Land der Richter und Henker

Aus gegebenem Anlass wiedergelesen: Gisela Elsners gesammelte Essays und ihr Roman „Fliegeralarm“ sind genau die richtige Lektüre zum 70. Jahrestag der deutschen Kapitulation

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für den deutschen Literaturbetrieb zu links?

Wer ist Gisela Elsner? Diejenigen, die auf diese Frage überhaupt noch eine Antwort haben, denken wahrscheinlich an die Rolle von Hannelore Elsner in Oskar Roehlers Film „Die Unberührbare“ (2000). Darin verkörpert die Schauspielerin Hanna Flanders, eine Kunstfigur, die als Porträt der Mutter des Regisseurs angelegt ist und sich im öffentlichen Gedächtnis mittlerweile als Ikone vor die dargestellte Schriftstellerin Gisela Elsner (1937-1992) geschoben hat. Ihr hipper Sohn Oskar Roehler kann einen Film nach dem anderen über seine Mutter drehen, und er mag sie in seinen eigenen autobiografischen Büchern noch so oft umkreisen – dem Werk dieser einzigartigen Schriftstellerin bringt selbst diese medientaugliche Publicity nach wie vor nicht dasjenige breite Interesse ein, das ihm gebührt.

Gisela Elsners Texte interessieren trotz vieler positiver Besprechungen der letzten Jahre nur noch wenige Leser. Dabei dürften nach wie vor ideologische Gründe eine Rolle spielen: Vier Jahre nach Adolf Hitlers Machtübernahme in der NS-,Reichsparteitagsstadt‘ Nürnberg geboren, überholte die erwachsene Gisela Elsner als literarischer Shooting-Star der 1960er-Jahre die männlichen Salonkommunisten der Gruppe 47 bald von links. Gefragt, warum sie nicht wie mancher ihrer Kollegen nur Sympathisantin der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) geblieben sei, sondern 1977 aktives Mitglied wurde, antwortete Elsner, dass sie solche unverbindlichen Anhänger politischer Organisationen für „windige Gesellen“ halte: „Bald sind sie, wie dereinst Martin Walser, der Partei nah, bald sind sie, wie nunmehr Martin Walser, der Partei fern. Ich wollte mit diesem Gesindel, das ja doch im Ernstfall lieber Fersengeld zahlt, nichts zu tun haben. Ich trat nach reiflicher Überlegung in die DKP ein.“

Doch nicht nur aufgrund dieser klaren Ansage, die heute vielen Lesern nur noch bizarr erscheinen mag, sind Elsners Romane, ihre literarischen Essays und politischen Schriften bemerkenswert. Es sind vielfach missverstandene Kunstwerke einer Autorin, die sich literarisch an dem vergeblichen Wunsch abarbeitete, Deutschland loszuwerden. Insbesondere zur Feier des 70. Jahrestags des Kriegsendes am 8. Mai 1945 sollten Sie sich den Geheimtipp der beiden hier mit angezeigten Essay-Bände, die Christine Künzel bereits 2011 in Zusammenarbeit mit Kai Köhler im Verbrecher Verlag herausgegeben hat, auf keinen Fall entgehen lassen. Gerade jetzt lohnt sich deren Lektüre mehr denn je, und manches routinierte Statement zum 8. Mai wird man anders wahrnehmen, wenn man sich zuvor mit Elsners Kritischen Schriften gegen das übliche geschichtspolitische Gerede im Deutschen Bundestag gewappnet hat. Denn davon, dass Deutschland einen offensiven, abgeklärten und reifen Umgang mit seiner NS-Vergangenheit entwickelt hätte, kann heute ebensowenig die Rede sein wie zu Elsners Zeiten. Wenn etwa der Vizekanzler Sigmar Gabriel (SPD) die griechische Bitte um Erstattung offener Reparationen und Schulden aus der Zeit der nationalsozialistischen Besatzung als „dumm“ bezeichnet, ist klar, auf welchem patzigen Kindergartenniveau sich deutsche Politik nach wie vor bewegt.

