Lob des Mittelmaßes

Über eine Neuausgabe von Jane Austens Roman „Stolz und Vorurteil“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der „menschlichen Vernunft“ schreibt Immanuel Kant im ersten Satz seiner Hauptschrift „das besondere Schicksal“ zu, „daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen menschlicher Vernunft.“

Elisabeth Bennet hätte dem Königsberger Weltweisen gewiss zugestimmt, quält es sie anlässlich einer kühlen Begrüßung zwischen Mr. Darcy und Mr. Wickham doch nicht eben wenig, dass es ihr „unmöglich“ ist, auf den Grund der spannungsgeladenen Atmosphäre zwischen den beiden Herren zu kommen; und ebenso unmöglich, ihn „nicht unbedingt wissen zu wollen“.

Fast könnte man meinen, Miss Bennets literarische Mutter Jane Austen persifliere damit das von Kant dargelegte Dilemma. Jedenfalls aber kommt Miss Bennet gerne der Forderung „Sapere aude!“ nach, sofern man ihr „den freien Gebrauch meines Verstandes“ gestattete. Gelesen hat sie Kants Schriften aber wohl kaum. Die hat vermutlich nicht einmal Marie, die Intellektuelle unter den fünf Schwestern, jemals in Händen gehalten. Wahrscheinlich hätte sie es mit Freuden getan.

Wir Heutigen haben dafür das Vergnügen, uns an einer sehr ansprechend aufgemachten Ausgabe der in „Stolz und Vorurteil“ erzählten Geschichte um Elisabeth Bennet und der ihren erfreuen zu können, in deren Mittelpunkt das wechselhafte Verhältnis der Protagonistin zu Mr. Darcy steht. Bekanntlich finden beide zu guter Letzt zusammen. Überhaupt treiben die diversen Heirats- und Verheiratungsabsichten vornehmlich, jedoch keineswegs ausschließlich der Damen die Handlung voran, die heutigen Lesegewohnheiten nicht nur recht gemächlich, sondern bei oberflächlicher Lektüre auch einigermaßen konventionell erscheinen mag.

Revolutionär allerdings sind Handlung, Erzählweise und Figuren des Romans tatsächlich nicht. Vielmehr scheint die Autorin in ihrem Werk der aristotelischen Ethik zu huldigen, der jegliche Extreme suspekt waren und die das Gute in der Ausgewogenheit ausmachte. So werden sowohl die intellektuelle Marie wie auch ihr Gegenpol, die „ungezähmte, unverfrorene, wilde lärmend und furchtlose“ Lydia für ihre so gegensätzlichen Lebensweisen bestraft. Letztere, indem Austen sie mit Mr. Wickham, der zwielichtigsten und unsympathischsten Figur des Romans, verheiratet, worin Lydia allerdings die Erfüllung ihres größten Wunsches sieht. Ob sich ihr im Laufe der Ehejahre die Augen öffnen, lässt der Roman offen. Ärger noch trifft es Marie, die als ,Blaustrumpf‘ überhaupt keinen Mann abbekommt und somit die Höchststrafe erhält, die junge Damen der Zeit ereilen kann. Allerdings ist auch anzumerken, dass Marie die einzige der Schwestern ist, die keinen Heiratswunsch zu verspüren scheint. Doch mag man es als weitere Strafe ansehen, dass Austen gerade sie besonders blass zeichnet, während sie Lydia immerhin mit der damals durchaus nicht selbstverständlichen Erkenntnis verteidigt, dass sie keineswegs von Natur aus dumm sei, sondern ihr nur „niemals beigebracht wurde, über ernste Dinge nachzudenken“.

All dies erzählt Austen in einem Ton nicht immer sanfter, nie jedoch maliziöser Ironie. Er klingt bereits im Ersten Satz an, dessen Inhalt zudem eine Forderung glänzend erfüllt, die Fontane – allerdings erst einige Jahrzehnte später – gegenüber den ersten Absätzen eines Romans erhob. Es ist dieser Ton, der die Lektüre noch immer zu einem Vergnügen macht.

Titelbild

Jane Austen: Stolz und Vorurteil. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Helga Schulz.
Brockhaus Verlag, Mannheim 2013.
467 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783411160242

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