Den Verbrechen der Nazis auf der Spur

Festschrift für Holocaustforscher Klaus-Michael Mallmann beschäftigt sich mit Tätern, Taten und Bewältigungsversuchen

Von Martin MunkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Munke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Trotz mancher offener Fragen lassen sich die vergangenen beiden Jahrzehnte als „zweifellos produktivste Phase der gesamten bisherigen Holocaustforschung“ in Deutschland charakterisieren. Ein Wissenschaftler, der daran maßgeblichen Anteile hatte und hat, ist Klaus-Michael Mallmann. Ausgangspunkt für Mallmanns Beschäftigung mit den Verbrechen der Nazis bildete seine Beteiligung am Projekt „Die Gestapo 1933–1945“ an der Freien Universität Berlin in den 1990er-Jahren. Seit 2001 an der Universität Stuttgart tätig, wurde er wissenschaftlicher Leiter der Forschungsstelle Ludwigsburg, die bei der „Ludwigsburger Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen“ angesiedelt ist und sich der wissenschaftlichen Aufarbeitung der dort lagernden umfangreichen Materialien zur Verbrechensgeschichte des NS-Regimes widmet. Zu Mallmanns 65. Geburtstag widmeten ihm Mitarbeiter und Weggefährten eine umfängliche Festschrift, die sich Problemen und Perspektiven der sogenannten Täterforschung als Teildisziplin der Holocaustforschung widmet.

Während in der Geschichtswissenschaft lange Zeit die Haupttäter im Mittelpunkt standen – die Führungsriege der Nazis um Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Heinrich Himmler –, hat in der jüngeren Vergangenheit eine intensive Beschäftigung mit den zuvor oft nur als „Gehilfen“ eingestuften Tätern der „zweiten“ und „dritten“ Reihe stattgefunden: den Führungskräften und Mitarbeitern in den verschiedenen Ministerien, Dienststellen und Parteiorganisationen einerseits, den direkt am Holocaust Beteiligten in den Einsatzgruppen, Konzentrationslagern und der Wehrmacht andererseits. Zur Popularisierung und breiten Rezeption dieser Forschung trugen mehrere Projekte bei, die weit in die deutsche Öffentlichkeit hineinwirkten. Ab 1995 befasste sich die „Wehrmachtsausstellung“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung mit der lange wenig beachteten Beteiligung der Wehrmacht an Verbrechen vor allem im Krieg mit der Sowjetunion und zog dabei in konzeptioneller Hinsicht einige Kritik auf sich. 1996 war es dann die Studie des US-amerikanischen Politologen Daniel Goldhagen „Hitler’s Willing Executioners“, dessen These eines gesamtgesellschaftlichen deutschen, „eliminatorischen“ Antisemitismus’ als Voraussetzung für die Beteiligung „ganz gewöhnlicher Deutscher“ am Holocaust für kontroverse Debatten sorgte.

Zum Konzept der sich in diesem Kontext etablierenden „Neueren Täterforschung“ als Ansatz zur empirischen Rekonstruktion des Massenmordes an den europäischen Juden, aber auch der Nachgeschichte dieser Verbrechen gehörte zunächst die individual-biografische Schilderung und Deutung einzelner Lebensläufe. Eines der herausragenden Beispiele dafür ist die Studie des Freiburger Historikers Ulrich Herbert über den SS-Obergruppenführer Werner Best – „Theoretiker, Organisator und Personalchef der Gestapo“ (so Carsten Dams und Michael Stolle in einer einschlägigen Gesamtdarstellung aus dem Jahr 2008) und Stellvertreter von Reinhard Heydrich im Reichssicherheitshauptamt –, erstmals 1996 erschienen und seitdem in mehreren Auflagen wiederveröffentlicht. Herberts Untersuchung bildete das Vorbild für viele ähnlich gelagerte Darstellungen zu Protagonisten auf verschiedenen Ebenen und an verschiedenen Stellen des NS-Regimes – von der Betrachtung des Gauleiters von Ostpreußen und Reichskommissars der Ukraine Erich Koch (2007) durch den Hagener Historiker Ralf Meindl bis hin zur Arbeit zum SS-Obergruppenführer und leitenden Verwaltungsjuristen im Reichsinnenministerium Wilhelm Stuckart (2012) des Berliner Juristen Hans-Christian Jasch. Sie trug so entscheidend mit zur Renaissance der Biografie als historiografischer Darstellungsform bei. Auch das Dissertationsprojekt des Rezensenten zu Georg Leibbrandt, dem engen Mitarbeiter Alfred Rosenbergs im „Außenpolitischen Amt der NSDAP“ und im „Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete“, weiß sich diesem Ansatz verpflichtet.

Ein zweites Forschungskonzept in diesem Umfeld bezieht sich darüber hinaus auf gruppenbiografische Betrachtungen. Vorbild hierfür war und ist das Buch „Ordinary Men“ des US-amerikanischen Historikers Christopher Browning aus dem Jahr 1992 über das Reserve-Polizeibataillon 101 und die „Endlösung“ in Polen, das unter dem Titel „Ganz normale Männer“ bereits ein Jahr später in deutscher Übersetzung erschien, und das Goldhagen in seinem Beitrag stark kritisiert hatte. Hier finden sich ebenfalls eine Reihe von Bezugnahmen und Anknüpfungen, etwa bei der Arbeit der Freiburger Historikerin Karin Orth zur Konzentrationslager-SS (2000) oder in der Studie des Berliner Historikers Michael Wildt zum Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes „Generation des Unbedingten“ (2002). In diesem Kontext lässt sich nun auch Mallmanns Forschungstätigkeit verorten, die sich in den vergangenen Jahren intensiv dem Phänomen Täterschaft eben in den Reihen der Gestapo, aber auch der Ordnungs- und Sicherheitspolizei widmete. Einschlägig sind hier die in Ludwigsburg erarbeiteten Dokumentationen zu den Einsatzgruppen in Polen (2008) und in der Sowjetunion (2011). Aber auch der individual-biografische Ansatz findet hier seinen Platz – etwa im breit rezipierten, gemeinsam mit dem Flensburger Historiker Gerhard Paul herausgegebenen Sammelband „Karrieren der Gewalt“ (2004), der jüngst neu aufgelegt wurde.

