Der historische Blick in unscharfer Einstellung

Siegfried Kracauers Fragmente zur Geschichte „vor den letzten Dingen“

Von Thomas KupkaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Kupka

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Siegfried Kracauer war weder Historiker noch Geschichtsphilosoph oder Geschichtstheoretiker. Er war vor allem Filmwissenschaftler. Und zwar einer, wie Theodor W. Adorno bemerkte, der „die Filmkritik in Deutschland überhaupt erst aufs Niveau gebracht hat, indem er den Film als Chiffre gesellschaftlicher Tendenzen, von Gedankenkontrolle und ideologischer Beherrschung las“. Adorno ist aber eben auch aufgefallen, dass dieser Gesichtspunkt in Kracauers berühmtem Werk über die „Theorie des Films“ (1960, deutsch 1964), „das durchaus historisch-ästhetisch angelegt war, merkwürdig zurücktritt“. Beide Einschätzungen finden sich in einem Nachruf auf den 1966 Verstorbenen, der dem Anhang der Neuedition des nun vorliegenden vierten Bandes der bei Suhrkamp erschienenen Kracauer Werkausgabe: „Geschichte – Vor den letzten Dingen“, beigegeben ist.

Den Bezug zum Film stellt Kracauer selbst her. Indem er sich der Geschichte zuwandte, habe er nur Gedanken fortgeführt, die in der „Theorie des Films“ manifest waren. Doch so „blitzartig“, wie Kracauer die Parallelen „zwischen der Geschichte und den photographischen Medien, historischer Realität und Kamera-Realität“ klar geworden sind, so schwach sind die Analogien, die er herstellt. Dafür werden gleich Gründe zu nennen sein. Zuvor jedoch ein paar Worte zu Kracauers geschichtswissenschaftlichen Positionen, die hier kurz ausfallen können, da sie ebenfalls nur wenig ergiebig sind: Sie changieren einigermaßen unentschieden zwischen Leopold von Rankes Bestreben, zu zeigen, „wie es eigentlich gewesen“ ist und den Einsichten etwa Benedetto Croces und Robin W. Collingwoods, dass die soziale und politische Gegenwart des Historikers Einfluss auf dessen Geschichtsschreibung habe und auch haben dürfe. Zwar weist Kracauer Rankes „Realismus“ zurück und betont das „konstruktivistische“ Moment in Auswahl und Interpretation des historischen Materials (Kapitel II) – ja zeigt es selbst bei Ranke auf –, doch ist ihm das sogenannte „Gegenwarts-Interesse“ des Historikers, der die Geschichte aus der hermeneutischen Situation heraus beschreibt, in der er sich befindet, weit zu viel des Guten (Kapitel III). Dies führt zu einer paradoxen Situation: Zeigt Kracauer einerseits im Kapitel „Allgemeine Geschichte und Ästhetischer Ansatz“ (Kap. VII), dass Geschichtswerke dank ihrer Nähe zur Kunst mit den großen Romanen vergleichbar sind, die die Vergangenheit thematisieren – Marcel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ kommt als Beispiel immer wieder vor –, so verlangt er andererseits, der Historiker möge in einem Akt der „Selbst-Auslöschung“ einen objektiven Zugang zur Geschichte finden (Kapitel IV). Das kann natürlich nicht gut zusammengehen.

