Zur normativen Begründung eines leeren Signifikanten

Der Sammelband „Demokratie?“ diskutiert den Form-/Inhaltskonflikt eines Herrschaftskonzeptes

Von Jan-Paul KlünderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan-Paul Klünder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Reputation der Demokratie ist beschädigt. Gleichzeitig scheint das Konzept „Demokratie“ zur Legitimation politischer Herrschaft nach wie vor konkurrenzlos. Die Ideen der französischen Revolution zwingen bis heute alle politischen Strömungen zur Positionierung – und sei es nur als Feigenblatt. Die Geschichte der Demokratie lässt sich derweil ebenso in dunkelsten Farben als Niedergangsgeschichte wie als beispielloser Siegeszug erzählen – eine Frage der Perspektive.

Einerseits fällt die politische Realität weit hinter die ambitionierten Ziele der Aufklärung zurück. Zwar sind fast zwei Drittel aller Staaten demokratisch organisiert, allerdings zeigen qualitative Untersuchungen Abgründe. Gleichzeitig erodiert das Fundament demokratischer Gemeinwesen: Wahlbeteiligungen sinken, Wahlkämpfe aller Art verkommen zu unwürdigen Spektakeln, den Herausforderungen der internationalen Märkte sind die chronisch überschuldeten Wohlfahrtsstaaten der westlichen Welt längst nicht mehr gewachsen und in China und Russland etablieren sich Gegenmodelle, die auch ohne die extensive Berufung auf Freiheit und Menschenrechte funktionieren.

Diese Argumentation lässt sich freilich umdrehen: Noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte waren so viele Staaten demokratisch organisiert. Das Internet und andere Medien ermöglichen vielfältige neue demokratische Informations- und Partizipationsformen. Die jüngsten Entwicklungen in Nordafrika und dem Nahen Osten zeigen bei allen Schwierigkeiten, welche Strahlkraft das Versprechen der Demokratie noch besitzt. Eine Tendenz, die selbst die kommunistische Parteiaristokratie im kapitalistischen China nervös macht. Die Ereignisse verdeutlichen auch, wie alternativlos demokratische Verfahren und Teilhaberechte für eine stabile und langfristige politische Ordnung sind und dass es auf Dauer nicht reicht, eine Kleptokratie als Republik zu tarnen und alle paar Jahre die Wahlen zu fälschen.

Vor diesem Hintergrund erscheint der Sammelband „Demokratie? Eine Debatte“ im Suhrkamp Verlag. Der 2009 bereits in Frankreich veröffentlichte Band befasst sich einerseits mit dem Zustand und der Zukunft der Demokratie, neben dem Sein geht es aber ebenso um das Sollen. Explizites Ziel der vorliegenden Beiträge ist vor allem, die Frage nach der Demokratie neu zu stellen.

Als Auftakt befasst sich Giorgio Agamben in seinen einleitenden Bemerkungen mit der Missverständlichkeit, die dem Begriff Demokratie innewohnt. Einerseits bezeichnet das Wort ein bestimmtes juristisch-politisches Verfassungsprinzip, andererseits eine verwaltungsökonomische Regierungstechnik. Der italienische Philosoph versucht, diese demokratische Doppeldeutigkeit ideengeschichtlich aufzuklären und beruft sich hierfür auf die antiken Wurzeln in Aristoteles „Politeia“, auf Jean-Jaques Rousseau sowie die Foucault’sche Lesart des „Contract Social“. Im Zentrum steht dabei die klassische Unterscheidung von Legislative und Exekutive, und genau in dieser Grundunterscheidung der westlichen Philosophie entdeckt Agamben die Ursache für eine Vorherrschaft der Regierung und Ökonomie über die „sukzessiv entleerte Volkssouveränität“. Getreu seiner im Homo-Sacer-Projekt ausgearbeiteten Diagnose ist eine aus den Fugen geratene Exekutive das entscheidende Problem der Moderne. Die Differenz zwischen Verfassungsform und Regierungstechnik erscheint in dieser Perspektive als letztlich unvermittelbar und jede diskursive Aushandlung droht permanent „zum Geschwätz zu verkommen“.

