Literatur unterm SED-Diktat

In "Erinnerung als Aufgabe?" informiert Carsten Gansel über die Kulturökonomie im geteilten Deutschland

Von Sylke KirschnickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sylke Kirschnick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sommer 1950 im geteilten Berlin. Eigentlich hatte der II. Deutsche Schriftstellerkongress im Ostteil der Stadt unter dem Motto "Frieden!" erst Mitte Juli tagen sollen. Doch dann fand Ende Juni im Westteil der Kongress für kulturelle Freiheit statt, der sich ausdrücklich gegen den "Alpdruck der kommunistischen Massenparteien" richtete.

Für die SED war die Westberliner Veranstaltung eine Provokation. Sie ordnete deshalb die Vorverlegung des geplanten Schriftstellertreffens an. Beide Veranstaltungen von 1950 hatten eine ideologische Schaufensterfunktion. Die politische Lage war äußerst angespannt: Erst im Vorjahr hatten die Sowjets die Berlin-Blockade beendet, waren beide deutsche Staaten gegründet worden. Mitten in den Westberliner Kongress platzte die Nachricht vom Ausbruch des Korea-Kriegs. Auf dem Spiel stand nicht weniger als die Deutungshoheit über Begriffe wie Freiheit und Frieden.

War bereits der erste, noch gesamtdeutsche Schriftstellerkongress vom Oktober 1947 Schauplatz des Ost-West-Konflikts, so spitzte sich der Kulturkampf zwischen den Machtblöcken jetzt zu. Carsten Gansels unter Mitarbeit von Tanja Walenski herausgegebene Dokumentation der beiden DDR-Schriftstellerkongresse von 1950 und 1952 belegt dies eindringlich. "Erinnerung als Aufgabe?" lautet der durchaus mehrdeutige Titel. Mit der akribisch recherchierten und ausführlich kommentierten Publikation liegt nicht nur das bislang unveröffentlichte Kongressprotokoll von 1952 erstmals vor. Die Leser erhalten auch detaillierte Einblicke in die frühe SED-Kulturpolitik, die veränderte Rolle von Literatur und ihre institutionelle Einbindung in die geschlossene Gesellschaft einer Diktatur.

Worin bestehen die Vorzüge des Bandes und wem nützt er? Die Publikation der protokollierten Reden und Wortspenden auf beiden Schriftstellerkongressen, an denen auch Autoren aus anderen Ostblockstaaten und kommunistische Schriftsteller aus dem Westen teilnahmen, ist bereits höchst wertvoll. Doch um ihre Bedeutung zu ermessen, sind Kenntnisse ihrer Vorgeschichten sowie der Ereignisse, die dazwischen lagen, vonnöten. Erinnert sei an die Gründung des Deutschen Schriftstellerverbands im April 1950, das Formalismusverdikt von 1951 und die Kampagne gegen die Oper "Das Verhör des Lukullus" von Bertolt Brecht und Paul Dessau. Deshalb hat Carsten Gansel den Protokollen, Arbeitsrichtlinien und Statuten eine umfangreiche Einführung vorangestellt. Sie beschreibt in kurzen Kapiteln den gesellschaftlichen, kultur- und literaturgeschichtlichen Kontext der Schriftstellerkongresse und das Presse-Echo auf sie. Das ist mehr als ein Surplus, weil diese Ausführungen die Tendenzen der frühen SED-Kulturpolitik überhaupt erst einzuordnen erlauben.

Wenn Otto Grotewohl, damals DDR-Ministerpräsident, in seiner Rede von 1950 vor "amerikanischer Kulturzerstörung" und einem Freiheits-Verständnis warnte, das nicht mehr als die "Anbetung der amerikanischen Atombombe" sei, war dies eine direkte Antwort auf die Intellektuellen vom Kongress für kulturelle Freiheit. Arthur Koestler hatte auf einer Massenkundgebung am Funkturm, die am letzten Juniabend 1950 die Westberliner Veranstaltung beschloss, das bekannte Manifest für geistige Freiheit verlesen. Es war der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die sonst kaum unter einen Hut zu bringenden Wissenschaftler, Künstler und Publizisten im Westen verständigen konnten. Mochte der CIA als damals noch heimlicher Sponsor über ein Netzwerk von Stiftungen die Reise- und Logiskosten der Teilnehmer in Westberlin beglichen haben, ihr Denken und ihre Arbeiten - diesen Unterschied übersieht Frances Saunders in ihrer zuvor erschienenen Arbeit über das Kultursponsoring des CIA ("Wer die Zeche zahlt... Der CIA und die Kultur im Kalten Krieg") - kontrollierte und steuerte er nicht. Wie unumwunden dagegen die am Stalinismus orientierte SED die offizielle Literatur in der DDR inhaltlich und organisatorisch auf vorgegebene, teils sowjetische, teils selbst entworfene Leitlinien einschwor und dirigierte, wird in der Dokumentation gut belegt. Denn bei weitem nicht alles erklärt der Kalte Krieg. Entscheidend war die hauseigene, für Diktaturen typische Missachtung eigengesetzlicher Sphären von Kunst und Politik. Um die Kämpfe um symbolische Macht innerhalb beider deutscher Staaten und die Unterschiede zwischen ihren Bedingungen zu verdeutlichen, argumentiert Gansel mit der Feldtheorie des französischen Soziologen Pierre Bourdieu und einem Randverweis auf die Gruppe 47.