Die Idee von der Selbstauslöschung ist wieder von Ranke. Was der aber im wohlverstandenen Irrealis bloß wünschte, wird bei Kracauer zur Grundvoraussetzung des Historiografen. Eine solche Sicht war schon Wilhelm Dilthey nicht geheuer, der in der Nachfolge Friedrich Schleiermachers die Hermeneutik als Methode der „Geisteswissenschaften“ entwickelte. Und der französische Historiker Marc Bloch (Mitbegründer der „Annales d’histoire économique et sociale“) wusste, dass „bloß passive Beobachtung, selbst angenommen, sie wäre möglich, nie irgendetwas Produktives zu irgendeiner Wissenschaft beigetragen“ habe, was Kracauer auch pflichtgemäß zitiert. Und wer wollte darüber hinaus dem großen Isaiah Berlin widersprechen: „Historische Erklärung besteht zu einem großen Teil in der Anordnung der entdeckten Tatsachen nach Mustern, die uns zufrieden stellen, weil sie mit dem Leben übereinstimmen, wie wir es kennen und uns vorstellen“? Auch Kracauer tut das nicht. Was bei ihm dann herauskommt, ist eine „Art aktive Passivität“, die mit allerlei Prinzipien und Gesetzen ausgestattet wird, die aber über Andeutungen nicht hinauskommen. Unter ihnen das „ästhetische Grundprinzip“, das wir schon aus der „Theorie des Films“ kennen und welches nur Handlungen oder Betrachtungen erlaubt, die den Eigenschaften des verwendeten Mediums (hier wieder in Analogie Film/Historiografie) adäquat sind, das „Gesetz der Perspektive“, das gemeinsam mit dem „Gesetz der Ebenen“ den Verkehr zwischen Mikro- und Makrogeschichte regelt, und schließlich das „Seite-an-Seite Prinzip“ von „Zeitlosem“ (was immer man darunter verstehen mag) und Zeitlichem sowie von Allgemeinem und Besonderem.

Wollte man Kracauers Positionen auf einen Nenner bringen, ergibt sich ein starker Hang zum historiografischen Realismus, der wie in seinen filmtheoretischen Überlegungen von einer „formgebenden Tendenz“ lediglich begleitet wird. Es geht mithin um die „Errettung der äußeren Wirklichkeit“, was bekanntlich schon der Untertitel seiner „Theorie des Films“ als Motto ausgab. Dass er aber die „formgebenden Tendenzen“ schon filmtheoretisch bei Weitem unterschätzt, befremdete bereits die Filmkritikerin Pauline Kael in ihren „Unhappy Thoughts on Siegfried Kracauer’s Theory of Film“ (in: „I Lost It at the Movies“, 1966). Doch auch ansonsten wirken die Analogien von Geschichtsschreibung und fotografischen Medien wenig überzeugend und bisweilen beliebig. Die Übertragung filmtheoretischen Vokabulars auf die Geschichte, etwa dass der Historiker den Blick wie ein Kameraobjektiv unterschiedlich scharf stellen kann oder Anleihen bei der Tätigkeit des Fotografen, „Motiv, Ausschnitt, Linsen, Filter, Emulsion und Korn jeweils seiner Sensibilität entsprechend auszuwählen“, all dies ist allenfalls hübsche Dekoration, hat aber keinen zusätzlichen Erklärungswert. Im Gegenteil, verfinge der Vergleich mit den fotografischen Medien, dass also der Historiker mit der „historischen Wirklichkeit“ oder dem „historischen Universum“ wie der Fotograf ein „Rohmaterial“ vor sich habe, dessen „Muster, Fasern und Sequenzen […] auf weite Strecken unfertig, heterogen und dunkel“ seien, bestünde seine Aufgabe darin, die Wirklichkeit lediglich abzubilden. Eine solch reduzierte Sicht auf die Welt erinnert an den erkenntnistheoretischen Positivismus, der schon in den 1960er-Jahren auf dem Rückzug war. Heute wirkt sie anachronistisch.