Probleme mit der Lingua Tertii Imperii (LTI)

Dies soll nicht heißen, dass jede Zeile in Elsners Kritischen Schriften einleuchtet. Gerade die Brüchigkeit, die Widersprüchlichkeit und die Zerrissenheit der plakativen Polemiken dieser Autorin sind es, die uns heute neu herausfordern. Sie erinnern nicht zuletzt an die Problematik antiimperialistischer Vorstellungen der radikalen Linken in den 1970er- und 1980er-Jahren. Zentrale Aporien dieser Weltsicht mögen mit dazu geführt haben, dass sich Elsner 1992 das Leben nahm: Die Sowjetunion und die DDR gingen nicht etwa deshalb unter, weil Michail Gorbatschow irgendeinen dubiosen Verrat geplant hatte, wie die Autorin offenbar glaubte. Wer aber wie Elsner gar raunend von den „Machenschaften der Drahtzieher des Imperialismus“ spricht und „Gorbi“, wie begeisterte Fans der deutschen Einheit Gorbatschow in den 1980er-Jahren liebevoll nannten, als „MADE MORBI“ verspottet, neigt definitiv zu Verschwörungstheorien.

Nicht nur diese für Elsner typische Betonung bestimmter Namen oder Schlagworte durch die Nutzung von Majuskeln beginnt an solchen Stellen geradezu manisch zu wirken: Die Karikierung eines Menschen als Made, also seine Degradierung zu einem Schädling, den man normalerweise gedankenlos mit der Fußsohle zertreten oder gar mit Insektiziden bekämpfen würde, erinnert ungut an im Nationalsozialismus übliche „Stürmer“-Karikaturen. Diese stellten halluzinierte jüdische Weltverschwörer als Ungeziefer dar, um ihre komplette Entmenschung und Vernichtungswürdigkeit evident erscheinen zu lassen. In „jeder Geschwulst des kulturellen Lebens“ sah etwa Adolf Hitler in seiner ,Bibel’ des „Dritten Reichs“, „Mein Kampf“, ein „Jüdlein“ wie eine „Made im faulenden Leibe“. Hitler imaginierte sein ausgedachtes ,Weltjudentum’ als Krankheitserreger, dessen Wirkung schlimmer sei als „der schwarze Tod von einst“. ,Der Jude’ als Virus wurde so zum totalen Feindbild, das allumfassend hinter allen seinerzeit nur erdenklichen und noch so gegensätzlichen Feindbildern stehen sollte – dem Kapitalismus, dem Bolschewismus, den Engländern, Amerikanern und den Russen.

Genau diese Tradition ihrer eigenen dehumanisierenden ,MADE-MORBI’-Metapher aber hätte Elsner in ihrer Problematik auffallen müssen. Vermochte doch gerade eine solche kontaminierte Chiffre die Wut der Autorin auf die Konterrevolution in der Sowjetunion für antisemitische Deutungen anschlussfähig zu machen. An solchen Stellen wird bei Elsner spürbar, was Theodor W. Adorno mit dem Nach- und Weiterleben des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik und in der deutschen Sprache nach 1945 meinte: Selbst Gisela Elsner, die eine wachsame Kritikerin des „Jargons der Eigentlichkeit“ war, konnte sich von ihrer Polemik so mitreißen lassen, dass sie ihrerseits in jene verhängnisvollen Traditionen zurückfiel, die sie als Autorin zeitlebens so erbittert bekämpft hatte. Vielleicht aber blieb jener Text, in dem die besagte „MADE MORBI“ auftauchte, „Flüche einer Verfluchten“, gerade auch deshalb ein Fragment und wurde von der Autorin zeitlebens nicht mehr publiziert.

