Das Selbst als performativer Akt

„In the beginning there was no ,solo‘“: Ein Sammelband von Ute Berns beleuchtet Individualitätsdiskurse in der Frühen Neuzeit

Von Kirsten SandrockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kirsten Sandrock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Konzept der individuellen Identität ist ein umstrittenes Feld in der Frühneuzeitforschung. Während einige Wissenschaftler davon ausgehen, dass sich die Individualität im Gegensatz zum Kollektiv erst nach der Renaissance als Identitätsquelle etablierte, so rücken neuere Forschungen von dieser strikten Trennung ab und betonen stattdessen die Komplexität von jeglichen Identitätskonstruktionen, auch denen des Individuums in der Frühen Neuzeit. Der von Ute Berns herausgegebene Sammelband „Solo Performances: Staging the Early Modern Self in England“ gehört zu dieser Gruppe von infragestellenden Forschungen, in denen die angeblichen Brüche zwischen frühneuzeitlichen und modernen Identitätskonzepten neu gedacht werden. Das Resultat sind dreizehn Artikel, die sich als ein beweiskräftiges Plädoyer für ein differenziertes Verständnis von frühneuzeitlichen Individualitätsdiskursen lesen und dabei eine neue Forschungsperspektive eröffnen.

Der Fokus liegt auf sehr unterschiedlichen und teilweise außergewöhnlichen Formen von „Solo-Performances“ in der Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit. In einer hervorragenden Einführung zum Thema expliziert Ute Berns unter dem Verweis auf das Greenblatt’sche „self-fashioning“ Konzept, welche These den darauffolgenden Artikeln zu frühneuzeitlichen Selbst-Diskursen zu Grunde liegt: „Early Modern selves were incessantly engaged in complex forms of self-fashioning.“ Dieser an den New Historicism angelehnte Leitsatz wird von Berns elegant mit einem weiteren Ansatz zu den Formen und Funktionen von Selbstdarstellung verbunden, nämlich dem Konzept der Performanz. Danach ist sowohl Kultur als auch Literatur ein performativer Akt innerhalb eines sozialen, kulturellen und materiellen Rahmens, wo er stattfindet und – physisch oder imaginativ – rezipiert wird. So ist letztendlich jegliches Sprechen genauso wie das öffentliche Auftreten einer Person oder das private Agieren eines Menschen als ein performativer Akt zu verstehen, der der Selbstgenerierung und Selbstdarstellung eines Individuums dient. Dieses, zugegebenermaßen sehr breite Verständnis von Selbstperformanz als allgegenwärtiges Phänomen erlaubt es den Beiträgerinnen und Beiträgern, das Individuum als maßgebliche Quelle der Identität in der Frühen Neuzeit anzuerkennen ohne dabei die Bedeutung des Kollektivs aus den Augen zu verlieren.

Ein gutes Beispiel für die Ambivalenz zwischen scheinbar nicht vorhandener Wirkung und dennoch ausschlaggebender Signifikanz für die Persönlichkeitsbildung frühneuzeitlicher Identitäten liefert Ina Schabert in ihrem Aufsatz „The Theatre in the Head: Performances of the Self for the Self by the Self“. Anhand ausgewählter Texte von Margaret Cavendish (1623-1673) untersucht Schabert die Bedeutung der Imagination als zentrale Quelle der Identitätskonstruktion. Ob, wann und wie das Imaginäre von anderen als performativer Akt wahrgenommen wird ist dabei weniger wichtig als die Bedeutung von Cavendishs mentalen Szenen für den Eigengebrauch, zum Beispiel in Form von Tagebüchern oder Briefen. Diese Form des Schreibens bezeichnet Schabert als Szenografie, die zwar einerseits von dem Selbst für das Selbst ist, jedoch andererseits nicht als rein solipsistischer Akt verstanden werden darf. Stattdessen dient die Szenografie laut Schabert der Entwicklung eines autonomen Selbstverständnisses der Autorin: „Cavendish’s self-awareness owes nothing to religion; she imagines her self as an autonomous being.“ Für die Frühe Neuzeit ist diese Innenperspektive der Szenografie laut Schabert kennzeichnend für weibliche Formen der Identitätsfindung, womit Schabert einen spannenden Forschungsansatz für die Ergründung von Gender-Diskursen in der Frühen Neuzeit eröffnet.

