Romantik und Volksgemeinschaft

Ralf Klausnitzers Studie zur literarhistorischen Erforschung der NS - Zeit

Von Ralf Georg CzaplaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ralf Georg Czapla

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wir deuten die nationalsozialistische Revolution als die Erhebung des deutschen Gemüts gegen die Willkür des kalten Intellekts. Ihr Sieg bedeutet den Triumph der Seele über alles Mechanische", schrieb Baldur von Schirach 1938 in seinem Buch "Revolution der Erziehung", rückblickend auf fünf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland. Was hier in begrifflichen Antithesen als Erlösung des Seelenvollen aus den Fesseln des Seelenlosen gefeiert wurde, entpuppte sich schnell als Kern eines Programms, das teleologisch auf den Bruch mit den rationalen, humanistischen und geistigen Traditionen der westlichen Zivilisation ausgerichtet war. Nicht nur im politischen und gesellschaftlichen Leben sollte affektives Erleben an die Stelle vernunftgeleiteter Reflexion treten; auch in Kunst und Wissenschaft wurde der Verstand gegen das Gefühl ausgespielt, erschien doch dem Reichsjugendführer und mit ihm der gesamten selbsternannten Elite der NSDAP ein "Arbeiterjunge, dessen Herz heiß für unsern Führer schlägt [...] für Deutschland wesentlicher als ein hochgebildeter Ästhet, der jede Regung seines schwächlichen Gefühls mit verstandesmäßigen Überlegungen bekämpft." So Baldur von Schirach in seiner programmatischen Schrift "Die Hitler-Jugend. Idee und Gestalt". Wie viele andere Elemente ihrer Ideologie ist auch der vehement vertretene Primat des Irrationalen keine genuine Erfindung der Nationalsozialisten. Bereits Thomas Mann hatte in seiner Radioansprache an die deutschen Hörer vom August 1941 die nationalsozialistische Weltanschauung als Perversion oder - in seinen Worten - als "virulente Entartungsform" einer deutschen, bis in die Romantik zurückzuverfolgenden Geisteshaltung ausgemacht. Was dort als Idee von Nation und Volkstum formuliert worden war, kehrte im Denken der Nationalsozialisten als Mythos von Blut und Boden wieder, in dem sich, befreit nun von der Fremdüberlagerung durch Humanismus und Christentum, das Sehnsüchtige und das Irrationale, das Phantastische und das Grenzenlose aufgehoben fanden.

Die Literaturwissenschaft ist der Frage nach der Rezeption der deutschen literarischen Romantik im Dritten Reich bislang nur sporadisch nachgegangen, obwohl gerade von regimekritischer Seite wiederholt auf das Vorhandensein romantischer Elemente in der Ideologie der konservativen Revolution und der völkischen Bewegung nach dem ersten Weltkrieg hingewiesen wurde. Diese Forschungslücke füllt nun Ralf Klausnitzer mit seiner ebenso umfangreichen wie beeindruckenden Studie, die wissenschafts- und kulturgeschichtlich den Bogen zu spannen sucht von der blauen Blume, dem Symbol der romantischen Poesie und ihrer auf das Unendliche gerichteten Sehnsucht, zum Hakenkreuz, dem heidnisch-germanischen Emblem des faschistischen Staates, auf das "voll Hoffnung Millionen" (Horst Wessel) schauten und das sie ins Verderben führte. Zwischen der Integration der deutschen Romantik in den Traditionskanon des Dritten Reiches und ihrer gegenstandsorientierten Erforschung, zwischen ihrer Verklärung als Höhepunkt der völkischen Bewegung und ihrer Verachtung als jüdisch überformte Intellektualität tat sich ein breites Spektrum von Aneignungs- und Vermittlungsformen auf, die von Klausnitzer erstmals in ihrer Komplexität und Widersprüchlichkeit dargestellt werden.

Die Studie gliedert sich in drei Teile, in denen verschiedene Facetten der nationalsozialistischen Romantik-Rezeption interdependent behandelt werden. Der erste Teil behandelt die literaturwissenschaftliche Erforschung der romantischen Literaturepoche durch die universitär institutionalisierte Germanistik einerseits sowie durch außeruniversitär wirkende, häufig aber an formelle Zirkel und Gruppen gebundenen Germanisten (z. B. den Klages-Kreis) andererseits. Der zweite Teil befasst sich mit der Aufnahme romantischer Theoreme (z. B. das "Organische" als Suggestion einer unmittelbar natürlichen und gewachsenen Ganzheit, die den als chaotisch beschriebenen, "gemachten" Diskontinuitäten der Moderne gegenübergestellt wurde) und Termini (z. B. Volkstum, Volksgemeinschaft) in weltanschaulich-ideologische und wissenschaftstheoretische Diskurse, wobei Konfliktfelder, die sich aus divergierenden Instrumentalisierungen der Romantik ergaben (z. B. die Kontroverse Othmar Spann - Alfred Rosenberg über die Grundlagen eines "organischen Staatsaufbau"), nicht ausgespart bleiben. Der dritte und letzte Teil der Arbeit gibt einen Überblick über die Muster und Formen der Vermittlung der deutschen literarischen Romantik im schulischen Deutschunterricht und in der kulturellen Öffentlichkeit.

Klausnitzers Arbeit besticht durch die sorgfältige Erschließung und Aufarbeitung bislang unveröffentlichten Quellenmaterials, die Klarheit der Gedankenführung und die sprachliche Präzision, mit der die Untersuchungsergebnisse präsentiert werden. Sie ist eine in jedweder Hinsicht innovative Leistung, der zu wünschen ist, dass die Literaturwissenschaft sie in gebührender Weise rezipiert.

Titelbild

Ralf Klausnitzer: Blaue Blume unterm Hakenkreuz.
Schöningh Verlag, Paderborn 1999.
550 Seiten, 75,70 EUR.
ISBN-10: 3506744526

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