Das stellt ganz grundsätzlich die Frage nach dem Ertrag filmtheoretischer Überlegungen für die anderen Bereiche des Denkens. Normalerweise laufen Vokabularübertragungen nicht vom Film auf die Geschichte oder Philosophie, sondern umgekehrt von der Geschichte oder Philosophie zum Film. Nun haben Filmkritik und Filmtheorie (bis auf vielleicht Sergej Eisensteins Essay „Der Kinematograph der Begriffe“, 1929, oder Walter Benjamins „Kunstwerkaufsatz“, 1935/36) bisher keine besonders herausfordernden philosophischen Gedanken hervorgebracht. Noël Carroll spricht in „Mystifying Movies“ sogar von nichts weniger als einem intellektuellen Desaster (1988). Es ist daher müßig zu beklagen, Film tauche, wenn überhaupt, in der Philosophie lediglich als Veranschaulichungsmittel auf. Im Hinblick auf solche Veranschaulichung hat Stanley Cavell zuletzt in „City of Words“ (2004) gewiss leuchtende Zeichen gesetzt. Aber auch er, abgesehen vielleicht von „The World Viewed“ (1971), hätte wohl über die Forderung geschmunzelt, angesichts der bisherigen Leistungen der Filmtheorie Film selbst als Teil der Philosophie zu verstehen. Zwar gibt es solche Versuche, David Bordwells „Making Meaning“ (1989) ist ein durchaus repräsentatives Beispiel. Es ist aber eben auch ein Beispiel dafür, wie es gerade nicht funktioniert. Gegenüber philosophischen Überlegungen zur Bedeutungstheorie ist es bemerkenswert schlicht und macht im Wesentlichen nicht mehr, als ein Konglomerat aus wahrnehmungs-, sprach- und bedeutungstheoretischen Vokabeln ins „Filmtheoretische“ zu übersetzen. Gregory Currie, „Image and Mind“ (1995), stellt dafür den kognitivistischen Rahmen zur Verfügung, geht aber ganz ähnlich vor. Die prominentesten Beispiele aber für die Verphilosophierung des Films sind natürlich die beiden „Kino-Bücher“ von Gilles Deleuze („Das Bewegungs-Bild“, 1983, deutsch 1997; „Das Zeit-Bild“, 1985, deutsch 1997). Die haben die Wenigsten verstanden, was Deleuze sicher Recht war (man denke nur an seine Texte mit Felix Guattari; er erwähnt Kracauers „Theorie des Films“ in den Kinobüchern übrigens nicht), und außer für ein paar Spezialisten spielen sie heute höchstens als Ornamentenvorrat unter zitatgewandten Filmbesprechern eine Rolle.

Vielleicht ist dies ein wenig grob und ungerecht, so auf die Schnelle. Vor dem Hintergrund aber des schon in den 1960er-Jahren nicht gerade ermutigenden Verhältnisses von Filmtheorie und Philosophie könnte man auf die Idee kommen, ob es Kracauer nicht vielleicht besser beim Film als veranschaulichte Geschichte belassen hätte. Wie etwa in seiner Studie „Von Caligari zu Hitler“ (1947), in der er nach Gilles Deleuze aufwies, „wie das expressionistische Kino den Aufstieg des hitlerschen Automaten in der deutschen Seele reflektierte“. Auch dies natürlich ein Plädoyer für den Realismus. Doch ein richtiger, der geschichtsphilosophischen Fortschrittsglauben und metaphysische Spekulationen ebenso verabschiedet wie universalgeschichtliche Hypertrophien und sich stattdessen auf jenen „Vorraum“ konzentriert, in dem es nicht um die letzten, sondern um die „vorletzten“ Dinge geht, wie es im letzten Kapitel des vorliegenden „Geschichtsbuchs“ heißt. Geschichtsbuch, so nannte Kracauer die zum Ende seines Lebens verfassten Texte, die hier versammelt sind, und eben nicht seine Geschichtstheorie oder -philosophie.