Von Victor Klemperers „LTI“ zu Gisela Elsners „Fliegeralarm“

Manche literarische Texte Elsners kippen ins Wahnhafte, aber ebensogut können andere ihrer Werke den verengten ideologischen Horizont der politischen Essayistin auch hinter sich lassen. Elsner, die sich Anfang der 1990er-Jahre als verkannte und zur persona non grata gewordene Autorin auf verlorenem Posten widerfand, war ein sogenanntes Kriegskind. Es ist evident, dass sie sich im Alter intensiver denn je mit ihren frühkindlichen Prägungen aus der Zeit des „Dritten Reichs“ auseinanderzusetzen begann. Dabei fällt der geradezu rauschhafte Schreibprozess auf, in dem ihr womöglich wichtigster Text zu diesem Thema in wenigen Tagen und Nächten entstand. Die Rede ist von Gisela Elsners lesenswertem Roman „Fliegeralarm“, der zuerst 1989 erschien, bei der Kritik gnadenlos durchfiel und 2009 im Rahmen der von Christine Künzel betreuten Werkausgabe wiederaufgelegt wurde. „Fliegeralarm“ handelt auf vexierbildhafte Weise von der für die Autorin nur noch satirisch zu bewältigenden eigenen Herkunft, ihrem verfluchten „Erbe“ des Nationalsozialismus.

In „Fliegeralarm“ treten Kinder im Vorschulalter auf, die fanatische Nationalsozialisten sind, ausschließlich in einer halbverstandenen NS-Propagandasprache kommunizieren und schließlich einen ,arischen’ Kommunistensohn aus der Nachbarschaft kurzerhand zum „Juden“ stempeln, um ihn in einem zerbombten Haus zu fesseln, zu foltern und qualvoll sterben zu lassen. Die Kinder setzen sich dieses Hassobjekt mit Hilfe ihrer eigenen Version des NS-Propagandawahns zusammen. Sie nutzen ihr verzerrtes NS-Weltbild wie eine Bastelanleitung, um danach einen lebendigen Menschen zum Sinnbild ,des Juden’ umzuformen: Dass „einer Jude heißt“, schreiben bereits Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der „Dialektik der Aufklärung“, „wirkt als die Aufforderung, ihn zuzurichten, bis er dem Bilde gleicht“.

„Fliegeralarm“ ist damit derjenige Roman Elsners, in dem der Antisemitismus als Wahn zum Thema wird. Der Text lässt greifbar werden, dass der Judenhass nichts mit seinem Objekt, sondern allein etwas mit der verzerrten Weltanschauung der Antisemiten selbst zu tun hat. Elsner, die in ihren Kritischen Schriften auffälligerweise durchgehend vom „Faschismus“ spricht, also in einer klassischen kommunistischen Sichtweise auf den Nationalsozialismus als bloße Folge imperialistischer und kapitalistischer Machtstrukturen verhaftet blieb, wächst als Autorin mit „Fliegeralarm“ über sich selbst hinaus. Während sie in ihren übrigen Texten die Spezifika der deutschen Weiterentwicklung des italienischen Faschismus, wie sie der Romanist Victor Klemperer in seinem Tagebuch sogar bereits unmittelbar nach 1933 aufmerksam zu beobachten und zu analysieren begann, noch außer Acht ließ, geht „Fliegeralarm“ im Sinne einer Distanz schaffenden, aufklärerisch funktionierenden Satire sehr viel weiter. Die in diesem Roman auftretenden Kinder sind mit ihren eigenen diffusen Wünschen, Begierden, Ängsten und ihrer Unfähigkeit, sich die verstörende Komplexität der sie umgebenden Welt anders zu erklären als durch die Konstruktion einer zu vernichtenden Verkörperung ,des Juden’, als Figuren Sinnbilder, die Elsners schematische Faschismuskritik in ihren politischen Essays in Frage stellen.

