Gedankenstriche

Ludwig Steinherrs Gedichtband „Nachtgeschichte für die Teetasse“ ist ein Gedankenstrom

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ludwig Steinherrs Gedichte sind aufwühlende Gedankenströme. In seinem Band „Nachtgeschichte für die Teetasse“ vereint er fünfundsiebzig Poeme. Er führt den Leser an ungewöhnliche Orte – Traumwelten, eine Eisenbahnbrücke, einen Friedhof, eine Kathedrale und eine Klinik für Sexsüchtige. Es wird erbrochen und sich mit Benzin übergossen. Steinherrs handelnde Personen haben eine „Million Volt Fieber“, eine regenfeuchte Stirn und fantasieren im Halbschlaf. Einer Bettlerin fehlt die Nase, sie lächelt trotzdem. Ein „tosender Strom von Blut“ ist im vergrößerten Auge eines Betenden zu sehen. Satyrn springen „von Nymphe zu Nymphe / in immerwährender Erektion“. Steinherr lässt Beziehungen zerbrechen, Einsame durch die Dämmerung irren und Wahnsinnige sinnieren.

Er gönnt dem Leser keine Pausen. Eindrückliche Bilder strömen auf ihn ein, ein wilder Gedankenstrom voller Vergleiche und Schnittpunkte „unendlicher Parallelen“ – zu was? Zu „derben Steinmadonnen / aus dem Castelvecchio“ beispielsweise, die Gesichter wie Masken tragen. Es ist schwer zu greifen, die Bilder und Gedanken sind wie „ein leuchtendes Spinnennetz / in dem Menschen zappeln“. Sie sollen aufwachen. Es ist, als rüttele Ludwig Steinherr das „Du“, mit dem das lyrische Ich immer wieder lautstark Meinungsverschiedenheiten austrägt. Zwischen tiefster Finsternis und einer blutroten Sonne richtet das lyrische Ich schließlich den Blick in den Himmel: „Ist da noch wer im nächtlichen Universum?“

Und auch die Form des wilden Gedankenstroms erscheint diffus und schwer zu greifen. Manch ein Zitat ist kursiv gesetzt, manches nicht. Manche Gedichte sind mit doppeltem Zeilenabstand gesetzt, manchmal drängen sich die Zeilen eng aneinander. Mit achtzehn Kommata kommen die fünfundsiebzig Gedichte aus. Und die sparsam gesetzten Kommata trennen Appositionen von Ausrufen, sie teilen ein hervorgestoßenes „ja“ oder ein „aber nein“ vom Satz ab. Selten setzt Ludwig Steinherr hingegen ein Komma zwischen die einzelnen Elemente seiner zahlreichen Aufzählungen. Relativsätze lässt der Autor gänzlich ohne Satzzeichen in den Zeilen schweben. Dem Komma wird somit seine strukturierende Funktion abgesprochen.

An die Stelle des Kommas tritt häufig der Gedankenstrich. Mit ihm geizt Steinherr nicht. Gedankenstriche sind in großer Anzahl üppig zwischen Satzteile gezogen und bilden ein Kernelement der Gedichte. Sie bemühen sich um eine Strukturierung des scheinbar Unstrukturierbaren, sie sollen eine neue Sprachmelodie schaffen, die dem an gesprochene Rede und springende Gedanken erinnernden Fluss angemessen ist. Denn jener Fluss ist nichts anderes als ein rauschartiger Zustand – mal ein Dialog mit einem imaginären Gesprächspartner, mal ein Gebet, das den Teufel anruft, und mal ein verzweifeltes Fragen ohne Antworten. Schließlich berichtet das Ich von überwältigenden mystischen Erfahrungen. Alkohol spielt eine wichtige Rolle. Apokalyptische Reiter „besaufen sich an schwarzgebranntem Höllen-Fusel“. Zehn Gedankenstriche verdeutlichen den Rausch im „Psalm nach dem zweiten Single Malt“.

Nur ein Gedicht kommt ohne einen einzigen Gedankenstrich aus: „Der Fliederbusch als Voyeur“. Das Gedicht besteht aus sechs Fragen. Zugleich bildet der Titel des Gedichts auch die Überschrift eines der neun Kapitel des Buches. Es ist ein Schlüsselgedicht des Buches. Romantik gibt es darin nicht: Der Mond wird entromantisiert, indem er zerrissen und verschluckt wird. Vor Gott hat das Ich keine Angst. In der Finsternis der Zeilen des kurzen und dennoch zentralen Gedichts verbirgt sich jedoch die Angst, die als Nährboden für alle Gedankenreisen des gesamten Gedichtbandes dient: die Angst vor sich selbst; die Angst vor den eigenen Gefühlen, die Angst vor den eigenen Sehnsüchten und Träumen sowie die Angst davor, sich selbst im Spiegel nicht wiederzuerkennen. Das Ich erkennt sich nicht mehr und schreckt vor den Geisteraugen zurück.

Weshalb erkennt sich das Ich nicht mehr wieder? Nach dem Rausch, den Fantasiewelten und den Gedankensprüngen ist es das Altern, das dem lyrischen Ich die größten Sorgen bereitet. Es scheint das eigene Alter nicht annehmen zu wollen. „Altert in Würde! / rufe ich ihnen zu“, erklärt es – um sich dann der letzten zwei morschen Backenzähne im eigenen Mund bewusst zu werden. Ungewöhnliche Sichtweisen und erschreckende Pointen gehören zu den größten Stärken des Gedichtbandes. Es ist Steinherrs dialektische Sicht, die den Leser immer wieder um neue Ecken führt und Vieles neu und anders erscheinen lässt als gewohnt. Ludwig Steinherr provoziert, indem er den Leser in Albträume führt und an ungewöhnlichen Orten stakkatohafte Thesen in Gedankenstrichen aufstellt. Schließlich stößt er ihn auf Fragen, die nachwirken. Es wird nach dem Sinn des Alterns gesucht, ohne Antworten zu erhalten; aber vielleicht hat nicht alles einen Sinn. Allem einen Sinn und eine Ordnung zusprechen zu wollen, ist nicht zielführend: Wer „rastlos / zwischen meinen Versen“ stöbert, ruft das Ich wütend aus, benimmt sich „wie eine Fegefeuerseele / auf Marderjagd“.

Titelbild

Ludwig Steinherr: Nachtgeschichte für die Teetasse. Gedichte.
Lyrikedition 2000, München 2014.
114 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783869066950

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