Von Neuronen und Reimen

Raoul Schrott und Arthur Jacobs erklären in ihrem Buch „Gehirn und Gedicht“, wie wir unsere Wirklichkeit konstruieren

Von Patrick MenselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Mensel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was sich im Gehirn im Einzelnen abspielt, wenn uns einige Reime einfach nicht mehr aus dem Kopf wollen und uns unser Leben lang begleiten oder wenn eine Metapher so gut gelungen ist, dass sie mit ihrer klärenden Einfachheit wie ein Geistesblitz einschlägt, das war bis vor wenigen Jahrzehnten noch ein weites Feld der Spekulation und der ungefähren Ahnung. Raoul Schrott und Arthur Jacobs über 500 Seiten starkes Buch „Gehirn und Gedicht“ will Licht in diesen Bereich bringen und anstelle der Spekulationen den Hirn-Scan treten lassen. Dieses Vorhaben mag bei einigen sicherlich auf Ablehnung oder doch zumindest auf gehörige Skepsis stoßen. Der Vorwurf der schamlosen Neurologisierung und trivialen Vereinfachung der Kunst steht im Raum, bei der alle Vorgänge durch eingeteilte Hirnaktivierungen und feuernde Neuronen sauber erklärt und entmystifiziert werden. Viele fürchten, dass da kein Raum mehr für den Zauber der Kunst bleibt, der einem simplen Hirn-Scan zum Opfer fällt und durch neurologische Prozesse zu einem einfachen Zusammenspiel von Gehirnzellen degradiert wird, getreu dem Galilei’schen Motto: Messen, was messbar ist! Und was nicht messbar ist, messbar machen! Sind diese Vorurteile haltbar oder völlig aus der Luft gegriffen?

Die Antwort liegt – wie üblich – in der goldenen Mitte. Sowohl Skeptiker als auch streng neurologisch orientierte Leser werden sich in ihrer Meinung bestärkt sehen. Ein schönes Beispiel dazu liefert das gelungene Kapitel „Rhythmik und Metrum“. Probanden unterschiedlicher kultureller Hintergründe wurden die Musikstücke „Take Five“ und „Blue Rondo A La Turk“ der beiden bekannten Jazz-Musiker Paul Desmond und Dave Brubeck vorgespielt. Grund für die Auswahl dieser beiden Musikstücke waren ihre Taktarten, nämlich 5/4 und 9/8. Es sollte untersucht werden, ob das rhythmische Gefühl des Menschen angeboren und unveränderlich ist oder durch die Kultur geprägt wird. Das Ergebnis der Studie zeigte, dass das Rhythmusgefühl eines Neugeborenen hohe Flexibilität aufweist und sich erst im Laufe der Jahre an eine feste Taktstruktur gewöhnt. Diese Struktur ergibt sich natürlich aus der Summe der gängigen Musikstücke und wird in den Jahren so fest im Gehirn verankert, dass letzten Endes nur derjenigen Musik der Vorzug gegeben wird, die in gewohnten Taktarten wahrgenommen wird. An dieser Stelle wird die Bedeutung der kulturellen Umwelt besonders deutlich. Auf Basis des neurologischen Fundaments folgt das Gehirn der Kunst und nicht umgekehrt. Der Ausspruch, dass das Leben die Kunst imitiert, bekommt hier eine ganz neue Dimension.

Lyrisch Interessierte werden das Werk schnell zu schätzen wissen. Ein Vers ist mehr als nur Sprache. Er ist auch Musik und Bild und trägt unserer Wahrnehmung besser Rechnung als andere Denk- und Sprachformen. Für Schrott ist das ABC der Poesie unumstößlich, geht von diesem doch ein existentielles Erkenntnispotential aus. Dies in Einklang mit wissenschaftlichen Prinzipien zu bringen, ist ein Unterfangen, das leicht zu scheitern droht. Doch die Autoren schaffen es ihren recht ausufernden Forschungsgegenstand trotz aller Gegensätzlich- und Schwierigkeiten, gemeinsam zu bearbeiten. Herausgekommen ist ein manchmal enzyklopädisch anmutender Rundumschlag, der Musik, Laut und Malerei, Metaphorik, Lesen und Schrift, Denkbewegungen und sogar visuelle Wahrnehmung, unter besonderer Berücksichtigung der Ars Memoriae, behandelt.

Ein Nachteil des Buches ist seine Weitschweifigkeit. An einigen Stellen werden die Ausführungen zu abstrakt und breit gehalten. Das interessante Autorengespann – Jacobs, der Neurologe, und Schrott, der Lyriker, – hat manchmal seine Probleme zu harmonieren. So viele Möglichkeiten solch ein von Grund auf unterschiedliches Autorenduo bietet, so viele Probleme kann es bereiten. Manchmal schreiben sie schlicht und einfach aneinander vorbei, sodass der Kern der Angelegenheit allzu sehr aus dem Fokus gerät. Aber von diesen gelegentlichen Ungereimtheiten sollte sich der Leser nicht die Freude an dem Buch nehmen lassen. „Gehirn und Gedicht“ ist ein interessanter Beitrag zur Poetik. Dass die Neurologie die Lyrik entdeckt, war nur eine Frage der Zeit, und der Zugewinn, den sie zu leisten imstande ist, wird die Poetik überaus bereichern. Manch einer sollte seine Vorbehalte und Schwarz-Weiß-Muster hinsichtlich der neurologischen Wissenschaft ruhen lassen. Das Buch versucht die Ästhetik in unserer Wahrnehmung zu verorten und fördert dabei einige interessante Zusammenhänge zu Tage. Es ist eine Erklärung für etwas, das wir bereits alle kennen und unzählige Male erlebt haben. Die Poetik hat also schon immer intuitiv alles richtig gemacht und die Neurologie gibt ihr nun unwiderruflich Recht. Diese Bestätigung jahrhunderte- und gar jahrtausendealten Wissens durch moderne neurologische Studien zeigt über unsere heutige Zeit vor allem eins: Nur, was die Wissenschaft schwarz auf weiß bewiesen hat, kann man getrost zu Reimen machen.

Titelbild

Raoul Schrott / Arthur Jacobs: Gehirn und Gedicht. Wie wir unsere Wirklichkeiten konstruieren.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
520 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783446236561

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