Die leise Stimme des Clowns

Zu einem Sammelband über den "anderen Deutschen" Heinrich Böll

Von Daniele VecchiatoRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniele Vecchiato

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im August 2007 erschien im "ZEIT"-Magazin "Leben" ein Artikel mit dem provokanten Titel "Wo ist Böll?". Die Autoren, Christiane Grefe und Adam Soboczynski, denunzierten verbittert das Fehlen des 1972 mit dem Literaturnobelpreis geehrten und 1985 gestorbenen Schriftstellers Heinrich Böll in allen öffentlichen Debatten. Seine leise, heisere Stimme sei nicht mehr in der Öffentlichkeit zu hören: "Böll [...] ist aus dem Bewusstsein der Deutschen gerückt. [...] Kein Zitat ist mehr präsent, kein Fernsehauftritt in Erinnerung, keine Rede mehr gegenwärtig". Gerade heutzutage, wo ihm teure Themen wie die RAF, die Medienkritik, die Vergangenheitsbewältigung, der Umweltschutz, die Kritik am Verbandskatholizismus und das Prekariat immer wieder zentral sind, scheint das einstige "Gewissen der deutschen Nation" verschwunden zu sein. Seine Texte sind zwar in den meisten Schulen Pflichtlektüre geblieben, doch im alltäglichen Leben sei er als (politisch) engagierter Autor mit Vergessen und Marginalisierung bestraft worden.

Der vorliegende Sammelband, herausgegeben von Werner Jung und Jochen Schubert, ist ein glücklicher Versuch, Leser, Literaturwissenschaftler und Bürger an die Bedeutung Bölls und seiner Werke zu erinnern. Junge und weniger junge Wissenschaftler konfrontieren sich mit dem Opus eines der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Nachkriegszeit, teils durch originelle, auf hohem Niveau konzipierte Forschungsbeiträge, teils durch breitere, werkübergreifende Überblicke. Ein großer Teil der dort enthaltenen Aufsätze besteht aus Überarbeitungen von Vorträgen, die anlässlich Bölls 20. Todestag im Juli 2005 gehalten wurden. Dazu kommen weitere Beiträge - wie der lesenswerte Artikel von Ralf Schnell über Bölls Ästhetik der Moderne am Beispiel des Romans "Gruppenbild mit Dame" (1971) - aber vor allem sieben bisher unveröffentlichte, von Markus Schäfer edierte Briefe Bölls an die 1917 in Padeborn geborene und 1939 nach Jerusalem emigrierte Autorin Jenny Aloni - eine literarische Kostbarkeit.

In ihren Aufsätzen beschäftigen sich J.H. Reid und Walter Delabar mit dem Frühwerk des Kölner Autors; Gerhard Sauder bietet einen Einblick in die Léon-Bloy-Rezeption bei Böll, während Philipp Alten über die Erfahrung Bölls als "lesende[r] Soldat" auf Grundlage der 2001 publizierten Feldpostbriefe berichtet. Michael Vollmer und Thorsten Päplow setzen sich mit kürzeren Prosatexten auseinander, Jost Keller analysiert die poetologische Entwicklung satirischen Schreibens im Böll'schen Werk und Gisela Holfter erzählt von der bekannten Bindung des Schriftstellers zu Irland. Werner Jung erörtet die Rolle des 6. Septembers 1958 im Roman "Billard um halb zehn" (1959), Jochen Vogt legt einen Ikea-Aufsatz (!) über "Luftkrieg, Wiederaufbau und Architekturkritik" bei Böll vor und Jochen Schubert schließt - nach dem erwähnten Essay von Ralf Schnell - die Reihe der Beiträge mit knappen "Marginalien zu Ästhetik und Sprache" bei Böll.

In den Briefen an Jenny Aloni äußert sich Böll unter anderem über das Judentum, die empfundene Schuld des Überlebens nach der Shoah, den Eichmann-Prozess, das unerträgliche Leben in einem von Opportunisten und "alten Nazis" (wie Konrad Adenauers Staatssekretär Hans Globke, der offizieller Kommentator der Nürnberger Rassengesetze gewesen war) wimmelnden Deutschland. Über die erhaltenen Manuskripte der Altersgenossin schreibt er lakonisch: "So finde ich in Ihrer Prosa, in den Gedichten und Theaterstücken die Größe jenes Deutschlands, das es nicht mehr gibt, den Idealismus, die Gedanklichkeit".

"Ich bin ein Clown [...] und sammle Augenblicke". Mit diesen Worten definiert sich Hans Schnier, der Protagonist der "Ansichten eines Clowns" (1963), in einem Telefongespräch mit seinem Bruder Leo. Die "Augenblicke" (übrigens der dem Roman ursprünglich zugedachte Titel), die der Varietékünstler aufnimmt, verarbeitet und zu erzählen versucht, stehen im Herzen des Böll'schen Meisterwerkes und quälen die Hauptfigur mit ihrer Präsenz: "Ich habe zuviel Augenblicke im Kopf, zuviel Details, Winzigkeiten". Eine Sammlung von Augenblicken will auch der vorliegende Band sein. Seine zwölf Aufsätze und die delikaten Briefe an Jenny Aloni sind einzelne Momentaufnahmen einer menschlichen Existenz und einer literarischen Produktion, denen es - aneinander gereiht - gut gelingt, ein Gesamtbild des Schriftstellers, Publizisten, Polemikers, Moralisten und Mannes Heinrich Böll zu skizzieren.


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Werner Jung / Jochen Schubert (Hg.): „Ich sammle Augenblicke“. Heinrich Böll 1917-1985.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2008.
271 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783895286896

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