Am Anfang war die Öffentlichkeit – Reinhard Brandts „Beitrag zur Tierphilosophie“ beantwortet die Frage, ob Tiere denken können

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Zur Freude des applaudierenden Publikums vollbringen Tiere in der Zirkusmanege und anderswo manch oft gesehenes, und gelegentlich zu dessen Überraschung auch mal ein ganz neues Kunststück. Sie balancieren als Elefanten auf Bällen, springen als Tiger durch brennende Reifen und jonglieren als Seelöwen verschiedene Gegenstände auf ihrer Schnauze. Manche Primaten und sogar der eine oder andere Vogel sind in der Lage, Werkzeuge herzustellen und zu benutzen. Für den Alltagsverstand weniger überraschend, ebenso, dass die Angehörigen der verschiedensten Spezies Zeichen senden und empfangen und miteinander sie verbinden. Und falls es sich um Haushunde handelt, tauschen sie die Zeichen nicht nur mit ihren Artgenossen aus, sondern auch mit Menschen. Wie jeder Tierfreund weiß, sind unsere animalischen Mitgeschöpfe außerdem fähig, Emotionen zu empfinden. Sie freuen sich, trauern oder verzweifeln. Doch ist das noch lange nicht alles. Das erstaunlichste von allem ist vielleicht, dass sie „kognitive Leistungen“ vollbringen. Nur eines bleibt ihnen versagt: Kein Mensch hat bislang ein Tier denken sehen – sei es in der Manege, in freier Wildbahn oder im Haushof.

Das ist zumindest die These des emeritierten Marburger Philosophieprofessors Reinhard Brandt, der dafürhält, „daß Tiere zwar fühlen und vorstellen, aber wohl nicht denken und erkennen können.“ Er plausibilisiert sie in seinem kürzlich unter dem Fragetitel „Können Tiere denken?“ erschienen „Beitrag zur Tierphilosophie“.

Genau dies, die mangelnde Fähigkeit der Tiere, zu denken, macht Brandt zufolge die „Kluft“ aus, die sie vom Menschen trennt. Dabei stellt er keineswegs in Abrede, dass das Verhalten von Tieren eine „vernunftähnliche Tätigkeit“ nahe legt. Doch „wie diese operiert, wissen wir nicht, und wir kennen weder die Form noch die genauen Grenzen dieses analogum rationalis.“

An bisherigen, auch wissenschaftlichen Versuchen zu belegen, dass Tiere denken können, moniert Brandt nicht zuletzt die mangelnde begriffliche Schärfe der Bestimmung des Denkens. Indem er „nur diejenigen mentalen Leistungen […] als Denken qualifiziert“, „die bei näherer Analyse die Basisstruktur der Bejahung oder Verneinung aufweisen: ‚S ist P, S ist nicht P.‘“, fasst er es selbst nicht als prozessualen Vorgang, sondern dezidiert als operationalen. In der Urteilsfähigkeit macht Brandt somit den „Kernbereich“ des Denkens aus. Die Frage, „ob Tiere denken können“, wird durch die Antwort auf die Frage, ob sie urteilen können, mitbeantwortet. Tieren, argumentiert Brandt, mangele es insbesondere an „zwei Voraussetzungen des Urteilens und Denkens: Sie verfügen über keine Begriffe, und sie kennen keine gemeinsame Öffentlichkeit“. Letztere werde „durch das Zeigen geschaffen und im Urteil vertieft“.

In einem zweiten Schritt negiert Brandt nicht nur die Denk- und Urteilsfähigkeit von Tieren, sondern entwirft in einem Gedankenexperiment eine „Phylogenese des Urteilens“. Mit deren Hilfe weist er den Moment auf, an dem die Menschen sich „auf natürlichem Weg von den Tieren getrennt“ und ihre „eigentümliche Denk- und Sprechkultur und damit die Kultur überhaupt entwickelt haben.“ In Brandts Gedankenexperiment „kreiert das Zeigen die Öffentlichkeit der Gruppe“. Dies ist auch der Clou Michael Tomasello gegenüber, der dem Zeigen zwar ebenfalls den entscheidenden Anteil bei der evolutionären Entwicklung vom Tier zum denkenden Menschen zuspricht, dabei aber nur auf dessen triadische Konstellation rekurriert (Person A zeigt Person B den Gegenstand C) und diese als „intersubjektiv“ ausweist. Brandt betont hingegen, dass die bloße Intersubjektivität zur Begründung des Zeigens als Denkfähigkeit erzeugender Akt nicht hinreicht, da auch „körperliche Berührungen der Vorzeit“ oder die „Spielrituale von Jungtieren“ intersubjektiv sind. Entscheidend ist vielmehr dessen öffentlichkeitserzeugende Wirkung. Denn „[m]it der gemeinsamen Aufmerksamkeit“ auf den zeigenden Finger und von diesem auf den gezeigten Gegenstand „wird die erste Form der Öffentlichkeit gestiftet.“ Anders als Tomasello kann Brandt daher die Entstehung der Urteilsfähigkeit aus dem ursprünglichen indexikalischen Akt entwickeln. Denn dieser schafft nicht nur „gemeinsame Aufmerksamkeit“ sondern ist selbst auf sie angewiesen. „Laute“ begleiten dem Gedankenexperiment zufolge den Fingerzeig, um den durch ihn „identifizierten Sachverhalt“ zu kenn- und schließlich zu bezeichnen. In einem weiteren Schritt „verbindet sich der charakterisierende bestimmte Laut P mit einem anderen Laut, der die deiktische Funktion übernimmt“, wodurch das Zeigen selbst überflüssig und eine „rudimentäre Form des Urteils“ gewonnen wird. Mit diesem „Proto-Urteil“ eröffnet sich für die anderen Mitglieder der Urhorde die Möglichkeit der wiederum öffentlichen Negation. „Erst durch die Zusammennahme dieser Elemente in eine paradoxe oder hybride sprachliche Einheit, die von einem Sprecher verlautbart wird, ist das bejahende oder verneinende Urteil entstanden.“

Tiere, so resümiert Brandt, leben zwar in einer „arteigenen Medienwelt, aber diese bildet keine Öffentlichkeit.“ Wozu sollten sie da denken?

R.L.

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Titelbild

Reinhard Brandt: Können Tiere denken? Ein Beitrag zur Tierphilosophie.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
159 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783518260173

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