Neben dieser düsteren Zeitdiagnose nähern sich noch sieben weitere Autoren auf unterschiedliche Weise dem Themenkomplex Demokratie, wobei die meisten Beiträge zwischen wissenschaftlicher Abhandlung und flottem Essay schwanken. Dabei nehmen die sechs Männer und zwei Frauen auch weltanschaulich kein Blatt vor den Mund und beziehen offen politisch Position. Dass dies häufig in leicht zugänglicher Sprache geschieht – gemessen an den Maßstäben der politischen Philosophie – macht die Texte selbst für all diejenigen lesenswert, die bisher wenig Berührungspunkte mit politischer Theorie und Philosophie hatten. Überraschend ist die offene Normativität der Texte indes nicht, als sich mit Giorgio Agamben, Alain Badiou, Daniel Bensaïd, Wendy Brown, Jean-Luc Nancy, Jacques Rancière, Kristin Ross und Slavoj Žižek viele der bekanntesten VertreterInnen der politischen Theorie postmarxistischer Prägung versammeln. Die Aufsatzsammlung dokumentiert in gewisser Weise eine „Befragung“ über die Einschätzungen dieser prominenten DenkerInnen zur aktuellen Situation der Demokratie. Geballte Prominenz ist für sich kein Qualitätsmerkmal, sie ist aber insofern ein Argument für den Band, als die Möglichkeit geboten wird, auf wenigen Seiten einen ersten Einblick in die aktuelle postmarxistische Theoriediskussion zu erhalten. Bei der Lektüre sollte man sich allerdings – wie von den 68ern geraten – nicht affirmativ, sondern kritisch verhalten, denn nicht jede der hier artikulierten Meinungen kann ihren Pferdefuß verbergen.

Slavoj Žižek beispielsweise beginnt seine Abhandlung mit einer Kritik an dem Kapitalismusmodell ohne Demokratie, welches als „Kapitalismus mit asiatischen Werten“ von Singapur über China seinen globalen Siegeszug angetreten habe und längst im Herzen der westlichen Staaten angekommen sei. Im nächsten Schritt weitet er diese Kritik unvermittelt auf das Modell der Demokratie liberal, parlamentarischen Zuschnitts insgesamt aus, welches hinter einer vermeintlich freiheitlichen Fassade einen durch und durch korrupten Entfremdungs- und Betrugszusammenhang offenbare. Soviel zur marxistischen Tradition.

Dieses System privilegiert mit Hilfe des sogenannten „transzendentalen Rahmens“ bestimmte Werte und Praktiken und beerdigt dadurch, „was die Menschen wirklich wollen und denken“. An dieser Stelle wird man stutzig, mindestens zwei Fragen drängen sich auf: Welche soziale Ordnung privilegiert nicht konstitutiv bestimmte Weltanschauungen und Werte vor anderen? Für sich genommen ist dies nicht problematisch, sondern unausweichlich. Jede soziale Ordnung, auch eine vermeintlich noch so progressive, muss sich konstitutiv auf bestimmte Werte und Normen festlegen und andere ablehnen. Legitimation kann ein Ausschluss nur durch die Begründung und deren Zustimmung erfahren – jede Form von Letztbegründungen ist ausgeschlossen. Entsprechend stellt sich die zweite Frage: Wie kann Žižek den Status Quo als illegitimen Massenbetrug identifizieren und wie gelingt es ihm, zu den „wahren“ Absichten und Überzeugungen „der Menschen“ durchzudringen? Seit Jahrzehnten ist es wissenschaftlicher common sense, dass es einen Beobachtungspunkt, der solche Erkenntnisse ermöglicht, in der modernen Gesellschaft nicht geben kann. Ebenso zweifelhaft ist das Sprechen von „dem Menschen“. Wissenschaftlich sind solche Einschätzungen, wie Žižek sie vertritt nicht nur fraglich, sondern unseriös.