Im Osten war die Kunstautonomie - im Sinne politikferner, unabhängiger ästhetischer Regeln - de facto längst passé. Literatur, so der spätere DDR-Kulturminister Johannes R. Becher 1950 in seiner dokumentierten Eröffnungsrede, habe zudem keine gesellschaftskritische Aufgabe mehr, sondern die einer vorbehaltlosen Bejahung der neuen Ordnung und ihrer Zukunftsentwürfe. Statt an Emigration, Konzentrationslager, Krieg und die Verstrickung in die NS-Diktatur zu erinnern, sollten die Autoren das "geschichtlich Neue" gestalten. Das neue Leben, der neue Mensch, der neue Held sollten, so die Funktionäre, der Inhalt der neuen Literatur sein.

Dies sei bislang unzureichend geschehen, warf DDR-Volksbildungsminister Paul Wandel den Autoren auf dem III. Schriftstellerkongress im Mai 1952 vor. Er nannte wenige Ausnahmen, darunter Bechers in der Dokumentation ebenfalls abgedruckte "Deutsche Sonette 1952": "Denn er war unser, war wie unser Sohn, / Da er für Deutschlands Frieden ist gefallen, / Wovon wir alle träumen und wovon / Wir wollen sprechen jetzt zu allen, allen: // 'Die Mordtat bleibt den Mördern unvergessen! / Denkt stets an jenen elften Mai in Essen!'"

Dort hatte die Polizei am 11. Mai 1952 bei einer Demonstration gegen die Wiederaufrüstung den Jungkommunisten Philipp Müller erschossen. Nur die Schriftstellerin Irma Loos aus Westdeutschland wagte es, Bechers Gedicht, das sie als "Beleidigung des jungen Ermordeten" wahrnahm, offen zu kritisieren. Die Kritik an Becher, so vermutet der Herausgeber, war womöglich einer der Gründe, weshalb der Schriftstellerverband seinerzeit davon absah, das Kongressprotokoll zu publizieren. Loos sah in Bechers Zeilen nicht nur eine "Geringschätzung" des Toten, sondern auch eine "literarische Verfehlung", weil der "Inhalt" die "Form" buchstäblich erdrückte. Als vorbildlich galt der formal anspruchslose Agitprop-Stil eines Kurt Barthel, genannt Kuba. Dessen zum Teil martialische Verse kannte später jedes Schulkind in der DDR. Kuba griff auf dem 1952er-Kongress den jungen Günter Kunert an, der durch einen "Wust von formalistischem Getue" seine ideologische "Unsicherheit" überspiele. Langfristig, das wissen wir heute, tat Kubas Kniebeißerei der künstlerischen Reputation Günter Kunerts keinen Abbruch.

Weil viele Verweise und Anspielungen in den Redebeiträgen heute nur noch Spezialisten etwas sagen, gibt es im Band einen detaillierten Anmerkungsapparat. Gleiches gilt für das mit über siebzig Seiten ungewöhnlich umfangreiche Personenverzeichnis, das Kurzbiografien von Schriftstellern, Funktionären und Personen des Zeitgeschehens enthält, ergänzt um ein Namenregister, das ihr Vorkommen leicht auffindbar macht. Im Personenverzeichnis finden sich viele, nicht mehr oder aber noch nie sonderlich bekannte Namen, die dessen ungeachtet erinnerungswürdig sind. Daneben allerdings auch Konrad Adenauer und Walter Ulbricht, deren Kenntnis man bei abgeschlossener Realschuldbildung eigentlich voraussetzen können sollte. Dem ist leider nicht immer so, und diesem Umstand trägt Gansel Rechnung. Das bläht das Verzeichnis sehr auf, macht aber wiederum den Band nicht nur für Wissenschaftler und Studenten, für Journalisten und die interessierte Öffentlichkeit, sondern auch für ambitionierte Schüler als Nachschlagwerk nutzbar.

All diese, das Verständnis fördernden Vorzüge des Bandes haben einen augenfälligen Haken. Vermutlich wird das dickleibige Buch kaum wer, der das studienhalber nicht muss, in eine Tasche oder einen Koffer packen, um darin anderswo als in der Bibliothek oder am Schreibtisch zu blättern. Das mag bei einer wissenschaftlichen Publikation kein Mangel sein, ist aber schade, denn auch das ziellose Stöbern lohnt sich. Wer immer etwas über das kulturelle Klima und das literarische Feld in der frühen DDR wissen möchte, wird in "Erinnerung als Aufgabe?" fündig und neugierig gemacht. Vielleicht hätte eine zweibändige Ausgabe der Dokumentation, welche die beiden Schriftstellerkongresse von 1950 und 1952 in der gleichen Weise jeweils eigenständig aufbereitet, diesen einen Nachteil der vielen Vorteile vermieden.


Titelbild

Carsten Gansel (Hg.): Erinnerung als Aufgabe? Dokumentation des II. und III. Schriftstellerkongresses in der DDR 1950 und 1952.
V&R unipress, Göttingen 2008.
684 Seiten, 76,00 EUR.
ISBN-10: 3899714067

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