All diese Aspekte spiegeln sich auch in der durch ein Orts- und Personenregister gut erschließbaren Festschrift wider, deren Zusammenstellung und Herausgabe durch Jürgen Matthäus (Leiter der Forschungsabteilung am United States Holocaust Memorial Museum in Washington), Andrej Angrick (wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur) und Mallmanns Ludwigsburger Mitarbeiter Martin Cüppers besorgt wurde. In drei Abschnitten und 19 Beiträgen greift sie aktuelle Forschungsfragen auf, befasst sich zunächst mit Tätern und Taten, thematisiert dann Quellen- und Darstellungsprobleme und widmet sich schließlich der Frage der justiziellen Aufarbeitung und Ahndung von NS-Verbrechen. Dabei werden Erkenntnisgewinne der vergangenen Jahre resümiert, Desiderate benannt und ein weites Spektrum methodischer Herangehensweisen benannt. Die breite Beteiligung von Repräsentanten der internationalen Holocaustforschung wie eben Christopher Browning, aber auch Donald Bloxham (Edinburgh) und Mark Roseman (Bloomington) zeigt die über die Grenzen der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft hinausgehende Bedeutung der Tätigkeit der Ludwigsburger Forschungsstelle und Mallmanns eindrucksvoll auf.

Bloxham widmet sich – als Vertreter einer maßgeblich von ihm mitgeprägten vergleichenden Genozidforschung – Fragen zum Phänomen Täterschaft im Spannungsfeld von persönlicher Verantwortung, systemischer Radikalisierung und integrierender Potenz der nationalsozialistischen Ideologie. Als Bezugspunkt dient ihm neben der Vernichtung der europäischen Juden der Völkermord in Ruanda. Anhand beider Fallbeispiele betont Bloxham, dass „Täterverhalten“ jeweils „aus einer Fülle unterschiedlicher, sozial und kulturell vermittelter Faktoren“ resultiere. Die eine Erklärung, warum „ganz normale Männer“ zu Massenmördern wurden, gibt es nicht. Es ist eines der großen Verdienste der jüngeren Holocaust-Forschung, hier multiperspektivische Antwortmöglichkeiten zu liefern.

Den Blick für vergleichende Aspekte öffnet auch der israelische Historiker Dan Michman (Ramat Gan). Er konstatiert (zu Recht) eine weitgehende Konzentration der deutschen und der angloamerikanischen Forschung auf die „östliche Dimension“ der NS-Verbrechen. Angesichts der ungeheuren Verheerungen, welche das Vorgehen von SS, Wehrmacht und lokalen Kollaborateuren dort anrichtete, wohl ein verständlicher Schwerpunkt. Regionalstudien aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden zur dortigen Politik gegenüber der jüdischen Bevölkerung würden demgegenüber nur in ihren Entstehungsländern rezipiert. Ein Blick auf verbrecherische Handlungsmuster jenseits des Massenmords könne dazu beitragen, in einer „integrativen Geschichtsschreibung“ weitergehende Deutungsmuster der NS-Herrschaftspraxis zu entwickeln – zumal angesichts der großen Heterogenität der jüdischen Gemeinden in Europa, die eine einfache Übertragung von nationalen/regionalen/lokalen Erkenntnissen verbietet.

Auf frühere Prozesse zur Ahndung von Nazi-Verbrechen in der Bundesrepublik konzentriert sich Christina Ullrich (Marburg). Am Beispiel der Verurteilung des SS-Hauptscharführers Martin Weiss, der zwischen 1941 und 1944 in verschiedenen Positionen in Vilnius/Wilna tätig war, schildert sie zentrale Deutungsmuster zwischen den Polen „grausamer Einzeltäter“ in der Außen- und „Teil einer Struktur“ in der Innensicht. Der Prozess vor dem Landgericht Würzburg fand 1950 statt und markiert damit den Übergang zur deutschen Gerichtsbarkeit. Eine besondere Rolle nahm dabei der hohe Wert ein, der Augenzeugenaussagen beigemessen wurde – ein Beweismittel, das später geringer veranschlagt wurde. So gelang es gerade dem ersten Verfahren gegen Angehörige der Einsatzgruppen – neben Weiss stand August Hering als Führer eines Sonderkommandos vor Gericht – „Verfolgungswirklichkeit mit ihrem Grauen sowie individuelle Verantwortlichkeiten abzubilden“; eine „Generalamnestie“ hat es entgegen mancher Behauptung nicht gegeben. Dieser Befund ist einer, der gemeinsam mit anderen im Band wichtige Facetten der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Naziverbrechen aufzeigt. Dass die Beiträge dabei nur Einzelaspekte beleuchten können, ist selbstverständlich. Das von den Herausgebern formulierte Ziel eines „zeitgemäßen Einblick[s]“ in die gegenwärtige Forschung wird aber zweifelsohne erreicht.

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Martin Cüppers / Jürgen Matthäus / Andrej Angrick (Hg.): Naziverbrechen. Täter, Taten, Bewältigungsversuche.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2013.
397 Seiten, 59,90 EUR.
ISBN-13: 9783534263110

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