Giorgio Agamben folgend diagnostiziert Žižek weiter, dass die westlichen Demokratien zunehmend im Ausnahmezustand regiert würden. Nur durch nackte Gewaltanwendung lasse sich die Demokratie westlicher Prägung perspektivisch überhaupt noch aufrechterhalten. Über solche Prognosen kann man vielleicht noch geteilter Meinung sein, zutiefst problematisch sind hingegen Žižeks Lösungsversuche. Ganz klassisch marxistisch soll es eine Revolution richten und zunächst die „Diktatur des Proletariates“ herbeiführen. Mittels der Unterscheidung der sogenannten „radikalen emanzipatorischen Gewalt gegen die früheren Unterdrücker“ und der Gewalt, die der Aufrechterhaltung „hierarchischer Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse“ dient, versucht Žižek, revolutionäre Gewaltausbrüche inklusive Lynchjustiz zu legitimieren. Die Begründungsfigur lässt sich folgender Maßen zusammenfassen: Die bestehende Gesellschaftsordnung ist normativ böse und jede Form von gewaltsamem Widerstand um den Status Quo zu beseitigen ist deshalb legitim. Dahinter steht die alttestamentarische Logik „Aug um Aug, Zahn um Zahn“, Gewalt von Seiten der Unterdrückten ist als Reaktion auf zuvor verübtes Unrecht der Herrschenden moralisch gerechtfertigt. Žižek sehnt einen „totalen Antagonismus“ herbei, der die diskursive Versöhnung unterschiedlicher Interessen verunmöglicht und einem „authentischen demokratischen Ausbruch des revolutionären Terrors“ das Feld überlässt.

Ironischer Weise zitiert Žižek in seinem Essay das ambivalente Verhältnis verschiedener Schriftsteller zu Stalin, um die Faszination der Macht kritisch zu illustrieren. Anzeichen von Selbstreflexivität sucht man aber vergebens. Žižek zeigt sich völlig unfähig, die eigene Forderung nach revolutionärer Gewalt und dem Terror kritisch auf den Stalinismus anzuwenden. Wie die neue Gesellschaft indes konkret ausschauen soll, erfährt man nicht – entsprechend bleibt die Frage, ob die radikalen Mittel überhaupt den Zweck heiligen, unbeantwortet. Offen bleibt ebenso die sicherlich nicht unspannende Frage, wie die Gewaltspirale, die die bestehende Ordnung aufhebt, wieder gestoppt werden könnte.

In Abgrenzung zu diesem Aufsatz sind die Beiträge von Wendy Brown und Jean-Luc Nancy positiv hervorzuheben. Jean-Luc Nancy gründet seine Argumentation auf der Diagnose eines Bedeutungsverlustes der Demokratie, verursacht durch ihre inhaltliche und moralische Überdehnung. Diese Einschätzung steht analog zu Wendy Brown – für beide verkommt die Demokratie zu einem leeren Signifikanten. Hier könnte man nachhaken und fragen, ob der Begriff Demokratie nicht immer schon und konstitutiv inhaltlich offen sein muss? Nancys Ziel ist hingegen eine klare Grenzlinie zwischen zwei unterschiedlichen Bedeutungen der Demokratie zu etablieren: auf der einen Seite der Demokratie als einer schlichten Regierungs- und Organisationspraxis und auf der anderen Seite der Demokratie als dem quasireligiösen Versprechen, die „Freiheit jedes menschlichen Wesens in Gleichheit aller menschlichen Wesen“ zu verwirklichen. Nancy illustriert seine Argumentation mit einer Reihe von Beispielen aus der politischen Geschichte und Philosophie, um seine Grenze zwischen der begrenzten und der unendlichen Demokratie aufzuzeigen. Allerdings ist dies keine hermetische Abgrenzung. Nancy sensibilisiert vielmehr für die Möglichkeiten von Grenzverschiebungen. Die politische Sphäre ist demnach keineswegs für allezeit in einer bestimmten Form festgeschrieben und genauso wenig ist sie unabänderlich. Gegenwärtig ist die Bezeichnung Demokratie für ihn aber der Ausdruck einer Menschheitsidee, der die eigene Zwecksetzung abhanden gekommen ist.

