Das zweite Buch

Matthias Wittekindt hat mit „Marmormänner“ seinen zweiten großartigen Krimi geschrieben

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das erste Buch ist im Grunde genommen einfach: Hier finden sich alle Ideen und aller Anspruch, was eben häufig zu einem gelungenen Auftakt reicht. Das zweite Buch ist eigentlich die Herausforderung. Es muss anders sein und doch das erste weiterschreiben; es kann das Niveau des ersten eigentlich nie halten und ist doch gezwungen, es noch zu übertreffen, was allzu häufig grandios schief geht. Überspringen kann man dieses vermaledeite zweite Buch nicht, nur zur Publikation auslassen, was sich aber am Ende auch niemand traut.

Nun, Matthias Wittekindt ist eine Ausnahme, wie es scheint. „Schneeschwestern“, 2011 ebenfalls bei Nautilus herausgekommen, war bereits grandios. „Marmormänner“ ist es nicht weniger. Wittekindt hat mit seinem Ermittlerteam rund um Roland Colbert seine tragende Idee entwickelt. Denn die verschiedenen Charaktere ergeben eine brisante, aber höchst unterhaltsame Mischung: Da gibt es den Schweigsamen, der die Befragten stets erzählen lässt; es gibt die Forensikerin, die analytisch denkt, aber vor allem private Probleme hat; es gibt die Verwaltungsfrau, die es ins Ermittlerteam verschlägt; es gibt den Mitläufer und natürlich den Kommissar selbst, den es aber in diesem Band in die Politik verschlägt.

Jede der Figuren hat ihren je eigenen Zugang zu den Fällen, die Wittekindt hier zu einem unterhaltsamen Tableau zusammenfügt. Da geht es vor allem um vier verschwundene Männer, einen alten Fall, der seit den 1970ern ungelöst ist und nunmehr neu aufgenommen wird. Es geht um einen völlig verrückten Mann, der seine Tochter zu entführen versucht, und sie dabei fast umbringt. Beide Fälle stehen unvermittelt nebeneinander und sind doch topographisch miteinander verbunden, weil sie mehr oder weniger am selben Ort spielen: auf dem Gelände einer Neubausiedlung und in der Nachbarschaft einer Autobahn, die in den 1970er Jahren gebaut wurde.

Vier Männer sind in dieser Zeit verschwunden, nur einer wird in einem Entwässerungsschacht der Autobahnbaustelle aufgefunden: mit durchgeschnittener Kehle, verformt durch den Fall im Schacht und mit marmorner Haut, was wohl darauf zurückzuführen ist, dass er einige Tage im Regenwasser gelegen hat, das ihn aus seinem Loch geschwemmt hat.

Der Tote wie die Verschwundenen geistern seitdem als „Marmormänner“ durch das kollektive Gedächtnis des Städtchens namens Fleurville, das nahe der deutschen Grenze liegt. Immer wieder publiziert das lokale Blättchen neue Nachrichten zum uralten Fall, der als unaufgelöstes Ereignis subkutan weiterwirkt. Nur Roland Colbert, der zuständig wäre für neue Ermittlungen, will davon nichts wissen, lässt sich aber doch umstimmen. In einer Augenblickslaune, und weil er selbst für einen Moment mit seiner Vergangenheit in Kontakt kommt.

Die Ermittlungen überträgt er einem Frauenduo, der Laborfrau Marie Grenier und Gabrielle Mazet, die aus der Verwaltung zur Mordkommission gestoßen ist. Nur, die Frauen mögen sich nicht, und sie sind auch keine Ermittlerinnen. Die eine, Marie, verlässt sich nur auf das, was sie beweisen kann, die andere ist es gewohnt zu organisieren und sich so ein Feld zu erschließen. Für einen solchen alten Fall ist das ideal, was sich denn auch erweisen wird. Wittekindts Verfahren ist dabei mehrfach gebrochen: Zum einen verlegt er seine Handlung nicht an einen deutschen, sondern an einen französischen Schauplatz, was ihn zu einer Ausnahme im deutschen Krimimarkt macht. Das ist gekonnt und souverän geschrieben, und es ist nicht nur den fremden Personen- und Ortsnamen zu verdanken, dass Wittekindts Roman einen eigenen, französisch wirkenden Tonfall erhalten hat.

Zum anderen verlegt er sich fast völlig auf die Perspektive seiner Protagonisten. Mit Ausnahme der wenigen Seitensprünge in die vermeintliche Täterpsyche bleibt der Leser auf die Sicht der Figuren beschränkt. Nur gelegentlich schneidet Wittekindt die Erzählung, bevor sie zum entscheidenden Punkt kommt, ab, um den Spannungsbogen zu bilden und zu erhalten.

Und schließlich genügen ihm teils nur sehr knappe Erzählabschnitte, um die Handlung voranzutreiben – wobei es ihm noch gelingt, einige Nebenhandlungen mit zu berücksichtigen: dieses Mal aus dem Privatleben vor allem Marie Greniers. Bei den Ermittlungen ist schließlich nichts so, wie es seinerzeit zu sein schien. Die ursprünglichen Ermittlungen werden völlig verworfen. Der Fall war, wie ein externer Ermittler berichtet, dessen Erkenntnisse damals nicht fruchtbar gemacht wurden, eigentlich einfach. Nur hat der damals ermittelnde Kommissar die Erkenntnisse jenes Ermittlers nicht berücksichtigt. Warum? Das bleibt offen.

Aber am Ende steht so etwas wie Befreiung wenigstens für einen Teil der Akteure: Die Wohnungsbaugesellschaft, die ihre Siedlung erweitern will, kann sich durchsetzen, Marie kann sich aus ihrer eigenen Vergangenheit lösen, und der Fall, der die Stadt wie ein schlechtes Omen belastet hat, wird gelöst – was in diesem Fall vor allem heißt, dass die Erzählung die Wahrheit wissen darf, die übrigen Leichen gefunden werden und das Schicksal des vierten Marmormannes gleichfalls geklärt wird.

Das alles nun ist mit einer Leichtigkeit erzählt, die in der deutschsprachigen Krimiliteratur Seltenheitswert hat. Das aber macht Wittekindt in der Tat zu einer außergewöhnlichen Erscheinung und seine bisherigen beiden Bücher zu lohnenswerten Lektüren.

Titelbild

Matthias Wittekindt: Marmormänner. Kriminalroman.
Edition Nautilus, Hamburg 2013.
288 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783894017729

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