Stachlige Rosen aus dem Süden

Gottfried Wagners Streitschrift mischt endlich den bisher recht langweiligen Buchmarkt über Richard Wagner auf

Von Ulrich DrünerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Drüner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gottfried Wagners Buch „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Richard Wagner – Ein Minenfeld“ wird im Klappentext als „kulturpolitische Streitschrift“ vorgestellt. Das zu Wagners Zweihundertstem gerade noch rechtzeitig erschienene Buch kann mehr: Im Verhältnis zu den vorangehenden Wagner-Publikationen bietet es nicht nur den interessanteren biografischen Ansatz, sondern bringt endlich auch Tempo, Biss und Furor – manchmal auch den nötigen Humor in die Debatte. Denn hinsichtlich Richard Wagners Persönlichkeit trat sie bisher in Ratlosigkeit, Larmoyanz und geschäftiger Liebedienerei auf der Stelle. Zu den musikdramatischen Motivationen des Urahns Wagner sind die Thesen des Urenkels Gottfried Wagner gelegentlich etwas hart, doch angesichts der vernebelnden Thesen eines Udo Bermbach, Dieter Borchmeyer und all derer, die den Antisemiten Wagner 2013 reinwaschen oder immer noch zum braven Musik-Sozi verwandeln wollen, war es höchste Zeit, dass jemand mit Karacho dazwischen fährt.

Von den dreizehn Kapiteln sind die letzten der Wagner-Rezeption gewidmet; die ersten zehn stellen dagegen eine Mischung aus Biografie und Psycho-Krankenakte dar und verfolgen darin die Tradition von Theodor W. Adorno, Ludwig Marcuse, Robert Gutman und Hartmut Zelinsky, welche Wagner auch als einen Fall der Psycho-Pathologie betrachteten. Denn die immer gleiche Diagnose wog und wiegt schwer: chronischer Verfolgungs- und akuter Größenwahn. Gottfried Wagner betreibt dieses Geschäft kompakter und kurzweiliger als seine Vorgänger – nur Friedrich Nietzsche konnte das noch besser, doch wusste dieser nicht, dass das Schlimmste noch bevorstand: Wilhelm II. und Adolf Hitler. Gerade unter deren Prämisse zeigt Gottfried Wagner, wie unvermindert nötig die Anti-Perspektive auf jenen Richard Wagner ist, der die zwei Unholde unserer Geschichte tief prägte. Darin geht der Autor streng, scharf, manchmal auch etwas ungerecht ans Werk. Letzteres erklärt sich aus seiner unerträglichen Jugendzeit, in der er unter dem Schwingen der Weihrauchfässer den unbarmherzigen Sippenkrieg der Wagner-Enkel als Bayreuther Dauerzustand erleben musste, sodass er die bis heute andauernde Verlogenheit einfach nicht mehr ertragen konnte und nach Italien flüchtete.

Richard Wagners Werk erscheint in der Sicht des neuen Buchs als Mogelpackung eines erschwindelten Lebens. Dabei erscheint die Menge des Ausnützens, des Täuschens und gelegentlich auch des Betrügens in genau jenem kruden Licht, das Richard Wagner in seiner Autobiografie „Mein Leben“ wie auch fast alle seine biografischen Bearbeiter mit so großer Sorgfalt zu verniedlichen suchten und weiterhin suchen. In jenem Leben, das Gottfried Wagner schildert, gibt es viel Staunenswertes, aber weniger Bewundernswertes und viel Befremdliches. Dabei sind seine Darstellungen mit einem eindrucksvollen Apparat von 684 Fußnoten bewehrt, sodass sein Text nur wenige Angriffsflächen bietet. Deshalb lohnt es sich wirklich, seinen Argumenten zu folgen.

