Intimes Selbstporträt und zugleich Selbstdarstellung

Der zweite Band der Tagebücher der amerikanischen Glamour-Intellektuellen Susan Sontag

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die amerikanische Schriftstellerin, Publizistin und Regisseurin Susan Sontag (1933-2004) war eine der schillerndsten Figuren im US-Literaturbetrieb der letzten Jahrzehnte. Als aktive Feministin war sie eine glamouröse Intellektuelle, die sich in vielen Artikeln und Essays auch politisch einmischte. Dabei war ihr Blick nicht nur auf die amerikanische Gesellschaft gerichtet, sie beleuchtete kritisch die Werte der gesamten westlichen Kultur. So erhielt sie 2003 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, bei dessen Verleihung der US-Botschafter eine Teilnahme abgelehnt hatte.

Viele ihrer Werke, vor allem die essayistischen, erschienen in deutscher Übersetzung. Vor vier Jahren brachte der Hanser Verlag den ersten Teil ihrer Tagebücher unter dem Titel „Wiedergeboren“ (1947-1963) heraus, die den Reifeprozess einer jungen Frau, darunter auch ihre Gefühlswelt, dokumentierten.

Mit „Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke“ liegt nun die Fortsetzung vor (1964-1980). Sie umfasst die Lebensspanne, in der Susan Sontag von der noch unbekannten Schriftstellerin zum gefragten Star der US-Literaturszene wurde. Das ist in zahlreichen Notizen nachzulesen, die von den Kontakten mit anderen Schriftstellerkollegen und Intellektuellen (unter anderem Paul Bowles oder György Konrad) berichten. Mit dem russisch-amerikanischen Dichter Joseph Brodsky verband sie eine besonders innige Freundschaft.

Auf ihren zahlreichen Reisen, besonders nach Europa, führte Sontag ebenfalls Tagebuch. So findet man Notizen aus Paris, Karlovy Vary, Prag, Stockholm, Neapel, Rom und dem kommunistischen Nordvietnam. Diese Reiseeindrücke sind auch ein Grund, dass sich Sontag in diesen Jahren von ihren anfänglich kommunistischen Gedanken abwendet. In London hatte sie intensiven Kontakt zu dem englischen Theaterregisseur Peter Brook, mit dem sie über viele Jahre eng verbunden war.

Auch die Liebesbeziehung und die Trennung von der Dramatikerin María Irene Fornés, die in ihrem Leben der große Wendepunkt war, spielt in den Aufzeichnungen immer wieder eine Rolle: „Sie machte mich mit einem Gedanken bekannt, der mir vollkommen fremd war … ­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­– nämlich dem, mich selbst zu sehen“. Diese Beobachtungen der eigenen Person aus der Distanz sind ein weiterer Aspekt der Tagebuchaufzeichnungen: „Ich denke an mich selbst. Ich wünsche mir Ganzheit, Harmonie, Reife, Zufriedenheit, innere Ruhe …“. Die Beziehung zu ihrer Mutter wird in einigen Passagen ebenfalls ausführlich beschrieben. Mit ihrer Brustkrebs-Erkrankung, die selbst im Tagebuch jahrelang verschwiegen wird, taucht auch das Thema „Tod“ auf.

Neben diesen Selbstbetrachtungen und Kontaktschilderungen machen zahllose kurze Notizen den Großteil des Tagebuchbandes aus. Seitenlange Listen von gelesenen (oder noch zu lesenden) Büchern, von angesehenen Filmen oder Fernsehsendungen geben einen Eindruck von den vielfältigen Interessen der Schriftstellerin. Kindliche ‚Mag ich‘- oder ‚Mag ich nicht‘-Listen verraten dagegen eine gewisse Naivität. Dazwischen befinden sich immer wieder hastig hingeworfene Notizen und Stichworte, die sich dem Leser allerdings nur selten erschließen, da es außer einem Register keine Anmerkungen oder Erläuterungen gibt. Auch für die Gründe der oft großen Zeitlücken in den Eintragungen gibt der Herausgeber David Rieff, Susan Sontags Sohn, keine Hinweise. Oder handelt es sich um Streichungen?

„Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke – Tagebücher 1964-1980“ dokumentiert, wie Susan Sontag ihre eigene intellektuelle Persönlichkeit für die Öffentlichkeit formte, ohne dabei ihre inneren Gedanken und Gefühle zu verschweigen. Demnächst soll ein dritter Band der Tagebücher folgen.

Titelbild

Susan Sontag: Ich schreibe, um herauszufinden, was ich denke. Tagebücher 1964-1980.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum.
Carl Hanser Verlag, München 2013.
359 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783446243408

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