Gedankenspiele in der Wüste

Don DeLillos Roman „Der Omega-Punkt“

Von Peter MohrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Mohr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich versuche, zu verstehen, was rings um mich vorgeht, und das schließt ein, dass ich Dinge aus unserer Kultur zutage fördere, deren Bedeutung der allgemeinen Aufmerksamkeit entgangen ist“, so hatte der amerikanische Autor Don DeLillo vor einigen Jahren in einem Deutschlandfunk-Interview seine eigene Arbeitsweise erklärt.

In seinem international erfolgreichen Monumentalepos „Unterwelt“ (1997) hat DeLillo ein extrem düsteres Bild von der amerikanischen Gesellschaft gezeichnet, und sechs Jahre später las sich „Cosmopolis“ gar wie ein Horrorszenario aus einer fremd-determinierten Welt. Dagegen wirkt der neue schmale Roman aus der Feder des 73-jährigen Autors ziemlich handlungsarm und fast schon besinnlich.

Am Anfang begegnen wir einem Mann im Museum. Er betrachtet die Douglas-Gordon-Installation von Hitchcocks „Psycho“, die 2006 im New Yorker Museum of Modern Art zu sehen war. Dabei wurde der Hitchcock-Klassiker in extremer Zeitlupe gezeigt, die den Film auf eine Länge von 24 Stunden dehnte – eine unendliche Verlängerung des Grauens für den Betrachter. Mit einer ähnlichen Zeitdehnung arbeitete DeLillo auch in seinem Roman „Unterwelt“, als er die Beschreibung eines Baseball-Fluges unendlich streckte.

Der namenlose Museumsbesucher beobachtet zwei Männer, die Gordons Installation intensiv betrachten: einer ist über siebzig, mit Stock und langen weißen Haaren, der andere Mitte dreißig und ausgesprochen leger gekleidet. Diese so ungleichen Männerfiguren sind die Protagonisten des Romans, mit denen DeLillo ein hintersinniges Gedankenspiel um Raum und Zeit und um generationsspezifische Denkweisen inszeniert.

Als Ich-Erzähler führt uns der ambitionierte, aber nur leidlich erfolgreiche Dokumentarfilmer Jim Finley durch die Handlung. Sein Gegenpart ist der in die Jahre gekommene Universitätsdozent Richard Elster, Regierungsberater während des Irak-Kriegs. Finley will ein authentisches Bekenntnis von Elster produzieren, eine Art Dokumentation seiner Gedanken und Gefühle – ohne nachträgliche Schnitte. Doch der eloquente Wissenschaftler („Wir können nicht andere unsere Welt und unser Denken gestalten lassen.“) lehnt das Angebot ab, verspürt keine Lust auf eine öffentliche Beichte über seine Arbeit fürs Pentagon.

Der junge Finley wittert noch einmal eine Chance, als er auf Elsters Einladung eingeht, ihn in sein Wüstendomizil zu begleiten, das für ihn Ort eines „spirituellen Rückzugs“ ist. Die dann folgenden Gespräche bilden das eigentliche Zentrum des Romans. In den Dialogen steckt nicht nur die Ambivalenz des amerikanischen Denkens, sondern auch (als eine Art Rollenspiel) die allmähliche Wandlung des Autors, der den gleichaltrigen Elster gegen Finleys jugendliches Hinterfragen beinahe in Schutz nimmt. Wohl kaum ein Zufall: Als DeLillo seinen ersten Roman verfasste, war er so alt wie der Regisseur Finley.

Der Romantitel geht auf die Schriften des französischen Jesuiten und Religionsphilosophen Teilhard de Chardin zurück, wonach das Erreichen des „Omega-Punktes“ die totale Einkehr des Individuums nach innen bedeutet, oder wie Elster es ausdrückte: „Ein Sprung aus unserer Biologie hinaus.“

Elster ist ein innerlich zerrissenes Individuum – einerseits ein feinsinniger Lyrik-Liebhaber, der Ezra Pound und Rainer Maria Rilke schätzt, andererseits aber auch ein rhetorisch-versierter, allerdings moralisch fragwürdiger Propagandist der amerikanischen Kriegspolitik: „Es gibt keine Lüge im Krieg oder in der Kriegsvorbereitung, die sich nicht verteidigen ließe.“

Ein einstiger Hardliner sucht in der Abgeschiedenheit der kalifornischen Wüste den „Omega-Punkt“, einen geradezu meditativen Zugang zu seinem innersten Kern – losgelöst von Raum und Zeit. Doch plötzlich zählt auch für Elster wieder jede Sekunde, sein Leben tickt nach einem ganz anderen Takt, und er zeigt wieder ganz normale menschliche Regungen. Seine introvertierte und leicht weltfremd gezeichnete Tochter Jessica, die ihn und Finley besuchte, verschwindet spurlos in der Wüste und scheint trotz einer groß angelegten polizeilichen Suchaktion „in Luft überzugehen“.

Ist dies nur ein dramaturgisches Ablenkungsmanöver, oder verbirgt sich hinter Elsters neuer Rolle als verzweifelt-hilfloser Vater eine Sühnekonstruktion? Ein „moralischer“ Fingerzeig auf die vielen Menschen, deren Spuren sich in den von Elster einst mit patriotischem Pathos verteidigten Kriegen verlieren.

Dieser schmale Roman geht mit mikroskopischer Schärfe an die Wurzeln des menschlichen Daseins, wirft existenzielle Fragen nach Schuld, Sühne, tätiger Reue, Egoismus und Manipulierbarkeit auf und impliziert gleichzeitig die von einer spürbaren Altersmilde geprägten Suche nach einer inneren Balance. „Der Omega-Punkt“ ist ein rätselhaftes, radikales und verstörendes Buch, mit dem DeLillo noch einmal nachhaltig bewiesen hat, dass er zurecht alljährlich als heißer Kandidat für den Nobelpreis gehandelt wird.

Titelbild

Don DeLillo: Der Omega Punkt. Roman.
Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2010.
128 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783462041927

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