Nimmt man an der Stelle David Nirenbergs Studie „Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens“ hinzu, so wird klarer, für welche Form der Aneignung der Welt Elsners Kinderfiguren stehen: Nirenbergs zentrale These lautet, dass das „Judentum“ nicht nur eine „Religion spezifischer Menschen mit spezifischem Glauben“ ist, sondern „auch eine Kategorie, ein Repertoire von Ideen und Attributen, mit denen Nichtjuden ihre Welt deuten und kritisieren können. Ebenso ist ‚Antijudaismus‘ nicht bloß eine Haltung gegenüber Juden und ihrer Religion, sondern ein Weg, sich kritisch mit der Welt auseinanderzusetzen.“

Der Autor legt eine gut 3000-jährige Geschichte des Antijudaismus vor, in der er unter anderem in beeindruckender Kenntnis der Quellen der ägyptischen, christlichen und islamischen Frühgeschichte der Judenverfolgung herausarbeitet, wie das Judentum seit antiker Vorzeit zu einer bloßen Projektionsfläche für alles Negative und alle politischen Hindernisse in unterschiedlichsten Kulturen gemacht wurde, um „eine komplexe Sprache zu schaffen, die die Verirrungen ihrer Welt kritisieren und durchdringen“ konnte. Mit tatsächlichen Juden hatten diese verkappten Hassphantasien auch in jenen fernen Zeiten nicht das Geringste zu tun, die Nirenberg zu Beginn seines Abrisses erhellt. Vielmehr konnte bereits vor 3.000 Jahren jeder, der angefeindet werden und für Probleme welcher Art auch immer verantwortlich gemacht werden sollte, ,judaisiert’ werden, wie Nirenberg schreibt: Schiiten, Sunniten, missliebige Theologen, Kirchenväter oder Könige – alle wurden sie beliebig als ,Juden’ deklariert und damit von Seiten verfeindeter Parteien diskreditiert. Das alles setzte sich dann über das Mittelalter und die Reformationszeit in ganz Europa weiter fort bis in die Gegenwart: In Elsners Karikatur dieses uralten Phänomens sind es nun also Kleinkinder, die diese Methode auf einen willkürlich ausgesuchten Kommunistensohn anwenden und sie im Sinn des eliminatorischen Antisemitismus des „Dritten Reichs“ als Folteranleitung zu einem ,Märchen‘ ganz eigener Art ausdeuten.

Auch Victor Klemperers soeben bei Reclam neu aufgelegter Klassiker „LTI. Notizbuch eines Philologen“ lohnt sich als Parallellektüre zu Elsners Roman. Zum Einen, weil er wie angedeutet dazu geeignet ist, Elsners verkürzte Faschismuskritik zu hinterfragen: „Alles war doch bei uns nicht nur schlimmer, sondern im Kern anders und giftiger als in Italien“, schreibt Klemperer über die Besonderheit des Nationalsozialismus gegenüber dem Faschismus eines Benito Mussolini. Habe doch der Antisemitismus das „Zentrum und in jeder Hinsicht das entscheidende Moment des gesamten Nazismus gebildet“. Klemperer nimmt hier zum Anderen aber nicht nur Erkenntnisse vorweg, wie sie Saul Friedländer oder auch Daniel Jonah Goldhagen Jahrzehnte später erneut aufgriffen: Es ist, als schriebe Klemperer über die Vorstellungen von Elsners Kinderfiguren in „Fliegeralarm“, wenn er über die Doktrin des „Dritten Reiches“ notiert: „Antisemitismus ist von Anfang an das wirksamste Propagandamittel der Partei, ist die wirksamste und populärste Konkretisierung der Rassendoktrin, ja ist für die deutsche Masse mit der Rassenlehre identisch.“ Kurz: „Auf der zum Antisemitismus verengten und zugespitzten, im Antisemitismus aktivierten Rassenidee beruht die Eigenart des Nationalsozialismus den anderen Faschismen gegenüber.“

Christine Künzel hat den Einfluss Klemperers auf Elsner bereits in ihrer 2012 erschienenen Habilitation „‚Ich bin eine schmutzige Satirikerin‘. Zum Werk Gisela Elsners (1937-1992)“ betont, sich dabei allerdings auf die Konvergenzen der Sprachkritik kapriziert. Auch dieser Vergleich leuchtet ein: Wenn etwa Elsner in ihrem Essay „Sterben und Sterbenlassen“ Kriegslieder aus dem „Dritten Reich“ analysiert, so greift sie in der Tat einen sprachkritischen Ansatz auf, den bereits Klemperer verfolgte. Weiterführende Überlegungen zu diesen Themen kann man in dem von Christine Künzel und Michael Peter Hehl herausgegebenen Sammelband „Ikonisierung, Kritik, Wiederentdeckung. Gisela Elsner und die Literatur der Bundesrepublik“ nachlesen, in dem sich unter anderem Beiträge von Kai Köhler und Nina Peter finden, die ebenfalls „Fliegeralarm“ ins Zentrum ihres Interesses stellen.