Brown startet mit einer Kritik der Demokratie als Marke, deren Erscheinungsbild nichts mehr mit spezifischen Inhalten zu schaffen habe. Jede politische Gruppierung, und sei sie noch so extrem, vereinnahme in unserer Gegenwart das Label Demokratie. Entsprechend habe die Demokratie streng genommen überhaupt keine besonderen Eigenschaften, als inhaltslose Form ist sie ohne Substanz – nichts mehr als ein leerer Signifikant. Wendy Brown verbindet damit die Diagnose einer fortschreitenden Entdemokratisierung, wobei sie die üblichen Verdächtigen als Totengräber identifiziert: die Herrschaft des Kapitals, die Verrechtlichung der Politik, die Erosion der nationalstaatlichen Souveränität sowie ein omnipräsenter neoliberaler Diskurs.

Allerdings gelingt es Brown in der weiteren Argumentation, die Verwirklichungsschwierigkeiten und Stolpersteine der Demokratie sehr überzeugend darzustellen. Der Text zeigt sich stark von poststrukturalistischen Denkbewegungen beeinflusst und sensibilisiert für Subjekt konstituierende Diskurse. Nimmt man diese Perspektive ein, führt dies zu einer skeptischen Haltung. Es erscheint nicht länger selbstverständlich, dass alle Menschen aus der „selbstverschuldeten Unfreiheit“ ausbrechen können – geschweige denn wollen. Entsprechend ist für Brown Demokratie und Freiheit lediglich als Prozess und damit nur als ein unerreichbares Ziel denkbar. Dabei regt dieser Aufsatz gerade durch diese Skepsis sowie die vielen rhetorischen Fragen zum Nachdenken an und vermeidet es gekonnt, allzu simple Antworten auf komplexe Fragen zu geben.

Insgesamt ist der Sammelband all denjenigen zu empfehlen, die Freude am kritischen Grübeln über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten der Demokratie haben. Denn gerade das Auseinanderfallen zwischen Sein und Sollen der politischen Wirklichkeit treibt die Autorinnen und Autoren des Bandes um, wobei das Sein freilich erst durch die Kontrastierung mit einem normativen Sollen problematisch wird. Die Qualität einer normativen politischen Theorie zeigt sich allerdings am Vermögen, die eigenen Setzungen zu reflektieren, offensiv zu thematisieren und argumentativ zu begründen. Entsprechend muss man sich bei der Lektüre vor Argumentationen hüten, die vorgeben im Besitz der allgemeinen Wahrheit zu sein. Eine solche Wahrheitsinstanz kann es in der modernen funktional ausdifferenzierten Gesellschaft nicht geben. In unserer Gegenwart gibt es eine Vielzahl von Perspektiven, die unvermittelt, teilweise antagonistisch und unversöhnt nebeneinander existieren – und dies zu akzeptieren ist Teil demokratischer Praxis – oder sollte es zumindest sein. Theorien, die hingegen vorgeben, die moderne Welt als Ganzes, quasi von einem archimedischen Punkt aus, zu beschreiben und von dort (ver)urteilen, verkommen zu bloßen Meinungen. Als politische Theorien sind sie damit schlicht unbrauchbar.

Titelbild

Giorgio Agamben / Alain Badiou / Jacques Rancière / Jean-Luc Nancy: Demokratie? Eine Debatte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
200 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126110

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch