Die neue Beliebtheit der Wortliebhaberei

Ein Sammelband mit Grundlagentexten positioniert die Philologie als Kulturwissenschaft

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In Thomas Manns großem Roman „Doktor Faustus“ – einem wegen seiner zahlreichen Bezüge zu älteren Texten und Sprachformen auch und gerade bei Philologen sehr beliebten Text – wird eine bemerkenswert tragikomische Begebenheit geschildert. In einem Münchener Trambahnwagen wird auf einen Mann geschossen. Alsbald stehen unter anderem die Doctores Kranich und Zeitblom bei dem Schwerverletzten. Doch zu dessen Nachteil handelt es sich bei den Doktoren nicht etwa um Ärzte. Doktor Kranich bringt zum Ausdruck, er habe es niemals „mehr bedauert, nicht Mediziner, sondern nur Numismatiker zu sein“. Auch dem klassischen Philologen Zeitblom erscheint „in diesem Augenblick die Münzenkunde als die müßigste der Wissenschaften, noch unnützer als die Philologie“. Er beeilt sich allerdings anzumerken, dass das „keineswegs aufrechtzuerhalten ist“.

Selbst die Figur des Dr. phil. Serenus Zeitblom, der bei jeder Gelegenheit auf sein humanistisch geprägtes philologisches Berufsethos verweist, sieht in der Philologie mithin eine völlig unnütze Wissenschaft. Die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes mit „Texten zur modernen Philologie“ scheinen von derlei Zweifeln an der eigenen Profession ebenfalls nicht ganz frei zu sein. Der Zweck einer Anthologie mit Texten zum Selbstverständnis einer Wissenschaft wird, anders als zunächst verkündet, nicht bereits darin gesehen, die Frage, was Philologie sei, zu klären. Auch soll dem Benutzer nicht nur eine Sammlung grundlegender Dokumente an die Hand gegeben werden, durch die sich Entwicklungen und theoretische Standortbestimmungen innerhalb einer ehrwürdigen Disziplin nachvollziehen lassen. Der Philologie haftet schließlich der Ruf einer etwas staubigen, von trockenen Buchstabengelehrten in abgedunkelten Archiven betrieben Wissenschaft an, die sich mehr um Lesartenverzeichnisse, das Vermessen von Fragmenten und die adäquate Bestückung von Zettelkästen schert als um moderne literatur- und interpretationstheoretische Entwicklungen. Weniger Aufgeschlossenheit für Aktualität als Wahrung, Pflege, Katalogisierung und Tradierung von Klassischem gilt gemeinhin als philologische Kernkompetenz. Die Philologie könnte diesem wohlfeilen Klischee zufolge von der der Neuausrichtung der Literaturwissenschaften als Kulturwissenschaften kaum weiter entfernt sein.

So ist es nicht verwunderlich, dass die Herausgeber ein anderes Bild etablieren wollen. Die Philologie soll aber nicht etwa der modernen Kulturwissenschaft nur angenähert werden. Vielmehr wird bei jeder Gelegenheit hervorgehoben, dass die Philologie ohnehin immer schon eine kulturwissenschaftliche Tätigkeit war und dass die versammelten Beiträge in ihrer Mehrzahl die Philologie auch theoretisch reflektiert als eine Kulturwissenschaft begreifen. Die Philologie habe demnach weniger von der Kulturwissenschaft zu lernen als umgekehrt. Mit einiger Sympathie wird eine Position referiert, die die Philologie „als Avantgarde einer literaturwissenschaftlich informierten Kulturwissenschaft“ propagiert. Obschon zu wenig darüber nachgedacht wird, ob ältere Theorien der Philologie mit „Kultur“ tatsächlich den Gegenstand der modernen, von Poststrukturalismus, New Historicism und Diskursanalyse geprägten Kulturwissenschaft meinen, ist dieses Unternehmen über weite Strecken ebenso plausibel wie forschungspolitisch durchschaubar. Im Konzert der schicken modernen Ansätze soll die Wissenschaft der „Wort-Liebhaber“, die „sich seit einigen Jahren einer neuen Beliebtheit“ erfreue, möglichst attraktiv positioniert werden. Plausibel ist die Neupositionierung schon durch die verbreitete Redeweise von „Kultur als Text“, aber auch durch das traditionelle Bestreben der Philologie, Texte in ihren kulturellen Entstehungs- und Wirkkontexten begreifbar zu machen.

