Aus der Schublade geholt

Wassili Grossmanns Essays und Erzählungen zeugen vom Glauben an die menschliche Güte

Von Winfried StanzickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Winfried Stanzick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 

Nach der Neuauflage des großen Stalingrad-Romans „Leben und Schicksal“ 2007, die von der Kritik begeistert aufgenommen wurde, legt der Claassen Verlag nun die gesammelten Erzählungen des 1964 verstorbenen russischen Schriftstellers Wassili Grossmann vor, einem Autor, der wie kaum ein anderer ein Chronist der schlimmsten Schrecken des 20. Jahrhunderts war und der den Erfolg seiner Bücher nicht mehr selbst miterleben konnte. So hat das Hauptwerk „Leben und Schicksal“ erst 1980 über die Schweiz den Weg in den Westen gefunden.

Die unter dem Titel „Tiergarten“ hier vorgelegten Erzählungen und Essays, unter denen „Die Sixtinische Madonna“ künstlerisch herausragt, sind parallel zu seinen Arbeiten an seinem großen Roman entstanden, hauptsächlich für die Schublade, denn Grossmann durfte in der UdSSR nicht veröffentlichen. Seine Geschichten erzählen zum einen von der Wirklichkeit und dem Alltag in der sowjetischen Klassengesellschaft. Andere wie zum Beispiel die namensgebende Erzählung „Tiergarten“ befassen sich mit seinem Hauptthema, dem Krieg. Da schildert er aus den Perspektive eines alten deutschen Tierpflegers im Berliner Zoo die letzten Kriegstage 1945.

Was seine Erzählungen bei allen dunklen und schrecklichen Themen, die sie beschreiben, auszeichnet, ist der unerschütterliche Glaube des Autors an die menschliche Güte, die schließlich und endlich auch die schlimmsten menschliche Niedertracht überwinden kann.

Am eindrücklichsten wird das in dem schon erwähnten Essay „Die sixtinische Madonna“ deutlich. Als 1955 Raffaels berühmtes Gemälde in Moskau ausgestellt wurde, bevor Moskau es als Kriegsbeute nach Dresden zurückgab, gerät Grossmann vor dem Bild ins Grübeln: „Die Madonna mit dem Kind auf dem Arm steht für das Menschliche am Menschen, darin liegt ihre Unsterblichkeit.“ Und er fasst zusammen, nicht nur seine Eindrücke von diesem Bild, sondern seinen ganzen Glauben und seine Hoffung: „Wir sehen der Sixtinischen Madonna hinterher und bewahren den Glauben, dass Leben und Freiheit eins sind, dass es nichts Größeres gibt als das Menschliche im Menschen.“

Viele Jahrzehnte nachdem dies geschrieben wurde, haben diese Sätze ihre Aktualität nicht verloren. Es ist zu wünschen, dass auch dieser Band von Wassili Grossmann bei uns eine entsprechende Rezeption erfahren wird.

Titelbild

Wassili Grossmann: Tiergarten. Erzählungen.
Claassen Verlag, Berlin 2009.
312 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783546004374

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