Wie finde ich meine Berufung?

Warum es immer noch besser ist, Max Weber zu lesen als Tarot-Karten zu legen

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

„Was ich einmal werden möchte?“

Sein eigenes Geld verdient der studierte Germanist Ole Könnecke als Illustrator und Autor von Kinderbüchern, vor allem den recht populären über seinen kleinen Helden „Anton“. Und nicht nur vermutlich reichlich Geld verdient er damit, auch die bisherigen Preise für seine Arbeiten lassen sich sehen: zweimal Kinderbuchpreis des Landes Nordrhein-Westfalen, Max-und-Moritz-Preis, Deutscher Jugendliteraturpreis. Die Altersangabe für jenes Buch, mit dem ich diese frühherbstlichen Nachdenklichkeiten beginnen möchte, lautet „Ab 6 Jahre.“ Bei der Berliner „Elefanten Press“ erschien 1996 ein Buch, das sich bis heute erstaunlicher Beliebtheit bei Kindern wie Erwachsenen erfreut: Es geht um „Vierundvierzig Arten, sein Geld zu verdienen“ und nennt sich im Untertitel „Eine Berufsberatung“.

Es beginnt mit Maler, Gehirnchirurg und Elvis-Imitator und endet mit Fremdenführer, Abbruchunternehmer und Möbelpacker. Mit Kindern durch dieses Buch zu blättern und sich dabei die teilweise wirklich erheiternden Bilder anzusehen, macht Freude. Manche Berufe müssen erklärt werden (Trapper, Verhaltensforscher, Psychiater, Kammerjäger), einige sind wohlbekannt (Maler, Tierpfleger, Gärtner, Klempner, Tischler), andere müssen als Spaß entlarvt werden (oder kann man doch als Held oder als Presslufthammertester sein Geld „verdienen“?)

Geht es bei Ole Könnecke allein um die Frage, auf welche Art man sein Geld verdienen kann, so nähern sich die Deutsche Bahn AG und der Ravensburger Buchverlag der Angelegenheit ganz aktuell viel seriöser an: Es geht nicht nur ums schnöde Bare, es stellt sich die ernste Frage: „Was ich einmal werden möchte.“ Das derzeitige Heft von „LeseLok“, das die Deutsche Bahn AG seit 2009 mit einer Auflage von ca. 250.000 Exemplaren von den Zugbegleitern in den Fernzügen verteilen lässt, und das sich an sechs- bis zehnjährige Kinder richtet, die sich mit Kurzgeschichten, Auszügen aus Kinderromanen, Sachwissen und Mitmachangeboten die Bahnfahrt unterhaltsam gestalten wollen, beginnt mit der Frage: „Wozu braucht man einen Beruf?“

Nach dem Interview mit Bahn-Chef Dr. Rüdiger Grube – „Wie wird man Chef der Deutschen Bahn, und was macht man da?“ – folgt ein doppelseitiges Bild über „Berufe bei der Deutschen Bahn“, von „Mitarbeiter Service Point“ bis „Fahrdienstleiter“. Es schließt sich eine Übersicht von „Klassischen Berufen“ (Bauer, Hirte, Jäger, Fischer…) und (angeblich) „Modernen Berufen“ (Maler, Bauarbeiter, Ärztin, Kellner…) an. Und danach sollen die lesenden Kinder sich Gedanken darüber machen, wofür sie „besondere Talente oder eine Leidenschaft“ haben und was man später einmal damit „werden kann“. Wer die Aussage „Ich liebe Bücher“ bejaht, wird demnach Autor oder Buchhändler, wer zustimmt bei „Ich mag Tiere“, wird Tierforscher oder Tierarzt, bei „Ich male gerne“ wird man Comiczeichner.

Und warum das alles? Die Antwort darauf ist nicht weniger ernst als die ursprüngliche Frage: „Menschen verdienen mit ihrer Arbeit Geld, um sich und ihre Familie zu ernähren. Bei der Arbeit kann man Kontakte zu anderen Menschen knüpfen und sich bei guter Leistung über Lob freuen. Dein Beruf sollte Dir Spaß machen. Um den richtigen zu finden, solltest Du Dich fragen, was Du gut kannst und was Du gern machst.“

