Die Schotten als vernunft- und gefühlsbegabte Wesen

Der letzte Roman von Robert Louis Stevenson erscheint nun endlich auf Deutsch

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Und wie sie da so stand, etwas nach vorn geneigt, die Lippen geöffnet, ein göttlicher Schauer in den Augen, hätte ich ihr applaudieren und als Tochter der Lüfte zujubeln können. Wie ich darauf kam, weiß ich nicht: vielleicht weil Donnerstag und ich frisch rasiert war.“ Schnell hat sich Champdivers in Flora verliebt. Schafft es, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Gewinnt ihr Herz. Dabei sind es nicht gerade günstige Umstände: Er sitzt als Kriegsgefangener in der Festung von Edinburgh, und Flora kommt mit ihrer Tante nur ab und zu ins Lager, um, wie viele andere, den Gefangenen etwas abzukaufen. Glücklicherweise kann er, der eigentlich von adliger Herkunft ist und Anne Kéroual de Saint-Yves heißt (und sich in England später St. Ives nennt), Englisch und daher mit ihr reden.

Aber dann fliehen die Gefangenen: St. Ives versteckt sich bei Flora, wird von der Tante entdeckt, bekommt aber Hilfe, wandert mit zwei Schäfern Richtung englische Grenze, erschlägt einen Mann (in der Festung hat er in einem Duell schon einen Soldaten, der Flora beleidigt hatte, mit einer Schere erstochen). Er kommt zu seinem reichen Erbonkel, kämpft gegen seinen Cousin, muss zurück nach Edinburgh zu seiner Angebeteten, macht eine Ballonfahrt, fährt auf einem angeblichen Freibeuterschiff und ist in Paris, als der Kaiser abdankt. 465 Seiten Abenteuer, wie sie die barocken Romane liebten, mit unendlichen Verwicklungen, bis schließlich die Geliebten vereint sind.

Robert Louis Stevenson war berühmt für solche Abenteuerromane, „Die Schatzinsel“ wird noch heute verschlungen. Aber er war auch, und das fällt oft gar nicht so auf, ein moderner Autor: Mit den Worten „Schließlich hatte ich das Pech, im Mai 1813 in die Hände des Feindes zu fallen“, fängt der Roman „St. Ives“ an. Wieso schließlich? Denn was davor war, wird nicht erzählt. Nur, dass der Ich-Erzähler ein Spion gewesen ist, ebenso wie sein Cousin. In wechselnden Identitäten (wie sein berühmterer „Dr. Jekyll und Mr. Hyde“), als Kéroual de Saint-Yves, Champdivers, St. Ives oder Mr. Ducie reist er durch feindliches Land. Betrügt alle, denen er begegnet, mit ausgeklügelten Tricks wie ein begnadeter Hochstapler, selbst seine Liebe geht er zielstrebig und planvoll an. Mit Frechheit und Glück zieht er durch das Land wie Felix Krull.

Stevenson erzählt diese wirklich hochspannende Geschichte mit einem ironischen Augenzwinkern, genießt die Kolportage ebenso wie die Situationskomik in vielen Episoden wie dem Versteck im Hühnerstall oder dem Club der Six-Feet-High-Säufer. Dass die Engländer als höchst seltsames Volk und nur die Schotten als vernunft- und gefühlsbegabte Wesen dargestellt werden, darf man dem Schotten Stevenson nicht verübeln, der sich mit diesem letzten Roman von Samoa aus noch einmal in seine Heimat träumte. Zwar hinterließ der Frühverstorbene ihn unvollendet, aber die letzten sechs Kapitel wurden von Arthur Quiller-Couch nach dem erhaltenen Plan vollendet, ohne stilistischen Bruch. Seltsamerweise wurde der Roman erst jetzt zum ersten Mal übersetzt. Aber das ist auch ein Glück: So kann man diese überbordende Fantasie und stilistische Vielfalt und Sicherheit neu entdecken.

Titelbild

Andreas Nohl (Hg.) / Robert Louis Stevenson: St. Ives. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Andreas Nohl.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
520 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-13: 9783446236479

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