Die biografischen Stränge sind thematisch gebündelt, und so stehen die Vater- und Mutterfrage, das quasi vorbildlose Aufwachsen Richard Wagners als Voraussetzung eines maßlosen Egos, am Anfang. Ähnlich werden die beruflichen Lernprozesse gezeigt, wobei allerdings das Autodidaktische zu sehr in die Nähe des Dilettantismus gerückt wird – wäre dem so, würde es Fortschritt in der Kunst nicht geben. In dem Buch überwiegen indes die originellen Blicke auf die Text- und Stabreimerei, die Redundanz, den Schwall und den Schwulst, wozu der Autor jeweils die berühmtesten Garanten zum Zitat bittet. Weitere Kapitel gelten den Problemen Schulden und Schnorren, Karriere und Intrigen; es wird beim Farbauftrag an nichts gespart, um Richard Wagners Nachtseite zum helllichten Tag zu machen. Das tut gut angesichts des Wagner-Kitsches, dessen Wellen gerade über Deutschland wallen und wogen. So gelingt Gottfried Wagner eine der besten Zusammenfassungen des Verhältnisses Wagner-Meyerbeer, das vielleicht dunkelste und verworrenste Kapitel der Wagner-Biografik. Deren Verdrehungen und bösartige Feind-Mythisierungen finden sich leider auch heute noch in Texten von Udo Bermbach und vielen anderen. Erhellendes ist auch zu den Themen Wagner-Mendelssohn und Wagner-Heine zu lesen, gegen die unser Held des Musikdramas bis in späte Zeiten böse Legenden säte. Auch das Verhältnis Wagner-Liszt wird kritisch durchleuchtet – bis heute wird es ja zumeist zum Nachteil des Letzteren dargestellt.

Das fünfte Kapitel gilt den Frauen in Richard Wagners Leben und auf seiner Bühne, wobei Gottfried Wagner, ganz in den Spuren von Eva Rieger, die Rolle der ersten Ehefrau Minna zurechtrückt. Denn jene „Entsorgte“ umhegte Wagners Oeuvre vom Beginn bis zum „Ring“, während Ehefrau Nummer Zwei, Cosima, nur für „Götterdämmerung“ und „Parsifal“ zuständig war. – Ein weiteres Kapitel gilt dem Revolutionär Wagner, wobei endlich die längst überfällige Korrektur der historischen Verhältnisse angepackt wird. Revolution für das „Volk“ betrieb Richard Wagner gerade mal von 1848 bis 1852; den Rest seines Lebens revolutionierte er ausschließlich für sich selbst und seine Kunst, denn angesichts des „Volkes“ empfand er schon 1850 eine „Abneigung gegen jede wirkliche Berührung“ (so zu lesen in „Das Judentum in der Musik“). Deshalb ist es für die Wagner-Diskussion ein großer Fortschritt, dass es in Gottfried Wagners Buch zu einer Abrechnung mit denjenigen 68er-Forschern kommt, welche die haltlose Stilisierung Wagners zum lebenslangen Generalrevolutionär zur Relativierung seines Antisemitismus missbrauchen. Es muss sich endlich herumsprechen, dass der spätere Wagner weder „sozial“, noch „radikal“ oder gar „demokratisch“ dachte. Das sind zu schöne Märchen.

Das siebte Kapitel gilt anfangs ganz dem Verhältnis Richard Wagners zu seinem Erretter, König Ludwig II. von Bayern. Wie virtuos der Komponist dabei sämtliche Register der Vereinnahmung abtastete, über die extrem antidemokratisch-royalistische bis zur homoerotischen, ist wahrscheinlich noch nie so brillant wie von Gottfried Wagner dargestellt worden. Demnach wurden Richard Wagners Treueschwüre bald hohl und hohler – ab 1870 eröffnete der Komponist eine neue Front in Richtung Berlin –, doch da der König stets besser bezahlte als Kaiser und Kanzler, hielt die Kunst-Ehe mit München bis zuletzt. – Auch im Folgekapitel, „Der Nekrophile und der Apokalyptiker“, begegnet man viel Wissenswertem. Man beginnt zu verstehen, warum das Zerstörerische bei Richard Wagner solche Faszination und gleichzeitig so viel Gewalt ausübt. Man lernt die Persönlichkeit des Komponisten besser kennen und begreift in ihm die „eigentümliche Nähe von Todeserfahrung und Kreativität“, eine Nähe, die von „Rienzi“ bis „Parsifal“ wirkt.