Schon unseren Kleinen wird also überaus nachdrücklich vermittelt, dass es gilt, den „richtigen“ Beruf zu finden. Brisant wird die ganze Sache zumeist dann, wenn junge Menschen, die gerade ihr Abitur – und wer macht das eigentlich immer noch nicht? – gemacht haben, nicht wissen, was sie danach machen wollen. Es lohnt sich, beispielsweise die Lyrik des einschlägigen Förderprogramms „Studienkompass“ zu studieren: „Jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, sich seinen individuellen Potenzialen entsprechend optimal zu entwickeln. Was für den Einzelnen persönliche Entfaltung bedeutet, ist zugleich die Grundlage unseres gesellschaftlichen Fortschritts. In allen Bereichen der Wirtschaft und Gesellschaft sind gut ausgebildete Menschen gefragt. Vor allem braucht dieses Land deutlich mehr qualifizierte Hochschulabsolventen, die Deutschland mit Weitblick, globalem Verantwortungsbewusstsein und Innovationskraft in die Zukunft führen. […] Durch die Förderung des STUDIENKOMPASS sollen deutlich mehr Schüler, die Studierfähigkeit zeigen, dazu motiviert werden, ein ihren Begabungen entsprechendes Studium aufzunehmen. Besonders ermutigt werden dabei diejenigen, die ohne einen Impuls von außen ein Studium nicht in Betracht ziehen. Denn: Viele junge Menschen, in deren Umfeld kaum jemand studiert oder studiert hat, ziehen ein Studium gar nicht erst in Betracht, obwohl sie das Potenzial hierfür mitbringen, und obwohl junge Menschen engagiert sind und sich über ihre berufliche Zukunft Gedanken machen, ist die Frage der Studienwahl häufig besonders schwierig.“

Es soll an dieser Stelle in keiner Weise diese Initiative der drei beteiligten Stiftungen – Accenture-Stiftung, Deutsche Bank Stiftung, Stiftung der Deutschen Wirtschaft – kritisiert werden, sondern allein der Frage nachgegangen werden, wieso es in unserer Gesellschaft eine derartige Selbstverständlichkeit geworden zu sein scheint, dass jeder Mensch – ob 6 Jahre alt oder 18 oder noch viel älter – sich seinen individuellen „Potenzialen“ entsprechend optimal zu entwickeln und persönlich zu entfalten hat.

Beruf oder Berufung?

„Und was machen Sie beruflich?“ Lernt man eine fremde Person kennen, ist diese Frage eine der ersten, die gestellt wird. Nicht die Freizeitbeschäftigung, der Familienstand, die religiöse Orientierung oder das Lieblingsbuch sind es, was zu Beginn des Kennenlernens erfragt wird, nein, es gilt herauszufinden, welchem Beruf das Gegenüber nachgeht. Das hilft uns dabei, den anderen einzuordnen, schließlich gehen in Verbindung mit dem Beruf gewisse Identitätserwartungen einher. Schon diese Alltagsbeobachtung zeugt von der Wichtigkeit, die der Beruf heute für uns einnimmt. Der Großteil der Menschen sieht in ihm mehr als nur eine Begleiterscheinung des Lebens, durch die man „sein Geld“ verdient, sondern die Lebensaufgabe schlechthin, der mit vollem Einsatz nachgegangen werden soll.

Der Gedanke, im Beruf mehr als bloßes Geldverdienen zu sehen, sondern als Beruf, der zur „Berufung“ geworden ist, geht Max Weber zufolge auf den „asketischen Protestantismus“ zurück. In seinen Aufsätzen über „Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ von 1904/1920 zeigt Weber, wie es allmählich dazu gekommen ist, dass Menschen im „Erwerben“ den Zweck ihres Lebens sehen. Das Aufkommen der so genannten „Berufspflicht“ brachte uns dazu, den Beruf gewissenhaft auszuüben und ihm zugleich eine immense Bedeutung zuzuschreiben. Nach Webers famoser These trug eben diese Grundeinstellung in weiterer Folge zur Entstehung des „modernen, rationalen Betriebskapitalismus“ bei.

Auch wenn diese These bis heute umstritten ist, und Webers einschlägigen Arbeiten erhebliche methodische und logisch-argumentative Schwächen nachgewiesen werden konnten – wie das zuletzt der verstorbene Kollege Heinz Steinert so überzeugend getan hatte – erfreut sich seine Idee nach wie vor großer Popularität. Ein Grund dafür, neben vielen anderen, liegt darin, dass damit Themen angesprochen werden, die uns zu Beginn des 21. Jahrhunderts unverändert beschäftigen. Eines dieser Themen ist unsere Einstellung zu Arbeit und Beruf. Es ist nicht auszuschließen, dass so manch einer, der sein Lebensglück von seiner Berufstätigkeit abhängig macht, beim Lesen der Weber’schen Passagen eine Art von Erweckungserlebnis hat, wenn Weber aufzeigt, dass diese Berufseinstellung keine Universalie der Menschheitsgeschichte ist, sondern sich erst im Zuge der Reformation in unserem Kulturkreis herausbildete.

Anknüpfend an die Anfangsüberlegungen von Ole Könnecke, der „LeseLok“ und dem „Studienkompass“ soll der Frage nachgegangen werden, was heute aus dieser Idee, den eigenen Beruf als „Berufung“ wahrzunehmen, geworden ist. Wer fühlt sich heute noch zu einem bestimmten Beruf „berufen“? Bestimmte Berufsgruppen oder Personen aus bestimmten Milieus? Was hat die heutige Idee der Berufung noch mit jenen Überzeugungen zur Zeit Martin Luthers und Johannes Calvins zu tun?

Zur Beantwortung dieser Fragen erscheint es als anregend, ein wenig der aktuellen Ratgeberliteratur zum Thema „Berufung“ nachzugehen. Bevor wir uns jedoch damit auseinandersetzen, seien einige knappe Bemerkungen vorangestellt, was Max Weber über das Verständnis von „Berufung“ bei Luther und Calvin beziehungsweise den Puritanern vor mehr als hundert Jahren geschrieben hat.

Der Protestantismus und die Idee der Berufung

Im Kapitel seiner Untersuchungen der Kulturbedeutung der Protestantischen Ethik auf den Geist des Kapitalismus, das mit der Überschrift „Luthers Berufskonzeption. Aufgabe der Untersuchung“ versehen ist, stellt Max Weber die These auf, dass Beruf als „Gedanke neu und ein Produkt der Reformation“ sei. Auch wenn weltliche Arbeit generell früher schon geschätzt worden sei, so wird sie nun emporgehoben zum allerhöchsten sittlichen Gut. Folgt man seiner „Berufung“, übt man fleißig seinen Beruf aus, so bedeute dies gleichzeitig, ein gottgefälliges Leben zu führen. Damit kam es zu einer enormen Aufwertung der weltlichen Arbeit gegenüber der mönchischen Lebensweise.

Weber analysiert Luthers Berufskonzept und kommt zum Schluss, dass dieser eine traditionalistische Auffassung von „Beruf“ vertritt. Martin Luther gehe davon aus, dass jeder Mensch von Gott in einen bestimmten Beruf geschickt werde. Der Mensch habe diesen Beruf dann hinzunehmen, ohne sich zu überlegen, den Beruf möglicherweise früher oder später zu wechseln, die Art des Berufes sei dabei einerlei. Nach Weber sei damit ein neues Menschenbild entstanden, welches den Menschen stärker in seiner Individualität erfasst. Die Berufung erfolgt unmittelbar von Gott an das Individuum, ohne die Institution der Kirche als Mittelinstanz. Das Finden der Berufung und damit der Weg zu Gott werden zur höchst persönlichen Angelegenheit und Pflicht zugleich.

Weber räumt selbst ein, dass die traditionalistische Konzeption von „Beruf“ beim Reformator Luther nicht ausschlaggebend für das Entstehen des Kapitalismus sein konnte und setzt seine Spurensuche bei Calvin und den puritanischen Strömungen fort. Arbeit ist hier einerseits „das alterprobte asketische Mittel“, andererseits „von Gott vorgeschriebener Selbstzweck des Lebens“. Für jeden Menschen sieht Gott einen gewissen Beruf vor, „den er erkennen und in dem er arbeiten soll, und dieser Beruf ist nicht wie im Luthertum eine Schickung, in die man sich zu fügen und mit der man sich zu bescheiden hat, sondern ein Befehl Gottes an den einzelnen, zu seiner Ehre zu wirken“. Prinzipiell gilt, dass es bei der Arbeit nicht um irgendeine „Tagelöhner“-Arbeit geht, sondern um die Ausübung eines festen Berufs nach methodisch rationalen Prinzipien.

Während Luther meint, jeder Mensch sollte in seinem Beruf verharren, ist der Berufswechsel für die Puritaner eine akzeptable Sache, „wenn er nicht leichtfertig, sondern um einen Gott wohlgefälligeren und das heißt dem allgemeinen Prinzip entsprechend: nützlicheren Beruf zu ergreifen erfolgt“. Das heißt, wenn der Beruf, in den man wechselt, mehr Profit verspricht, ist der Berufswechsel erlaubt und sogar geboten. Schließlich trägt man so zur Mehrung von Gottes Ruhm bei. Zum Verständnis des Weber’schen Arguments ist es notwendig zu erwähnen, dass dabei der Gedanke der „Gnadenwahl“ eine tragende Rolle spielte. Nach Weber gingen Calvinisten und Puritaner davon aus, dass Gott allein über Gnade entscheidet und die Gnadenwahl von den Menschen selbst nicht beeinflusst werden könne. Um sich der Unsicherheit, ob man denn nun auserwählt sei oder nicht, zu entledigen, klammerte man sich an die Vorstellung, dass Erfolg – nicht zuletzt: materieller Erfolg – ein Indikator dafür sei, zu den glücklichen Auserwählten zu zählen. Übte man seinen „Beruf“ als göttliche „Berufung“ aus und lebte zudem asketisch und bescheiden, war dies der beste Weg, um sich der göttlichen Gnade einigermaßen sicher zu sein.

Verkürzt sei darauf hingewiesen, dass diese Einstellung des Kapitaleigners Weber zufolge den aufkeimenden Kapitalismus auch noch in anderer Weise unterstützte. Auch der „moderne Arbeiter“, so Weber, sieht seine Arbeit als „Berufung“ an, auch wenn die „religiöse Fundamentierung“ verschwunden ist oder nie sonderlich vorhanden war. In diesem Zusammenhang schreibt er den bis heute viel zitierten Satz: „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein, wir müssen es sein.“ Auch wenn diese Worte poetisch anmuten, stellt sich die Frage, inwiefern diese Aussage auf die heutigen „Berufsmenschen“ tatsächlich (noch?) zutrifft. Oder – noch etwas eingegrenzter – inwiefern fühlt man sich noch „berufen“ und wofür steht die Idee der Berufung heute überhaupt?

Berufung heute

Wer die Frage beantworten möchte, wie es um das Konzept der „Berufung“ heute bestellt ist, gerät ins Nachdenken über folgende Komplexe:

Wer wird berufen? Stellt die Berufung ein universales Konzept dar oder richtet sie sich nur an spezifische Berufsgruppen bzw. Personen aus bestimmten Milieus?

Was passiert, wenn man seiner Berufung folgt? Folgte man früher seiner Berufung, so gelangte man – laut Weber – indirekt zu Reichtum und konnte sich der göttlichen Gnade sicher sein. Was geschieht heute, wenn man seiner Berufung folgt? Beruflicher Erfolg, privates Glück oder vielleicht noch immer religiöse Lorbeeren?

Berufung und Berufswechsel: Die Einstellung zum Berufswechsel ist – nach Weber – eine der wesentlichen Differenzen zwischen Luther und Calvin. Heute ist der Berufswechsel nichts Ungewöhnliches mehr, mitunter sogar obligatorischer Teil der Normalbiografie. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, welche Rolle die Idee der Berufung einnimmt, wenn Personen mehrmals in ihrem Leben den Beruf wechseln (könnten)? Lässt sich der Gedanke der einen Berufung mit Berufswechseln überhaupt vereinbaren?

Zur Beantwortung dieser und weiterer Fragen könnte man, den Regeln empirischer Sozialforschung folgend, Personen befragen, wobei deren Einstellung zum Thema „Berufung“ im Mittelpunkt stünde. Zur Illustration der festen Überzeugung, dass das Konzept der „Berufung“ heute möglicherweise noch stärkere Verbindlichkeit erlangt hat als zu Max Webers Zeiten, sei sich hier skizzenhaft ausgewählten Titeln der aktuellen Ratgeberliteratur zugewandt, welche sich explizit mit diesem Thema auseinandersetzen.

„Berufung“ in der Ratgeberliteratur

Die Webseite amazon.de besteht seit 1998 und zählt seither zu den bekanntesten Online-Versandbuchhändlern im deutschsprachigen Raum. Sämtliche angebotenen Bücher werden mit einer Kurzbeschreibung und teilweise Textauszügen vorgestellt. Für die hier herangezogene explorative empirische Untersuchung meiner Grazer Studentin Verena Köck erwies sich dies insofern als praktisch, als man sich einen raschen Überblick über die aktuelle Ratgeberliteratur zum Thema „Berufung“ verschaffen kann. Diese Kurzbeschreibungen – oder, wenn nicht vorhanden – die Klappentexte der jeweiligen Ratgeber stellten das zu untersuchende Datenmaterial dar.

Um zu den einschlägigen Büchern zu gelangen, wählte Verena Köck Mitte Juli 2011 als Suchbegriff wenig überraschend das Wort „Berufung“. Daraufhin erschienen 28.606 Treffer. Da es vor allem um Berufung im Sinne von „beruflicher Berufung“ geht, wurde die Rubrik „Business & Karriere“ gewählt. In Frage kamen also alle Bücher, die „Berufung“ bereits im Titel trugen oder bei denen es in der Kurzbeschreibung um das Thema „Berufung“ ging. Alle Bücher, die von Berufung in juristischem Verständnis oder von Berufung auf eine Professur handelten, wurden ausgeklammert. Nach einer ersten Durchsicht der verbleibenden mehr als 2.000 Bücher erwiesen sich 34 Bücher für die Mini-Untersuchung als besonders brauchbar. Sie sollen hier nicht weiter aufgeführt werden, jede Leserin und jeder Leser, der das hier liest, kann auch das unschwer selbst nachvollziehen.

Die analysierten Bücher lassen sich in drei große Gruppen einteilen: Erstens allgemeine Lebensratgeber, die oft einen esoterischen Hintergrund haben, zweitens psychologische Literatur und drittens Bücher, die sich aus einer konventionell religiösen Perspektive dem Thema „Berufung“ nähern. Trotz der unterschiedlichen Zugänge zeichnet sich in allen Büchern ein recht homogenes Bild des Berufungsgedankens ab.

Der gesellschaftliche Kontext, in dem die AutorInnen der herangezogenen Ratgeberliteratur das Phänomen „Berufung“ ansiedeln, wird von ihnen folgendermaßen beschrieben: Der Großteil der Menschen sei derzeit unzufrieden mit seiner beruflichen Situation, habe das Gefühl, nur ein kleines Rädchen im großen Getriebe zu sein, fühle sich von seiner Arbeit entfremdet und sehne sich nach einer sinnhaften beruflichen Tätigkeit. Die Hoffnung auf einen ‚erfüllenderen‘ Beruf hätten die meisten jedoch schon aufgegeben. Resignation überwiege gegenüber dem ursprünglichen Tatendrang, vor allem auch aufgrund der unsicheren wirtschaftlichen Lage und der drohenden Arbeitslosigkeit. Die Berufslaufbahn sei geprägt von Berufswechseln und teilweise auch Misserfolgen. Das Bild, das hier gezeichnet wird, wirkt eher pessimistisch. In diesem Sinne empfehlen die Ratgeber, diesen trostlosen Ist-Zustand zu verbessern – und zwar indem man seiner „wahren Berufung“ folgt!

Die ausschlaggebenden Umstände, die einen schließlich dazu bringen, sich „auf den Weg“ zu machen und seiner Berufung nachzugehen, liegen in einer beruflichen und auch privaten Unzufriedenheit. Manche AutorInnen gehen sogar so weit, von drohender Krankheit und „privaten Krisen“ zu sprechen, wenn man bisher nicht seiner Berufung entsprechend gelebt oder gearbeitet habe. Generell geht es um das Streben nach „mehr“: nach mehr Sinn, und darum, mehr als nur einen sicheren Arbeitsplatz oder ein gutes Gehalt zu haben.

Die Handlungsstrategien, die die AutorInnen anpreisen, lassen sich in drei Kategorien zusammenfassen. Erstens, das Finden der Berufung, zweitens, das Umgestalten seines derzeitigen Berufes in einen „Beruf mit Berufung“ und drittens das konkrete Umsetzen seiner Berufung. Aus der Analyse klar hervorgegangen ist, dass es nicht bloß darum gehe, seiner Berufung zu folgen. Das Hauptproblem liege im Finden der Berufung. Wie erkennt man seine Berufung? Wo findet man Hinweise darauf? Auf der Schwierigkeit, sich für einen Beruf, für eine Berufung entscheiden zu müssen, liegt der Schwerpunkt aller untersuchten Bücher. Die spirituellen, esoterischen Ratgeber schlagen hier Tarot-Beratung, spirituelles Berufscoaching, das Aufspüren von Hinweisen im Horoskop oder Ähnliches vor. So sollte es jedem Individuum ermöglicht werden, seine „wahre Berufung“ zu finden. Die eher psychologisch ausgerichteten Bücher raten, Erfahrungen, Wünsche, Kindheitsinteressen, Träume zu analysieren, um so über eine umfassende Selbstanalyse den Schlüssel zum „Geheimnis“ der persönlichen Berufung zu finden. Bei der zweiten Handlungsstrategie geht es nicht darum, sich seine Berufung zu suchen, sondern sich seinen derzeitigen Beruf zur Berufung zu machen und damit das Maximum an Zufriedenheit herauszuschlagen.

Kommt es schließlich zur Umsetzung der Berufung, stehen die Ratgeber mit praktischen Tipps zur Seite: Networking, gezieltes Zeitmanagement, berufliche Weiterentwicklung seien neben einer positiven Grundeinstellung vonnöten, um das Ziel zu erreichen. Als mögliche Hindernisse werden der „eigene innere Schweinehund“ und „äußere Hemmnisse“ genannt. Beides gilt es zu überwinden und kreativ und konstruktiv umzusetzen.

Hat man es endlich geschafft und seine Berufung zum Beruf gemacht, so stehen einem gute Zeiten bevor, prophezeien die Ratgeber: Die erste positive Konsequenz sei persönliches Glück. Bezogen auf den Beruf bedeutet es beruflichen Erfolg und durchaus auch finanzielle Honorierung – eben weil man nun völlig im Beruf aufgehe, arbeite man auch dementsprechend besser und werde dafür dementsprechend belohnt. Jedoch nicht nur im Berufsleben würde man profitieren, sondern auch generell komme es zur „Verwirklichung unserer Träume“, zu einem „erfüllteren Leben“, zu mehr „Vitalität, Energie, Schaffensglück“ und zu gesteigerter „Lebensqualität“. Darüber hinausgehend trage man auch zum Gemeinwohl bei, wie die Autoren meinen. Als dritte Konsequenz, vor allem die religiösen Ratgeber erwähnen sie, ist das Gefühl der Gottesnähe und spirituellen Verbundenheit zu nennen.

Wer (be)ruft? Nach Max Weber war die Berufung bei Luther und Calvin eine Sache zwischen Gott und Individuum. Nun ist, abgesehen von der Sichtweise einiger religiöser AutorInnen, nicht mehr Gott der Rufende, es sind unser inneres Selbst und unsere Seele, die uns den Auftrag geben, unserer Berufung nachzugehen. So heißt es etwa in einem Ratgeber: „Folge dem Ruf Deiner Seele!“ Es ist nicht mehr Gott, dem wir verpflichtet sind, sondern jeder einzelne Mensch scheint es sich selbst schuldig zu sein, seine Persönlichkeit zu entfalten.

Die Ratgeber nehmen mehrheitlich an, dass der Ursprung der Berufung in uns selbst liege und von jeglichen sozialen Einflüssen unberührt bleibt. So sprechen sie von „angeborenen Talenten“, „Fähigkeiten“, „Motivationen“, die ausschlaggebend für unsere Berufung seien. Interessanterweise wird in keinem der Ratgeber erwähnt, dass diese Fähigkeiten und Motivationen von unserem sozialen Umfeld geprägt sein könnten. Stets sind sie etwas höchst Individuelles, Persönliches, das die Einzigartigkeit jedes Individuums ausmacht.

Wer wird berufen? Generell gehen die Ratgeber davon aus, dass jeder einzelne Mensch zu irgendetwas berufen sei. Die Berufung wird damit als ein universales Konzept betrachtet, das jede Person ungeachtet ihrer gesellschaftlichen Stellung betrifft. Dabei kann sich die Art der Tätigkeit stark voneinander unterscheiden, es komme dabei nicht darauf an, ob man lieber gärtnert oder als Schauspieler auf der Bühne steht, jeder Beruf kann zugleich eine Berufung bedeuten. Doch Berufung bezieht sich nicht ausschließlich auf das Erwerbsleben, einige Ratgeber sprechen auch von der Berufung im Privaten oder auch von der Berufung im Alter.

Die bereits gestellte Frage, ob es bestimmte Berufsgruppen gibt, die sich besonders häufig als „Berufene“ fühlen, muss nach der Inhaltsanalyse meiner Studentin negativ beantwortet werden. Allerdings gibt es einzelne Ratgeber, die sich an ein spezifisches Zielpublikum wenden: Frauen, junge Menschen und deren Eltern, Heiler, Journalisten. Deutlich erkennbar ist, dass die Berufungsratgeber vor allem so genannte Berufsumsteiger und nicht etwa Berufseinsteiger ansprechen wollen. Diese Beobachtung stimmt auch mit der in den Ratgebern vertretenen Meinung überein, dass die Berufung erst allmählich im Laufe des Lebens gefunden wird. Demnach ist es nur logisch, dass sich die Berufungsratgeber an etwas Ältere richten, die im Erwerbsleben schon Fuß gehabt haben.

Die Berufung sei, wie schon erwähnt, etwas Natürliches, Ursprüngliches. Die Ratgeber postulieren, dass wir schon als Kinder unbewusst Dinge tun oder von Dingen träumen, die unserer Berufung entsprechen. Später allerdings würden wir im nüchternen Arbeitsalltag unserer Berufungs-Vision beraubt. Viele Jobwechsel werden von den Ratgebern als Bestandteil einer normalen Berufslaufbahn gesehen. Nun könnte man die Gleichzeitigkeit von „Berufung“ und den Jobwechseln als Widerspruch auffassen. Die Antwort der AutorInnen darauf ist jedoch, dass in jeder Person eine Berufung eingeschrieben sei, diese jedoch schlichtweg nicht erkannt werde und man so, in Verbindung mit ökonomischen Notwendigkeiten, beruflichen Irrwegen folge. Das Wissen über seine Berufung gilt es nun wiederzufinden, dabei helfen die Ratgeber gezielt mit punktuellen Übungen, Arbeitsaufgaben und psychologischen Fragen.

Die Kunst, seine Berufung zu finden

Wie bereits erwähnt, verbinden die Ratgeber „Berufung“ oft mit der Thematik der Berufungs- und Berufsfindung. Die These, die hier aufgestellt wird, lautet, dass dies im Zusammenhang mit einer allgemein herrschenden Unsicherheit bei der Berufswahl steht. Die Suche nach der „wahren Berufung“ wird zur unwiderruflichen Entscheidungshilfe bei der Berufswahl.

Das Gerede um die „Multioptionsgesellschaft“, in der uns losgelöst von traditionellen Vorgaben praktisch alle Wege offenstehen, ist nichts Neues, sondern fixer Bestandteil einiger soziologischer Gegenwartsdiagnosen. In diesem Kontext spricht man auch von einer gewissen Doppelgesichtigkeit der Entscheidungsvielfalt: Das Individuum erfährt einerseits neue Freiheiten, andererseits können diese Entscheidungsfreiheiten in Form von Entscheidungsdruck zurückschlagen. Da nun im Prinzip alles möglich wäre, ist man selbst dafür verantwortlich, wenn man nicht das Bestmögliche aus seinem Leben macht. Das Treffen falscher Entscheidungen bzw. vielmehr die Angst vor dem Treffen falscher Entscheidungen wird so charakteristisch für unser postmodernes Alltagsleben.

Vor diesem Hintergrund erscheint es als plausibel, dass sich der Großteil der Ratgeber auf das Thema der Berufungsfindung konzentriert. Explizit werden hier Personen angesprochen, die endlich finden wollen, was „wirklich“ zu ihnen passt, was ihrer „eigentlichen Berufung“ entspricht. Dass die Suche nach der wahren Berufung nicht immer schnell und einfach vonstattengehe und man zwischendurch „unpassenden“ Berufen nachgehe, sei den Ratgebern zufolge normal. Erst durch gezieltes Entstauben der Kindheitserinnerungen, astrologische Analysen oder Ähnliches käme zum Vorschein, was man wirklich wolle. Das Problem der meisten sei nämlich nicht die Umsetzung der Berufung, so die Ratgeber, sondern beginne schon damit, dass kaum jemand überhaupt sicher wisse, was er oder sie wolle bzw. was seine oder ihre Berufung sei.

Aus der skizzenhaften Untersuchung folgernd scheint es, als ob eine große Entscheidungsunsicherheit herrsche: Soll ich Pilotin oder doch lieber Museumswärterin werden? Wenn äußerlich kaum noch (formale) Schranken bestehen, die einen daran hindern würden, diesen oder jenen Beruf auszuüben, wenn die Entscheidungsvielfalt einen beinahe erdrückt, macht es vermutlich Hoffnung, auf so etwas wie die „innere Berufung“ vertrauen zu können. Weiß man erst einmal, wozu man berufen ist, hält man eine berufliche Orientierungskarte in der Hand und trifft gewisse Entscheidungen womöglich leichter. Schließlich ist die Berufung nichts, worüber sich diskutieren lässt, entspringt sie doch direkt dem „wahren, inneren Selbst“. Damit ist sie automatisch ein unfehlbarer Wegweiser.

Wirft man einen Blick auf die seriöse wissenschaftliche Literatur zum Thema Berufswahl wird zumeist zwischen „endogenen“ (internen, individuellen) und „exogenen“ (äußeren, gesellschaftlichen) Faktoren unterschieden, daneben spricht man auch noch von „situativen“ Faktoren der Berufswahl. Zu den endogenen Faktoren zählen somatische Voraussetzungen, wie körperliche und geistige Eignung, Neigung, Wahlreife, das Interesse, die Begabung und Ähnliches. Bei den exogenen Faktoren handelt es sich um gesellschaftliche Einflüsse, wie zum Beispiel durch die Familie, Institutionen, Peer-Groups. Als dritte Gruppe von Faktoren werden situative Faktoren genannt, unter die etwa die Beschäftigungssituation, regionale Gegebenheiten und Produktionsstrukturen fallen.

Legt man dieses Drei-Faktoren-Raster über die Ratgeber, kristallisiert sich Folgendes heraus: Die Berufung stellt in den Augen der Ratgeber einen endogenen Faktor der Berufswahl dar. Sie ist dabei ausschließlich positiv konnotiert und verspricht einen geglückten Berufsweg. Im Gegensatz dazu werden exogene und situative Faktoren eher als negativ wahrgenommen und sogar als Bedrohung für die Verwirklichung der eigentlichen Berufung gesehen. Allein das Folgen der Berufung verspricht einen erfüllten Beruf und in weiterer Folge ein erfülltes Leben. Wirft man einen Blick auf die weltwirtschaftlichen Entwicklungen der vergangenen Jahre, so überrascht dieses Ergebnis nicht. Man könnte argumentieren, dass in finanzwirtschaftlichen Krisenzeiten, in denen allgemein Unsicherheit herrscht, es sicherer erscheint, sich bei der Berufswahl auf seine „Berufung“ zu verlassen, als zum Beispiel auf situative Faktoren wie die Beschäftigungssituation, auf die man selbst ohnehin kaum Einfluss nehmen kann.

Die Ratgeber sind sich ausnahmslos darüber einig, dass jede Person zu irgendetwas berufen sei, dass das Konzept der Berufung also eine Universalie darstellt. Es geht nicht darum, darüber zu urteilen, ob dies wahr oder falsch ist, aber dennoch seien Zweifel darüber geäußert, ob diese Idee der Berufung wirklich für alle Menschen gleich relevant ist. Seiner Berufung zu leben, bedeutet, Erfüllung in seinem Beruf zu finden und generell geht es um mehr als „gutes“ Gehalt, um mehr als einen „sicheren“ Arbeitsplatz.

Es stellt sich dabei doch die ganz grundsätzliche Frage, wer es sich überhaupt leisten konnte und kann, nach mehr als einem guten (!) Gehalt und einem sicheren (!) Arbeitsplatz zu streben? Womöglich ergibt sich die Frage der Berufung überhaupt erst und ausschließlich für jene, die finanziell bereits abgesichert sind. Führt man diesen Gedanken weiter, müssen auch die vorangegangen Überlegungen zur Berufswahlunsicherheit relativiert werden. Wer kommt denn eigentlich in die Situation, in der die Berufswahl eine Entscheidung mit Optionen darstellt? Auch wenn heute im Gegensatz zu früher größere Entscheidungsspielräume gegeben sind, ist die Berufswahl keine Wahl mit unbeschränkten Möglichkeiten, zumindest nicht für jene, die schlecht ausgebildet sind oder aus existenziellen Notlagen heraus agieren. Ob die Idee der Berufung tatsächlich vor allem Personen, die sozioökonomisch bereits gut abgesichert sind, anspricht, kann im Rahmen dieser oberflächlichen Ratgeberanalyse nicht gesagt werden, wäre aber ein interessanter Anknüpfungspunkt für weiterführende empirische Untersuchungen.

Max Weber ist tot! Es lebe Max Weber!

Kehren wir zurück zu Max Webers Ausgangsfrage, inwieweit die Berufungsidee Luthers und Calvins noch derjenigen, die heute vorherrscht, entspricht. Was sicherlich gleich geblieben ist, ist der Gedanke von Berufung als Erfüllung, als Lebensaufgabe und als ein Gefühl der persönlichen Verpflichtung, seiner Berufung nachzukommen. Soweit aus Webers Abhandlung hervorgeht, war die Idee der Berufung zur Zeit Luthers und Calvins deshalb von Bedeutung, da sie den Einstellungswandel der Menschen gegenüber der Berufsarbeit abbildete. Plötzlich galt die Hingabe im Beruf nicht mehr als moralisch verwerflich, sondern sogar als erstrebenswert.

Heutzutage muss die Berufsarbeit an sich keine Aufwertung mehr erfahren, denn zumindest aus Sicht der Ratgeber-AutorInnen steht der Beruf ohnehin schon im Zentrum. Heute, so die These, stellt die Idee der Berufung eine Entscheidungshilfe bei der Berufswahl dar. Was sich dabei zeigt, ist, dass eine Idee – hier die Idee der Berufung – immer unter Berücksichtigung des jeweiligen gesellschaftlichen Kontexts betrachtet werden muss. Statt die Idee als Ding an sich zu betrachten, das zum Zeitpunkt x anders aussieht als zum Zeitpunkt y und daraufhin punktuelle Vergleiche zu ziehen, kann die Analyse der Idee „über die Idee hinausgehen“ und zu Einsichten über gesellschaftliche Prozesse und aktuelle Problemlagen führen. Dass dabei die kritische Lektüre der Texte Max Webers von größerer Hilfe sein kann als das Auflegen von Tarot-Karten, soll an dieser Stelle wenigstens behauptet werden.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zu Dirk Kaeslers monatlich erscheinenden „Abstimmungen mit der Welt“. (https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=13303)