Mutterschaft oder Mütterlichkeit

Der 26. Band des "Tel Aviver Jahrbuchs für deutsche Geschichte" geht Elternbildern im deutschen Diskurs nach

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Schwache Personen" wie "z.E. Frauenzimmer" seien "rachgierig", verriet der Welt- und Frauenweise Immanuel Kant seinen ausschließlich männlichen Hörern während der Vorlesungen über die praktische Philosophie. Denn sie fänden "in ihrem Selbstgefühl nicht so viel Ersetzung" wie er selbst und seine Geschlechtsgenossen, "die als Bewahrer des Menschlichen Geschlechts stark seyn sollen". So jedenfalls schrieb Johan Gottfried Herder die Ausführungen Kants seinerzeit mit.

Mehr als ein Jahrhundert später wurde die Sache zwar ein wenig anders benannt, blieb jedoch die gleiche: Noch immer waren es die Frauen, die im Unterschied zu den Männern als - wie es nun hieß - rachsüchtig galten. So führten Kriminologen um 1900 - von Kriminologinnen der Zeit ist nichts bekannt - Delinquenz bei Frauen auf deren "Veranlagung zum Emotionalen" und namentlich auf die "weibliche 'Rachsucht'" zurück, wie Karsten Uhl in seinem Aufsatz "Mutterschaft und Verbrechen" aufzeigt. Ganz ähnlich wie Kant argumentierte der von Uhl zitierte Begründer der Kriminologie Hans Gross, wenn er ausführte, dass bei "dem echten, starken Mann" Rachsucht nicht als Verbrechensmotiv vorkomme.

Gross und zahlreiche seiner kriminologischen Zeitgenossen leiteten die Rachsucht - wie könnte es anders sein - aus der "Mutterrolle" ab und erklärten sie zum "weiblichen Charakterzug", der wiederum zu einem "spezifisch weibliche[n] Motiv" für Straftaten führe. So hoben "viele kriminologische Texte" hervor, dass Frauen "im Einsatz für ihre Familien" rachsüchtige Verbrechen begingen.

Bahnbrechende Thesen sind Uhls Sache nicht. Auch argumentiert er gelegentlich unsauber. Etwa wenn er konstatiert, Walther Roggensack sei der Auffassung gewesen, "dass Frauen 'das strenge Rechtsgefühl des Mannes fehle'" und fortfährt: "Während also Männer aus rationaler Erkenntnis zwischen Recht und Unrecht unterscheiden könnten, würden Frauen lediglich von ihrer emotionalen Veranlagung von der Begehung von Verbrechen ferngehalten." [Herv. R.L.] Eine mangelhafte Beweisführung. Denn Roggensack spricht gar nicht von der Rationalität des Mannes, sondern von dessen Gefühl.

Publiziert wurde Uhls Text im 26. Band des "Tel Aviver Jahrbuchs für deutsche Geschichte", das unter dem Titel "Mütterliche Macht und väterliche Autorität" steht und sich "Elternbilder[n] im deutschen Diskurs" widmet. Wie der Herausgeber José Brunner im Editorial erläuternd bemerkt, wird Müttern "üblicherweise jene Art von Einflussnahme zugeschrieben, die bei Weber Macht heißt, während Väter Gehorsam von Familienmitgliedern als öffentlich sichtbare Autorität erreichen können, mithin Herrschaft innehaben." Durch den im Titel statt Herrschaft verwendeten Begriff "Autorität" solle jedoch darauf hingewiesen werden, "dass die offizielle, bis vor nicht allzu langer Zeit durch Gesetz und Tradition legitimierte Vorrangstellung des Vaters sich nicht unbedingt in seiner tatsächlichen Herrschaft innerhalb der Familie niederschlägt, sondern oft nur leere Fassade ist."

Der Band gliedert sich in fünf Teile, dessen erster die "Biologisierung von Mutterschaft" behandelt. Im zweiten werden "Erinnerungen der Kinder an ihre Mütter und Väter als Täter bzw. Opfer im 'Dritten Reich'" thematisiert. Der dritte gilt "[a]bsente[n] Väter[n] der Nachkriegszeit". Während sich der vierte sodann "Mutterinszenierungen" und somit wieder dem weiblichen Geschlecht zuwendet, befasst sich der letzte Teil mit "Mutter- und Vatermodellen, die den gegenwärtigen Diskurs bestimmen" und gilt somit dem männlichen und dem weiblichen Geschlecht gleichermaßen.

Die Spannbreite der einzelnen Beiträge deckt historische Themen ebenso ab wie literarische und literaturwissenschaftliche oder auch cineastische. So widmet sich Régine-Mihal Friedman Malte Ludins Film "2 oder 3 Dinge, die ich von ihm weiß" und Anne D. Peiter beleuchtet "Mutterschaft und Macht im Werk von Veza Calderon-Canetti und Elias Canetti". Rajah Scheepers erhellt die "Konzeptionen von Mütterlichkeit in der weiblichen Diakonie nach 1945", indem sie darüber unterrichtet, dass die Diakonissen bei ihrer Einsegnung ein Keuschheitsgelübde ablegen mussten. Frauen, die sich für ein Dasein im Dienste der Diakonie und für ihre "Berufung zur geistigen und sozialen Mütterlichkeit" entschieden, mussten auf eine biologische Mutterschaft verzichten. "Entweder Mutterschaft oder Mütterlichkeit" lautete die widersinnige und für die Betroffenen oft grausame Alternative, vor die die evangelische Kirche Frauen, die Diakonissen waren oder werden wollten, bis in die 1970er-Jahre hinein stellte.

Bedrückend sind die Beiträge des Abschnittes "Mütter und Väter als Opfer und Täter im Holocaust", in dem Na'ama Shik Mutter-Tochter-Beziehungen in Auschwitz-Birkenau untersucht, Irith Dublon-Knebel die Umkehrung von Eltern-Kinder-Verhältnissen im Angesicht des tödlichen KZ-Terrors aufzeigt und Jeanette Toussaint Töchter von SS-Aufseherinnen interviewt.

Besonderes Interesse verdient auch der durch ein Spannungsverhältnis zwischen den Befunden von Barbara Thiessen und Paula-Irene Villa sowie Mariam Tazi-Preve einerseits und Andrea Bambey und Hans-Walter Gumbinger andererseits geprägte letzte Teil. Während Thiessen und Villa zu dem Ergebnis kommen, dass sich Väter nur unwesentlich im Familienalltag engagieren und Tazi-Preve darauf aufmerksam macht, dass Männer sich heute nicht stärker an der Familienarbeit beteiligen als vor einigen Jahrzehnten, unterscheiden Bambey und Gumbinger verschiedene Vatertypen. So gibt es ihnen zufolge den 'neuen' familiär engagierten Vater durchaus. Doch konstatieren auch sie, dass dieser familienfreundliche Vater überwiegend als normative Leitfigur fungiert, kaum aber eine tatsächlich praktizierte Vaterschaft in der Gesellschaft feststellbar sei, die dem entspräche. Das entspannt zwar das Spannungsverhältnis zwischen den Beiträgen, nicht aber die angespannte Lage erziehender Mütter.


Titelbild

José Brunner (Hg.): Mütterliche Macht und väterliche Autorität. Elternbilder im deutschen Diskurs.
Wallstein Verlag, Göttingen 2008.
395 Seiten, 44,00 EUR.
ISBN-13: 9783835302440

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