Zwischen gestern und heute

Stefan Keppler-Tasaki und Mathias Herweg haben einen Sammelband über „fünfhundert Jahre literarische Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur“ herausgegeben

Von Judith KeßlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Judith Keßler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In diesem Sammelband zur Mittelalterrezeption von der Frühen Neuzeit bis heute stoßen Welten aufeinander, und das ist auch gar nicht anders möglich. Wie sonst nämlich kann man den lateinischen Frühhumanismus des späten 15. und 16. Jahrhunderts, der italienische Novellen und Erzählungen, wie zum Beispiel Auszüge aus Boccaccios „Decamerone“, ins Lateinische überträgt, mit Untersuchungen zur historischen Realität in den Romanen Ken Folletts’ oder einer Abhandlung über die Verwendung des Begriffs „altdeutsch“ in Bezug auf Kleider, Schäferhunde und Schwimmtechniken in Verbindung bringen?

Der verbindende Faktor ist, wie die Herausgeber Mathias Herweg und Stefan Keppler-Tasaki in ihrer Einleitung angeben, der ambitionierte Versuch, „die Einheit der germanistischen Literaturwissenschaft neu zu profilieren“, wobei die „Begegnung von Neuzeit und Mittelalter in Rezeptionsprozessen […] die Fachidentität zu stärken vermag“. Die Herausgeber und die Autoren der Beiträge versuchen, mit ihrer Arbeit die roten Fäden zu finden und herauszuarbeiten, die sonst immer rigoros mit den Grenzen literarischer Perioden abgeschnitten werden. Man beschäftigt sich entweder mit dem Mittelalter oder mit der Frühen Neuzeit oder mit moderner/postmoderner Literatur, und hat dabei meist kaum einen Blick für Motiv- und Stofftraditionen, die teilweise schon in der Antike anfangen und über das Mittelalter bis in die Neuzeit transportiert werden. Es ist in der Tat nicht leicht, wie die Herausgeber anmerken: Die Überlieferung eines Stoffes hält sich nicht an Mediengrenzen und beschränkt sich auch nicht nur auf eine Gattung, sondern erscheint wieder und wieder in völlig neuen Textformen, passt sich an immer neue literarische Konventionen an und wird nach dem Zeitgeist und dem Geschmack des Publikums verändert. Und so kann Wolframs Parzival zum Fantasyhelden im Computerrollenspiel werden, weil das Thema des Erwachsen-Werdens und des Sich-Anpassen-Müssens an Regeln, die nicht verstanden oder geduldet werden, eben ein immer aktuelles ist, wie Schindler in ihrem Beitrag zeigt.

Wie aus der obigen Schilderung bereits deutlich wurde, ist dieser Sammelband eine bunte Mischung von Beiträgen aus Spezialgebieten der Germanistik, die sich sonst eher selten begegnen. Da gibt es zunächst drei Beiträge, die sich um die Mittelalterrezeption in der Frühen Neuzeit kümmern, zum Beispiel einen zur Rezeption volkssprachiger und lateinischer Literatur oder einen zur Transformation von Motiven etwa in der „Wigalois“-Rezeption von der Frühen Neuzeit bis ins 20. Jahrhundert. Das ist der für den literaturwissenschaftlich ausgerichteten Mediävisten vielleicht noch vertrauteste Teil, weil es um die Rezeption in einer Epoche geht, die sich nahtlos ans Mittelalter anschließt und so Linien und Brüche in der Stoffgeschichte dargestellt werden können. Es folgt die Gruppe der (acht) Beiträge zur Romantik und zum Historismus, die eine sehr ergiebige ist, da ja gerade die Romantik für ihre verklärte Rezeption mittelalterlicher Stoffe bekannt ist, aber wo eben auch der genannte Beitrag zum „Altdeutschen“ zu finden ist.

Die dritte Gruppe enthält sechs Beiträge zur Klassischen Moderne und Postmoderne. Dort bleibt man einerseits dem Medium Text in Form von Gedichten oder Romanen treu (etwa im Beitrag von Knust zu den historischen Romanen Ken Folletts und in der Untersuchung von Hornung zu Dan Browns „Da Vinci Code“), und begibt sich andererseits auf neues Terrain. Sieber löst sich nämlich in ihrem Beitrag in Bezug auf die Sagen um König Artus vom Text selbst und betrachtet die Person des Königs als „Label“. Sie konkludiert, dass der „Mythos Artus“ heutzutage vor allem verkaufsfördernd eingesetzt wird: So wird ein einfacher Gartenstuhl unter der Bezeichnung „Artus“ laut Anzeigentext zum „urig-rustikale[n] Holzstuhl für Garten und Terrasse“, der „nach historischen Entwürfen“ entstand und auf dem man – glücklicherweise! – „erstaunlich gut“ sitzt. So prosaisch können also auch mittelalterliche Stoffe verwendet werden, wobei der ursprüngliche Kontext und der Inhalt der Erzählungen überhaupt keine Rolle mehr spielt. Es reicht, wenn dem entsprechenden Objekt ein gewisser mittelalterlich-mythischer Reiz anhaftet. Ähnlich instrumentalisiert wird dann auch der bereits erwähnte „Parzival“ für das Computer-Rollenspiel.

Dieses Rollenspiel, das insbesondere Jugendliche anspricht und dessen erzieherischer Wert in einem Beitrag gleich experimentell ausprobiert und anschließend diskutiert wird, bildet einen guten Übergang zur letzten Gruppe, nämlich den drei Beiträgen zur Jugendliteratur und Didaktik. Dort geht es um Ritterdarstellungen aus der Kinder- und Jugendliteratur seit 1700, um die Artus-Rezeption ebenfalls in Kinder- und Jugendbüchern und letztlich um eine Untersuchung des Anteils mittelalterlicher Texte am modernen Schulunterricht und die Art und Weise, wie man sich in verschiedenen Deutschbüchern diesem Thema annähert. Nach kritischer Prüfung stellt letzterer ein sicherlich ambitioniertes und gut durchdachtes, aber wahrscheinlich kaum durchführbares Gegenprogramm auf – denn es würde bedeuten, dass das Mittelalter einen wesentlich größeren Anteil am Unterricht haben müsste, als es heute hat. Das dürfte an ministerialen Vorgaben scheitern, und vielleicht auch an der mangelnden Bereitschaft der Lehrer, sich neben der Fülle an sowieso zu bewältigender moderner(er) Literatur so tief in diese sehr spezielle Materie einzuarbeiten, wie es hier verlangt wird. Würde man sich jedoch um alle Teile des Deutschunterrichts so intensiv kümmern, dann wäre das Postulat einer hervorragend auf das Germanistikstudium vorbereiteten Schülergeneration sicherlich erfüllt.

Letztendlich hat der Sammelband die „klassische“ Mittelalterrezeption mit dem Fokus auf Stoff- und Motivgeschichte und dem (auch im Titel des Bandes!) viel enger gefassten Medienbegriff weit hinter sich gelassen, und gerade das macht seinen Reiz aus. Die Fülle der unterschiedlichen Ansätze zeigt aber auch, wie vielseitig und mehrdeutig der Begriff der „Mittelalterrezeption“ zu verstehen ist. Die Grenzen sind fließend. So wie im Beitrag über den Begriff des „Altdeutschen“ gesagt wird, es handele sich um, es handele sich um den„Mythos einer zeitlich vagen, kulturell definierten Urzeit“, so zeigt dieser Sammelband, dass eben dies auch für den „Mythos Mittelalter“ gilt. Er macht bewusst, wie vielschichtig das Mittelalter seit der Frühen Neuzeit über mehrere Jahrhunderte hinweg rezipiert wurde, und welche Entwicklungen Stoffe und Motive durchmachten, bis sie schließlich zum Label für Gartenmöbel oder zum Avatar im Rollenspiel wurden, aber auch: wie sehr die jeweilige Art und Weise der Mittelalterrezeption ein Spiegel der rezipierenden Gesellschaft ist. Der Umgang mit mittelalterlichen Stoffen zeigt, wie eine Gesellschaft zu ihrer Geschichte steht, wie kritisch sie sie betrachtet, und welche Bedeutung sie ihr in der eigenen Gegenwart zuerkennt. Dies mit der großen Bandbreite der allesamt lesenswerten Beiträge deutlich zu machen, ist den Herausgebern hervorragend gelungen.

Titelbild

Stefan Keppler-Tasaki / Mathias Herweg (Hg.): Rezeptionskulturen. Fünfhundert Jahre literarischer Mittelalterrezeption zwischen Kanon und Populärkultur.
De Gruyter, Berlin 2012.
447 Seiten, 149,95 EUR.
ISBN-13: 9783110264982

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