Einen ähnlich innovativen Ansatz zur Ergründung von frühneuzeitlichen Identitätskonstruktionen entwickelt Jürgen Schlaeger in seinem Artikel „Auto-Dialogues: Performative Creation of Selves“. Hier wird der Hang zur literarischen Selbstdarstellung als zentrale Neuentwicklung nicht erst des 18. Jahrhunderts sondern bereits der Frühen Neuzeit dargestellt, wo sich laut Schlaeger das „life-writing“ als literarisches Genre durch den Zerfall des mittelalterlichen Weltbildes entwickeln konnte. Schlaegers These lautet, dass sich das Individuum erst im persönlichen schriftlichen Diskurs ausprobieren musste, bevor es später als Subjekt Einzug in das öffentliche Leben erhalten konnte. Beispiele für diese Art der individuellen Selbstdarstellung zum Zwecke einer größeren kulturellen Neupositionierung sind laut Schlaeger Samuel Purchas’ Einleitung zu seinem Werk „Purchas his Pilgrim“ (1619), Daniel Dykes populäre Schrift „The Mystery of Self-Deceiving“ (1614) oder Richard Rogers „Diary“ (1587-1590). Beides sind zwar auto-dialogische Darstellungen des Individuums, dienen jedoch der größeren kulturellen Neuerforschung von Handlungsspielräumen in den Bereichen der Spiritualität, Emotionalität, und Epistemologie. Anhand dieser und anderer Beispiele des „life-writings“ als kultureller Performanzakt resümiert Schlaeger: „solo performances are strategies for cultural survival“.

Dieses Erkunden und Erweitern des individuellen Handlungsspielraums innerhalb eines sozialen und kulturellen Handlungsrahmens vollzieht sich auch in den Gedichten von John Donne, wie Wolfgang G. Müller in seinem Aufsatz „The Poem as Performance: Self-Definition and Self-Exhibition in Johne Donne’s Songs and Sonets“ zeigt. Gedichte, so Müller, seien in der Frühen Neuzeit vor allem Orte der Selbstdarstellung, die es dem Autor erlauben, ihre Individualität sowohl auf einer intratextuellen als auch auf einer impliziten extratextuellen Ebene auszukundschaften und publikumswirksam zu inszenieren. Müller argumentiert überzeugend, dass diese performative Lesart von Gedichten dem romantischen Verständnis von Poesie, welches die Literaturwissenschaften bis heute hin prägt, verstärkt entgegenzusetzen sei um nicht nur die persönliche sondern auch die politische Relevanz von frühneuzeitlicher Dichtung richtig einschätzen zu können.

Eine gänzlich andere Form der Selbstdarstellung untersucht letztlich Jerzy Limon in seinem Aufsatz „The Monarch as the Solo Performer in Stuart Masque“. Hierin geht Limon auf die besondere Rolle von James I, der gleichzeitig James VI of Scotland war, bei der Aufführung von Maskenspielen ein. Dieses zu Beginn des 17. Jahrhunderts überaus beliebte Genre war eine der bevorzugten Unterhaltungsformen von James I, der bei den Aufführungen stets eine besondere Position auf dem erhöhten Thron direkt gegenüber der Bühne hatte. Somit war der Monarch laut Limon gleichzeitig die Hauptquelle und der der Hauptgrund für die Aufführung von Maskenspielen. Das gesamte Maskenspiel richtete sich nach den Regeln und Realitäten der Herrschaft von James I., so dass Limon folgert, dass das gesamte Stuart’sche Maskenspiel zu Beginn des 17. Jahrhunderts eine Solo-Peformance des Monarchen gewesen sei. Es sind Thesen wie diese, die aus einem scheinbar unbeteiligten Zuschauer den Hauptakteur eines Maskenspieles und „Solo Performances“ zu einer der herausragenden Veröffentlichungen der literatur- und kulturwissenschaftlichen Frühneuzeitstudien dieser Tage machen.

Titelbild

Ute Berns (Hg.): Solo Performances. Staging the Early Modern Self in England.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2010.
272 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-13: 9789042029521

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