Alltäglichster Alltag

Hedwig Pringsheims dritter Tagebuch-Band umfasst die Jahre 1898 bis 1904

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist noch kein Jahr her, da erschienen die ersten beiden Bände der Tagebücher von Hedwig Pringsheim (1885 bis 1891 beziehungsweise 1892 bis 1897). Und nun liegt bereits der dritte, die Jahre 1898 bis 1904 abdeckende Band vor.

Seine Ausstattung und der formale Aufbau gleichen denjenigen der beiden vorangegangenen Bände, wobei die Herausgeberin Cristina Herbst in der umfangreichen Einleitung und den zahlreichen Fußnoten wiederum ihre profunden Kenntnisse der Biografie Pringsheims, ihrer Freund- und Bekanntschaften sowie überhaupt ihres gesamten sozialen Umfelds unter Beweis stellt.

Auch die Tagebucheinträge selbst unterscheiden sich in formaler Hinsicht nicht von denjenigen der ersten Bände. Meist umfassen sie nur wenige Zeilen, in denen in knappster Form alltägliche Ereignisse festgehalten werden, die sich jahraus, jahrein kaum unterscheiden. Von den vierzehn, maximal fünf Druckzeilen umfassenden Einträge vom 18. Juni bis zum 1. Juli 1900 schließen etwa nicht weniger als zwölf mit den in ihrer Eintönigkeit fast etwas trist klingenden Bemerkungen „Wie üblich“, „Abend üblich“, „abends wie üblich“, „dann das übliche“, „wie immer“, „dann wie immer“ oder „Abend wie immer“. An anderen darauffolgenden Tagen notiert Pringsheim „Dito, dito“ oder „Immer das gleiche!“ Angesichts eines solchen Einerleis, ist ihr die Mitteilung, dass sich ihr Gatte Alfred und ihr Sohn Erik die Schnurrbärte abrasieren, schon mal ein Ausrufezeichen wert. Familiäre Unstimmigkeiten werden kaum einmal erwähnt. Doch klagt sie einmal über „Eriks verbrecherischen Leichtsinn in Geldsachen“.

Das politische Geschehen interessiert die Tagebuchschreiberin kaum. Gerade einmal, dass sie am 31.7.1898 – ohne jeden Kommentar – notiert „Bismark [sic] heute Nacht gestorben!“, wobei immerhin das Ausrufezeichen die Bedeutung des Ereignisses unterstreicht.

Selbst der Frauenbewegung, für die sich ihre Mutter Hedwig Dohm so eloquent stark machte, begegnete sie mit kaum mehr als mäßigem Interesse. So weist die Herausgeberin darauf hin, dass Pringsheim zwar annähernd zwei Jahrzehnte Mitglied im „Verein für Fraueninteressen“ (1897-1916) gewesen ist, ohne sich allerdings in ihm zu engagieren. Besuche feministischer Veranstaltungen verzeichnet das Tagebuch denn auch nur selten. Ohne jeden Enthusiasmus notiert Pringsheim etwa, dass sie im Januar 1898 einen Vortrag von Anita Augspurg, einer Protagonistin des radikalen Flügels der Frauenbewegung, besuchte, der sie allerdings „recht enttäuschte, indem [Augspurg] statt einer ‚Kritik der Frauenbewegung’ ein Referat brachte“. Einen Vortrag Ricarda Huchs „über Frauenstudium findet sie Ende 1902 „ganz anregend“, nur die anschließende Diskussion sei „ziemlich überflüssig“ gewesen.

Nur sehr gelegentlich ragen besonders einschneidende Ereignissen und Entwicklungen in Pringsheims eigenem Leben oder persönlichem Umfeld heraus. War es im zweiten Band der Skandal um den Roman „Sibilla Dalmar“, den ihre Mutter Hedwig Dohm 1896 veröffentlichte, so sind es diesmal die Festungshaft des befreundeten Verlegers Maximilian Harden in den Sommer- und Herbstmonaten 1898 – er hatte sich mit einem in der „Zukunft“ erschienenen Text der Majestätsbeleidigung schuldig gemacht – und natürlich die Verlobung ihrer Tochter Katja mit Thomas Mann im Herbst 1904.