Ein zentrales Kapitel gilt Wagners Antisemitismus. Es zeigt, wie groß, reichhaltig und kulturgeschichtlich bestens dokumentiert der heutige Forschungsstand zu diesem Thema ist, vor dem die Wagner-Apologeten weiterhin die Köpfe in den Sand stecken. Mit der biederen Kinderei eines Christian Thielemann kann man Judenhass von Wagners Musik heute einfach nicht mehr kaschieren; das dirigentische Bonmot „C-Dur bleibt tatsächlich C-Dur“ reicht nicht einmal, um eine Triosonate des Fast-Namensvetters Telemann zu analysieren (denn Letzterer wusste sein C-Dur bereits dank der Affektenlehre mal so oder eben mal so zu handhaben). Im Einsatz vielfältigster kultureller Klischees und dramaturgischer Codes ist Wagners C-Dur nicht nur zuversichtlich oder majestätisch, sondern auch mal transzendent, mal psychologisierend, mal aggressiv – oder auch mal antisemitisch, wenn eine kantionale Floskel zusammen mit einem dramaturgischen Untermenschenbild (der glitschige Alberich, der schleimige Mime) das zu Wagners Zeit allgegenwärtige Klischee des Ostjuden wachruft. Noch genauer hätte Gottfried Wagner in diesem Sinne argumentieren können, dass im Musikdrama die so genannten Juden-Figuren nicht ausschließlich dies sind, sondern (wie auch die „Germanen“-Figuren) Personalverdopplungen beinhalten. Zur Ergänzung der Argumentation des Buches ist andererseits zu sagen, dass es im „Ring des Nibelungen“ dramaturgische Konstellationen gibt, die man nur aus dem antisemitischen Impuls erklären kann. Die Motive von Alberichs Weltbeherrschung sowie von der Unlösbarkeit seines „Fluches“ stammen nicht aus mittelalterlichen Mythen, sondern ausschließlich aus antisemitischen Pamphleten K. W. Grattenauers (1791), von wo aus sie über die „Protokolle der Weisen von Zion“ (1905) bis in die „Nürnberger Gesetze“ überwinterten. Richard Wagners Kunst-Antisemitismus ist demnach nicht nur eine Frage einzelner „Untermenschen“-Figuren, sondern, viel schlimmer, auch ein Problem der Gesamtstruktur des Musikdramas.

Gottfried Wagners Schlusskapitel dienen vor allem der Darstellung der Bayreuther Geschichte von 1870 bis heute. Sie thematisieren den Übergang vom Selbstvergötterungstempel eines unerhört umtriebigen Künstlers zum Kulturindustrie-Standort des Nationalsozialismus, der von Bayreuth aus das Opernwesen des „Tausendjährigen Reichs“ anführen sollte. Noch eindringlicher ist Gottfried Wagners Schilderung des darauf folgenden, vollkommen versäumten Bruchs, der notdürftig mit der Umkehrung aller Westen – nicht aber der Werte – gelöst wurde: Die Nachkriegs-Familien- und Festspielgeschichte. In ihr erfand man Richard Wagner gleich zweimal neu: zunächst in der Version Wieland Wagners, der mit Sigmund Freud und C. G. Jung das Werk des Großvaters entpolitisierte und es in der Welt des „Es“ neu positionierte. Das war für Bruder Wolfgang jedoch zu esoterisch. Er schaffte nach Wielands Tod die „definitive“ Rettung des Großvaters; dazu standen ihm zur rechten Zeit die passenden Philosophen zu Gebote, die Richard Wagners Werk als das der ewigen Revolution definierten.

Doch wer will dies 2013 noch hören? Das klingt heute so spannend wie Fidel Castro. Die kritischen Leserbriefe mehren sich, denn die Märchenstunden der Wagner-Apologeten haben schon längst angefangen, das Publikum zu langweilen. Mit Gottfried Wagners Buch findet jenes kritische Publikum die rechte Lektüre, um die Kehrseite der Medaille zu bestaunen. Das Buch ist noch nicht ganz perfekt, hat aber das Potential, dies anlässlich der sicher sehr bald nötigen Neuauflagen zu werden. Die erste Option ist leicht: Etwas lindere Urteile können die Wirkung verstärken. Die zweite ist schwerer und verlangt vom Autor einen Sprung über die Schatten der Geschichte: Trotz allem, was an Richard Wagner bedrückt, hat die Kreativität auch bei ihm dafür gesorgt, dass Kunst über sich selbst hinaus weisen kann. Im Falle Wagner heißt das, dass er sich nicht nur im Leben ständig selbst widersprach, sondern dass auch seine Kunst ihn gewissen Korrektiven unterwarf. An einigen Stellen ist die Schönheit seiner Musik weder ideologisch noch überwältigend, sondern ganz einfach – aber transzendent. Sie redet manchmal von einem anderen Stern. Auch diesen Orten gilt es nachzulauschen und ihnen etwas Raum in der Betrachtung zu gewähren.

Titelbild

Gottfried Wagner: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Richard Wagner - Ein Minenfeld.
Propyläen Verlag, Berlin 2013.
300 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783549074411

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch