Zwischen Nüchternheit und Schamlosigkeit

Sieben Erzählungen von Alissa Walser

Von Christina LangnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Langner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kein Buch zum Verlieben, aber ein Buch, das eine ungewöhnliche Anziehungskraft in sich birgt. Von jeder einzelnen der insgesamt sieben Kurzgeschichten des Erzählbandes "Die kleinere Hälfte der Welt" von Alissa Walser geht eine immense Faszination aus.

Wie schon in ihrem Debüt "Dies ist nicht meine ganze Geschichte" von 1994 stellt die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin eine scharfzüngige Ich-Erzählerin ins Zentrum aller Erzählungen. Mit eisigem Blick auf die Dinge des Lebens, zwischen Lüsternheit und Gleichgültigkeit, zerlegt sie die Facetten der Liebe.

Immer wieder geht es um Sex, um Lust, um Gewalt, um Betrug und Selbstbetrug. Auch um Liebe, vielmehr den Schmerz darüber, dass die Liebe sich nicht einstellen will.

In der Titelgeschichte des kaum 100 Seiten umfassenden Bandes schildert die Ich-Erzählerin ihrer Mutter, wie sie vor einigen Jahren an einem Sommerabend ihre Unschuld verloren hat: "Ich bin sie gern losgeworden. Ich konnte es kaum erwarten. Endlich weg mit dieser Schwachstelle, die mich von Frauen unterschied, diese Stelle, die mich zum Tier vor der Schlachtbank machte". So legt sie der Mutter ihre Eindrücke über ihre ersten sexuellen Erfahrungen dar. Der Bericht schockiert, erinnert seine Form doch eher an eine Polemik als an die Schilderung tiefer emotionaler Empfindungen, die ein solch wichtiger Moment im Leben eines Menschen erwarten lässt. Die nüchterne Sprache, die die Ich-Erzählerin gebraucht, beweist ihre Gefühlsarmut. Dass sie ihr erstes Mal mit dem damaligen Liebhaber der Mutter erlebt hat, erwähnt sie beiläufig und zeigt dabei keinerlei Anzeichen von Schuldgefühlen. Diese Kälte wirkt wie ein tiefer Stich, den sie ihrer Mutter unbedingt versetzen möchte. Schließlich war sie es ja, die mit dem Betrügen angefangen hat, indem sie sich einen Liebhaber genommen hat.

Den Geschlechtsakt schildert die Ich-Erzählerin detailliert. Die Nüchternheit der Sprache ist auch hier so ausgeprägt, dass es einem eiskalt den Rücken runter läuft. In dieser, wie in allen anderen Erzählungen, wagt sich die Autorin weit vor in der Verwendung einer abstrusen, aber gleichwohl genialen Metaphorik: "Das Maschinchen sprang an", so fasst die Ich-Erzählerin der Titelgeschichte den Moment der Erektion ihres Liebhabers in ein Bild, ein Bild, das zugleich erheitert und - da es jeglicher Romantik entbehrt - entsetzt. Die kurzen, in amerikanischem Englisch geäußerten Bemerkungen ihres Liebhabers reduzieren die gesamte Situation zum bloßen Geschlechtsakt und legen ihr eine kalte, schmutzig-obszöne Atmosphäre auf. Wirkliche Lust und Begierde kommen nicht auf, von Liebe ganz zu schweigen.

Die Abgeklärtheit, mit der die damals 14jährige die Welt betrachtet, erschüttert. Schonungslos realistisch und illusionslos schildert sie die Geschehnisse. Der Leser ist wie vor den Kopf gestoßen von der eisigen ja frostigen Sprache, mit der Alissa Walser diese, wie auch ihre anderen Ich-Erzählerinnen ausstattet. Die Sprache ist anti-sentimental, von einer erbarmungslos harten Ungerührtheit, fernab jeglicher moralischer Betrachtungsweise. Kopfschüttelnd wird der Leser vor dem Büchlein sitzen, hat er es doch kaum für vorstellbar gehalten, dass es möglich sei, derart außermoralisch zu erzählen. Aber gerade diese außermoralische Betrachtungsweise ermöglicht es, Spuren jeder einzelnen Erzählung ihre im Gedächtnis des Lesers zu hinterlassen.

"Die Lust der Gans beim Gestopftwerden" erzählt von der Vergewaltigung eines jungen Mädchens, das per Anhalter unterwegs ist. Das aussagekräftige Bild des Titels hätte besser nicht gewählt werden können. Schamlos prägnant gibt schon der Titel einen deutlichen Hinweis auf den Inhalt der Erzählung.

So wie dieses vergewaltigte Mädchen befinden sich die Protagonisten aller sieben Kurzgeschichten auf irgendeine Weise in der Opferrolle. Und so wie dieses Mädchen ihrer Rolle als Vergewaltigungsopfer eine seltsame Lust abgewinnen kann, so fühlen sich auch die Protagonisten der anderen Erzählungen auf eine bizarre Art wohl in ihrem unterdrückten Dasein. Sie beschwören die Bedrohung geradezu herauf, suchen das Unglück, suchen das Leid. Mit Stolz tragen sie das ihnen vom Schicksal auferlegte schwere Los. Sie leben in einer Welt, die tiefe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit als Reaktion erwarten lässt, doch was sich dem Leser präsentiert, ist die nahezu teilnahmslose Hinname, das sich Abfinden mit den Gegebenheiten.

Alissa Walser stellt hohe Ansprüche an ihre Leser. Die Lektüre ihrer Erzählungen erfordert höchste Aufmerksamkeit, finden sich doch vor allem in den unbedeutsam erscheinenden Sätzen die wichtigen Inhalte. Die Autorin liebt das Verwirrspiel mit dem Leser. Gekonnt reiht sie Metapher an Metapher und ist dabei so unberechenbar, dass der Leser sich kaum getraut, die Metaphern richtig auszulegen, da sie an bestürzender Grausamkeit kaum noch zu übertreffen sind. So lässt die junge Protagonistin in der Geschichte "Ein Auto, ein Lastwagen, eine Schildkröte" der Ehefrau ihres Geliebten " ein zugeschweißtes Plastiksäckchen mit weichem Inhalt" überbringen. Der Leser ahnt den grausamen Inhalt des Päckchens, doch diese Ahnung ist so schockierend, dass er sie gleich wieder verwerfen wird, um sie wenig später dann doch wieder zu denken. Walser endet die Erzählung ohne den Leser in seiner Vermutung zu bestätigen, es sei denn, er interpretiert das nicht Widerlegen als Bestätigung.

Titelbild

Alissa Walser: Die kleinere Hälfte der Welt.
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2000.
160 Seiten, 13,30 EUR.
ISBN-10: 349807346X

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