Da die Philologie eine alte Wissenschaft ist, beginnt die „moderne Philologie“ für die Herausgeber mit Giovanni Battista Vico und dem Aufklärungshermeneutiker Johann Martin Chladenius in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Der Bogen wird über Klassiker wie Friedrich August Wolf, Friedrich Schleiermacher, Jacob und Wilhelm Grimm und August Boeckh über einflussreiche Autoren des 20. Jahrhunderts wie Erich Auerbach oder Peter Szondi bis zu Beiträgen der jüngeren Vergangenheit von Almuth Grésillon, Stephen G. Nichols oder Hans Ulrich Gumbrecht gespannt. Dabei werden auch unsystematische und unorthodoxe Denker wie Friedrich Schlegel, Friedrich Nietzsche oder Paul de Man nicht ausgespart. Bereits diese Aufzählung zeigt, wie breit das Panorama ist, das hier vom Selbstverständnis der Philologie in den letzten knapp drei Jahrhunderten gemalt wird und das Fragen der Texthermeneutik, der Editionsphilologie, der allgemeinen Kulturtheorie oder der Schreibprozessforschung umfasst. Diese Vielfalt ist geboten, weil „Philologie“, wie die Herausgeber zu Recht betonen, „kein stabiler Begriff war und ist“.

Bei einer Anthologie über die konkrete Textauswahl zu debattieren ist müßig; selbstverständlich hätte man sich auch andere Beiträge der gleichen oder nicht bedachter Autoren vorstellen können. Der Leser begegnet Unausweichlichem und teilweise Überschätztem. Beispielsweise ist Friedrich Schlegel fraglos einer der anregendsten Theoretiker der Philologie. Ob dabei aber immer seine knappen Notizen, die seine ungeschriebene „Philosophie der Philologie“ allenfalls rudimentär erahnen lassen, herangezogen und einmal mehr zur „Inspirationsquelle“ der romantischen Hermeneutik stilisiert werden müssen, sei dahingestellt. Dagegen ist es dankenswert, dass etwa ein im deutschen Sprachraum noch völlig unbekannter Text von Paul de Man, einem der großen Vertreter der Dekonstruktion, erstmals als Übersetzung bereitgestellt wird. Auch Peter Szondis Traktat „Über philologische Erkenntnis“ liest man mit großem Gewinn wieder. Obschon Szondis Klage, die Literaturwissenschaft verschließe sich den theoretischen Problemen der Textinterpretation, nach den Methodendebatten der letzten Jahrzehnte kaum mehr aktuell ist, hat seine Argumentation nichts an Brillanz verloren. Auch Entdeckungen bei eigentlich hinlänglich bekannten Aufsätzen werden ermöglicht. Zudem sind verschiedene philologische Disziplinen vertreten, wobei die germanistische Mediävistik (durch Karl Lachmann, Karl Stackmann und Joachim Bumke) deutlich mehr Raum einnimmt als etwa editionsphilologische Debatten zu modernen Autoren, die bekanntlich äußerst leidenschaftlich geführt werden, aber weniger zum kulturwissenschaftlichen Anspruch des vorliegenden Bandes passen. Nicht beachtet wird darüber hinaus das immer wichtiger werdende Feld der elektronischen Editionen – womöglich deshalb, weil hier die wesentlichen Debatten noch geführt werden.

Dass die meisten Texte aus dem deutschen Sprachraum stammen, ist einer deutschen Publikation schwerlich zum Vorwurf zu machen, obschon der Leser gerne gewusst hätte, ob dies neben pragmatischen auch profunde inhaltliche Gründe hat. Die vorhandenen Texte bieten dem ungeachtet ein gelungenes Spektrum verschiedener Ansichten und Zugangsweisen zur philologischen Tätigkeit. Der Band stellt eine gute und brauchbare Materialsammlung bereit, die durch eine kenntnisreiche Einleitung abgerundet wird, die ebenso historisch versiert wie auf der Höhe zeitgenössischen Diskussionen argumentiert. Auch wenn man nicht in allen Aspekten der Ansicht der Herausgeber beipflichten muss: Auf diese Weise, flankiert von klassischen und einschlägigen modernen Texten, eine neue andauernde Selbstreflexion der Philologie (nicht nur) im Verhältnis zur aktuellen Kulturwissenschaft anzuregen, ist eine lobenswerte Absicht. Ob Serenus Zeitblom dadurch von der Nützlichkeit seiner eigenen Disziplin überzeugt werden könnte, muss jedoch offen bleiben.

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Kai Bremer / Uwe Wirth (Hg.): Texte zur modernen Philologie.
Reclam Verlag, Ditzingen 2010.
334 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783150187241

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