Immer habe er sich von jenen Epochen angezogen gefühlt, die jeweils etwa „der endgültigen Durchsetzung des Christentums in der graeco-romanischen Welt, der Reformation, der kommunistischen Bewegung vorangingen“, berichtet er schon in der Einführung, von Sachverhalten also, „die noch eines Namens ermangeln“. Die Betrachtung der „vorläufigen Natur“ der Dinge trägt der Tatsache Rechnung, dass „[p]hilosophische Wahrheiten nicht völlig die Einzelheiten ab[decken], die logisch unter sie subsumierbar sind“. Sie ist eine Betrachtung nicht des Absoluten, sondern der Grade. Worauf es ankommt, sagt Kracauer mit dem holländischen Kulturhistoriker Johan Huizinga, „ist das à peu près, das ‚mehr oder weniger‘“. Eine solche schrittweise Annäherung ans historische Material, das „In-die-Schwebe-bringen“, war bekanntlich auch Hans-Georg Gadamers „Methode“ des historischen Fragens („Wahrheit und Methode“, 1960), der allerdings bei Kracauer ein bisschen schlecht wegkommt, wenngleich dieser, mal mit, mal gegen Dilthey, maßgeblich vom Begriff des historischen „Verstehens“ zehrt. Doch sagt Kracauer am Ende ganz richtig: „Genauigkeit im Approximativen kann statistische Einzelheiten an Präzision übertreffen“.

Wir haben es, um eine abschließende Beurteilung zu versuchen, bei Kracauers Geschichtsbuch also mit einer Art doppelten Unschärfe zu tun. Einer wenig zielführenden im Hinblick auf die Analogien von Historiografie und Film, die, wenn man so will, sein eigenes „ästhetisches Grundprinzip“ verletzt, das ja fordert, dass ausgeführte Betrachtungen oder Handlungen den Eigenschaften des verwendeten Mediums adäquat sein sollen, und einer gewissermaßen methodischen oder produktiven Unschärfe, die sich gegen geschichtsphilosophische Indienstnahmen sperrt und sich fixierten, endgültigen Denksystemen zugunsten einer durchaus methodenpluralistischen Offenheit des historischen Blicks verweigert.

Ganz in letzterem Sinne ist nun auch die von Ingrid Belke besorgte Neuausgabe des bereits 1969 auf Englisch und (übersetzt von Karsten Witte) 1971 auf Deutsch erschienen Werkes gestaltet. Sie legt Wert auf seinen fragmentarischen Charakter, dessen einzelne Kapitel seinerzeit aus dem Nachlass mit großem philologischem Geschick zusammengesetzt wurden. Angehängt sind das ursprüngliche Vorwort des Renaissance-Forschers Paul Oskar Kristeller, mit dem Kracauer in den letzten Jahren seines Lebens in engem Kontakt stand, und, neben dem eingangs erwähnten Nachruf von Adorno, Kracauers Aufsatz „Time and History“, der erstmals in der Festschrift zu Adornos 60. Geburtstag erschien. Des Weiteren hängt die Nachschrift einer Diskussion über das „Ästhetische als Grenzerscheinung der Historie“ im Rahmen einer Tagung der Forschungsgruppe „Poetik und Hermeneutik“ an, an der unter anderem auch die Historiker Christian Meier und Reinhart Koselleck sowie der Kunsthistoriker Max Imdahl und der Philosoph Odo Marquardt teilgenommen hatten. Und nicht zuletzt vervollständigt den Band eine überaus ausführliche Nachbemerkung der Herausgeberin, die alle Einzelheiten des selbst historischen Kontextes freilegt, in dem Kracauers historisches Schaffen stand. Ein eigenes Inhaltsverzeichnis allerdings wäre hier hilfreich gewesen für diesen fast zweihundertseitigen Text, den man gleichsam als eigene Monografie lesen kann. Und um bei der Kritik zu bleiben: Statt der ebenfalls umfänglichen, nach Seiten- und Zeilenzahlen des Referenztextes sortierten Anmerkungen wäre vielleicht ein alphabetisch geordneter Anmerkungsapparat praktischer gewesen. Doch das sind natürlich nur Kleinigkeiten, die die durchaus enorm zu nennende Leistung der Herausgeberin, der Sabine Biehl zur Seite stand, keineswegs schmälert.

Titelbild

Siegfried Kracauer: Geschichte - Vor den letzten Dingen. Band 4.
Herausgegeben von Ingrid Belke.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
645 Seiten, 54,00 EUR.
ISBN-13: 9783518583449

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