Den Alltag aber bestimmen wie bereits in all den Jahren zuvor Einträge über die umfangreiche Korrespondenz, wobei die Tagebuchschreiberin die Briefein- und -ausgänge penibel notiert, ohne je einmal ein Wort über deren Inhalt zu verlieren, und die ebenso zahlreiche wie vielfältige Lektüre Pringsheims sowie ihre regelmäßigen Besuche von Schauspielen, Konzerten und Opern. Pringsheims Lektürepensum der Jahre 1898 bis 1904 umfasst neben ungezählten Romanen naturwissenschaftliche Werke von Wilhelm Bölsche oder Philosophiegeschichtliches und Philosophisches wie die „Geschichte des Materialismus“ aus der Feder des neukantianischen Urvaters Friedrich Albert Lange. An nur einem Tag liest sie parallel in „Christa Ruland“, H. G. Wells „Time-Machine“ und Emile Zolas „Rome“, an einem anderen in „Mauthners „Beiträge zur Kritik der Sprache“ und Dantes „Göttliche Komödie“.

All dies wird meist verzeichnet, ohne dass Pringsheim ihre Eindrücke des Gelesenen, Geschauten und Gehörten notiert. Urteilt sie allerdings doch einmal, dann sehr dezidiert. Frank Wedekinds Tragödie „Erdgeist“, die sie im Volkstheater sieht, lobt sie etwa als „ein cynisch-freches, riesig talentvolles Stück“, Carry Brachvogels Roman „Die große Pagode“ tadelt sie hingegen als „schrecklich“ und Franziska zu Reventlows „Ellen Olestjerne“ gilt ihr als „ganz schlechtes Buch“.

Auch die Manuskripte, die sie von ihr Mutter nach wie vor in steter Regelmäßigkeit zugesandt bekommt, liest sie, um sie mit Anmerkungen versehen zurückzusenden oder mit ihr bei dem nächsten der häufigen gegenseitigen Besuche zu besprechen. Darunter Dohms offenbar unpubliziert gebliebenes und vermutlich verlorenes Manuskript „Das ächte Weib“.

Bei einem dieser Besuche trifft sie Gabriele Reuter an. Die der Frauenbewegung nahestehende Autorin schickt Pringsheim ihren neuen Roman „Ellen von der Weiden“, dessen Lektüre Pringsheim noch am gleichen Abend zu lesen beginnt und – nicht untypisch – am nächsten beendet. Dabei handelt es sich nicht einmal um die einzige Lektüre der beiden Tage.

Trotz ihrer ‚Lesewut’ tut sie sich allerdings keineswegs jede beliebige Lektüre an. In Otto Weiningers „Geschlecht und Charakter“ blättert sie etwa nur ein wenig, bevor sie es aus der Hand legt. Von ihrer oftmals harschen Kritik nimmt sie auch Künstler ihres näheren Bekanntenkreises, zu denen etwa Karl Wolfskehl, Annette Kolb und Else Lasker-Schüler zählen, keineswegs aus. So gilt ihr Maximilian Bernsteins „Mädchentraum“ als „ganz anmutiges, törichtes Stück in Versen“ und Björn Björnsons „Johanna“ als „ziemlich schwaches, undramatisches Stück“, während ihr Otto Julius Bierbaums Bohème-Roman „Stilpe“ hingegen „sehr wolgefiel“ und Arthur Schnitzlers „Grüner Kakadu“ von ihr gar als „frech, witzig, wirkungsvoll, durchschlagend“ geschätzt wird. Auch große Namen fallen ihrer Kritik anheim, wie etwa das „erstaunlich schwache, undramatische Stück“ mit dem Titel „Clavigo“. Immerhin: Von Goethe hätte sie offenbar doch etwas anderes erwartet. Aber auch den „Götz“ kanzelt sie als „recht elendes Stück“ ab.

Ab Sommer 1901 besucht sie regelmäßig das Kabarett der „11 Scharfrichter“. Bei ihrem ersten Besuch ist sie von dem „gemütlichen Lokal“ mehr angetan als von den „mäßigen Darbietungen, die nichts reformieren werden“. Trotz dieser nicht eben enthusiastischen Bemerkung besucht sie das Kabarett immer wieder, und zuweilen gefällt ihr das Programm gar nicht so übel. Im November des gleichen Jahres notiert sie nach einer Aufführung, „die Ehrenexekution der ‚Scharfrichter’„ habe „viel langweiliges, dilletantenhaftes, manches amüsante und gelungene“ geboten. Im Dezember sieht sie sogar „lauter gute, wirksame Nummern“. Ein andermal verlässt sie das Kabarett „nach dem ersten Teil“ jedoch schon wieder. Wedekind aber, lobt sie, sei einer der „weitaus […] frechsten u. begabtesten“ der Scharfrichter. Eine Meinung, mit der sie durchaus nicht alleine stand. Bemerkenswert ist auch, dass Pringsheim, die sonst so selten ein Urteil notiert, nicht einen ihrer Besuche bei den „11 Scharfrichtern“ festhält, ohne die Darbietung, wenn auch nur knapp zu kommentieren.

Insgesamt sind von den zahlreichen Einträgen nur wenige von wirklichem, dafür aber zumindest teilweise von umso größerem Interesse. Am 5. Februar 1904 betritt Thomas Mann mit dem Eintrag „beim Thee Else B[ernstein] mit Thomas Mann“ die Bühne des Tagebuchs. Sein Interesse für Pringsheims Tochter Katja wird bald offenkundig, und es dauert nicht lange, bis er ihr erste Briefe schickt, was Pringsheim nicht nur zu dem Notat „Quasi-Liebesbrief (d.h. für Katja) von Thomas Mann“ veranlasst, sondern sie des Abends zu seinen Novellen greifen lässt. Von nun an notiert sie nicht nur das Eintreffen und Absenden von Briefen der eigenen Korrespondenz, sondern auch schon mal die zwischen ihrer Tochter und Thomas Mann. „Langer Brief von Mann an Katja.“ Nicht allzu lange und der Schriftsteller firmiert als „Tommy“ im Tagebuch. Katja überlässt Manns Liebesbriefe ihrer Mutter nicht nur zur Lektüre; die Antwortbriefe an ihn fassen die Verehrte und ihre Mutter schon mal gemeinsam ab.

Dass eine Tochter ihre Mutter an der Korrespondenz mit dem geliebten Mann derart teilhaben lässt, dürfte auch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht unbedingt üblich gewesen sein. Doch nicht nur Manns Briefe liest (und beantwortet) Pringsheim nun gemeinsam mit ihrer Tochter. Auch in seinen literarischen Werken wird jetzt öfter gelesen. Allen voran selbstverständlich in „Buddenbrooks“. Und auch zu Novellen von Manns Bruder Heinrich greift Pringsheim nun.

Außerdem unternehmen sie zu viert – Hedwig Pringsheim, ihr Mann Alfred, Tochter Katja und Thomas Mann – gemeinsame Radtouren und anderes. Auch an dem von Thomas Mann in der Kurzgeschichte „Beim Propheten“ aufs Korn genommenen literarischen Abend bei Stefan George nahm Pringsheim teil. Bei ihr fand das Ereignis ebenso wenig Beifall wie bei Thomas Mann. „Seltsam gemischtes Publikum in einem merkwürdig abgestimmten Raum: drönender Unsinn, ohne einen greifbaren Gedanken, einen fasslichen Plan. Religiöser Größenwahnsinn“, notiert sie. Inwiefern dem Notat ein Gespräch mit Mann vorausgegangen ist, muss offen bleiben.

Am 3. Oktober 1904 kann Pringsheim „endlich Katjas Verlobung mit Tommy“ vermeldet, was ihr „schmerzlich-wehmütige Erleichterung“ verschafft. Der Tagebuch-Eintrag bleibt dabei ganz im üblichen Stakkato-Stil: „Tommy als Bräutigam zum Tee, Abend, Glückwunsch-Sekt“. Am Silvesterabend des gleichen Jahres endet der vorliegende Tagebuch-Band. Nicht mit Sekt, sondern mit Punsch – und ohne Thomas Mann.

Sollte die Edition weiterhin so zügig voranschreiten wie bisher, so dürfte nicht nur alsbald mit dem vierten Band zu rechnen sein, sondern die Ausgabe in absehbarer Zeit abgeschlossen werden. Erfreuliche Aussichten für die kommenden Jahre.

Titelbild

Hedwig Pringsheim: Tagebücher. 1898-1904.
Herausgegeben von Cristina Herbst.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
800 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-13: 9783835314269

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