Brandes deren Adaptation französischer Komödien und erklärt, dass es den Frühaufklärern nicht um bloße Nachahmung ging, sondern um das Projekt einer eigenen deutschen Nationalliteratur - was an Luises Frankomanie-Satire 'Die Hausfranzösin' am deutlichsten wird. Neben dem fehlenden Beitrag zur England-Rezeption ist am Profil dieses Sammelbandes auch zu monieren, daß die internationale Rezeption nur in einer Fußnote von Brandes' Aufsatz angerissen wird. Offenbar ist der Dialog der deutschen Aufklärer mit dem Ausland recht einseitig geführt worden; und offenbar ist die Forschung zur ausländischen Wahrnehmung der deutschen Aufklärung kaum über die Arbeiten von Werner Krauss aus den 1960er- Jahren hinausgelangt.

Gabriele Ball verdanken wir eine große monografische Studie zu Gottsched als Zeitschriftenherausgeber. Diese popularisierende Aufklärungspublizistik stellt eine kaum zu überschätzende Leistung beider Gottscheds dar, zu der und besonders zu deren nationalen und internationalem Kontext man einen Beitrag in dem neuen Sammelband vermisst. Hier rekonstruiert Ball aus den postumen Auktionskatalogen die beiden, offenbar getrennten, Bibliotheken der Leipziger Eheleute. Er besaß etwa 7.500 Bände, sie etwa 1.000. Diese für die damalige Zeit außergewöhnlich umfangreichen Büchersammlungen werden von Ball in ihren unterschiedlichen Schwerpunkten, insbesondere im philosophischen Schrifttum analysiert. Der Mann besaß vorwiegend die großen Foliobände lateinischer und deutscher Schriften; die Frau verfügt über die populären Oktavbände mit Schwerpunkten auf englischen und französischen Ausgaben. Ball entdeckt neben vielen anderen Erkenntnissen in den Auktionskatalogen als Los ein umfangreiches Manuskript einer 'Geschichte der lyrischen Poesie der Deutschen' aus der Hand Luises. Von dieser Lyrikgeschichte glaubte man bisher stets, Johanns posthumer Lebensskizze folgend, Luise habe das Manuskript verbrannt, frustriert durch die Ablehnung mehrere Verleger. Viele Fragen, etwa die nach der Finanzierung der umfangreichen Bücherankäufe, den Anschaffungs-Absprachen und der wechselseitigen Nutzung der gelehrten Eheleute bleiben in Balls informativem Beitrag freilich ungestellt (und sind aus den postumen Auktionskatalogen natürlich auch kaum zu beantworten).

Katherine Goodman widmet sich dem trendigen Thema der Emotionsdarstellungen in Texten der beiden rationalistischen Aufklärer. Gottsched plädierte zwar in seiner Zeitschrift 'Die Vernünfftigen Tadlerinnen' gegen die übertriebene, barocke Rhetorik der Leidenschaft, er selbst hält sich freilich in seinen Briefen an die Braut keineswegs daran. Sie war konsequenter und folgt in ihrem Schreiben einer Anti-Rhetorik der Natürlichkeit statt der hyperbolischen Bildwelt galanter Sprache. Unklar bleibe, ob Luise neben Addison, den sie umfangreich übersetzte, auch Shaftesburys fortschrittlich sensualistische Theorie rezipiert habe. Jedenfalls erscheine ihr Sprechen von Emotionen eher prosaisch und auf Selbstbeobachtung beruhend, als in der Tradition galanter Rhetorik. Sie profitiere dabei vermutlich davon, dass sie im Gegensatz zu ihrem Mann nicht den klassischen Bildungsweg mit seiner Schulung an rhetorischen Mustern durchlaufen habe, und daher freier war für moderne Versuche einer Sprache der Gefühle. Während die Eheleute sich in den Sprachbildern ihrer Gedichte unterscheiden, ähneln sich die rhetorischen Strategien in ihren Tragödien: abstrakte Substantive dominieren, nur wenige emotional aufgeladene Verben oder Adjektive markieren die Tragödiensprache, die bewusst anti-barock und "unverblümt" sein will.

Der Band bildet ein Kompendium zu einigen Texten und vor allem zu wichtigen Kontexten der Leipziger Doppelspitze der deutschen Frühaufklärung; ein willkommener Überblicksband, der angesichts der Breite der Gottsched'schen Projekte zwangsläufig kaum vollständig sein kann. Man darf gespannt sein, welche neuen Erkenntnisse zum Aufklärungsnetzwerk die weiteren Bände der großen historisch-kritischen Ausgabe des Briefwechsel Johann Christoph Gottscheds bringen werden ("In die Edition einbezogen wird auch der Briefwechsel von Gottscheds Frau Luise Adelgunde Victorie" heißt es wenig gleichberechtigt, aber vielleicht der Quellenlage geschuldet, in der Selbstdarstellung der Edition). Nicht nur als unvergleichlich produktives - leider wohl matrimonial unglückliches - großes Paar sind die Gottscheds von besonderer Faszinationskraft. Auch in ihrer ambivalenten, gelegentlich widersprüchlichen Zwischenstellung zwischen umfangreicher internationaler Vernetzungs- und Vermittlungstätigkeit und andererseits ihrer deutschen, durchaus nationalistisch gefärbten Reformarbeit bieten die Leipziger noch einige Herausforderungen an eine komparatistisch, interkulturell oder postkolonial versierte Literaturforschung.


Titelbild

Luise Adelgunde Victorie / Johann Christoph Gottsched: Diskurse der Aufklärung.
Herausgegeben von Gabriele Ball, Helga Brandes, Katherine R. Goodman.
Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 2006.
288 Seiten, 79,00 EUR.
ISBN-10: 3447054956
ISBN-13: 9783447054959

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