Kritik an der Geschichtspolitik der Ära Kohl

Auch in Elsners Kritischen Schriften spielen die Geschichte und die Nachwirkungen des Nationalsozialismus eine wichtige Rolle. Um dazu nur ein markantes Beispiel zu nennen: Der 1930 geborene deutsche Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) charakterisierte die Umstände der Kindheit von seiner und von Elsners ,Generation’ am 24. Januar 1984 ausgerechnet vor der israelischen Knesset als „Gnade der späten Geburt“. Niemand verspottete dieses seltsame Schlagwort der Wende-Zeit so vehement und so treffend wie Gisela Elsner. In ihrem mehrteiligen und variantenreichen Fragment „Flüche einer Verfluchten“, das die Herausgeberin Christine Künzel als eine Art Testament der Autorin einstuft, rechnet Elsner in der ihr eigenen Typografie mit der deutschen Einheit und dem „VOLK DER DICHTER UND DENKER“ als einem einzigen „VOLK DER RICHTER UND HENKER“ ab. Kohl firmiert in diesem Text als „Wiedervereinigungsflickschuster“, der die Verbrechen des „Dritten Reichs“ mit seinem zitierten Bonmot zu einer unvermeidlichen Folgeerscheinung bloßer Geburtsdaten stilisierte. Die Shoah musste demnach also irgendwie mit der Bürde der „UNGNADE DER VERFRÜHTEN GEBURT“ zusammenhängen, wie Elsner in ihrem Fragment schlussfolgert.

Was sich dahinter verbirgt, lässt sich in etwa so zusammenfassen: Kohls religiös verbrämte Rhetorik legte implizit nahe, dass es denjenigen, die den Nationalsozialismus nicht mehr im Erwachsenenalter erlebt hatten, gar nicht anstehe, ältere Generationen für ihre Taten zu kritisieren. Wem die göttlich konnotierte ‚Gnade der späten Geburt‘ zuteil geworden war, der sollte sich besser kein Urteil über die Altvorderen anmaßen, da er sich sonst gegen dieses wohlwollende Urteil des Allmächtigen auflehnte. Die Älteren dagegen mussten in der Konsequenz dieses genealogischen Konstrukts nun einmal nolens volens zu Nationalsozialisten werden, weil sie in Folge eines unhinterfragbaren Ratschlusses früher zur Welt gekommen waren. Im Unterschied dazu hatte man als Jüngerer überhaupt nichts dafür getan, kein Nazi geworden zu sein, weil man schlicht gar keiner mehr werden konnte, wenn man später geboren wurde.

Sich nun dagegen auch noch zu wehren, bedeutete in der Konsequenz von Kohls Diktum, schuldig zu werden. Tatsächlich implizierte also die Postulierung einer „Gnade der späten Geburt“ als Umkehrung aller moralischen Werte einen kompletten Freispruch der Täter mit der „UNGNADE DER VERFRÜHTEN GEBURT“ (Elsner), die gewissermaßen auf eine ,von ganz oben’ verordnete verminderte Schuldfähigkeit pochen und jüngere Kritiker an den Pranger stellen konnten. Sprich: Kohl hatte 1984 im israelischen Parlament die Stirn, zu behaupten, dass alle Nationalsozialisten nichts für ihre Taten konnten, während sich diejenigen, die sie für diese Verbrechen zu kritisierten wagten, ,vor Gott’ schuldig machten.

Gleichzeitig schwingt in der Phrase aber sogar auch noch eine mögliche Bewunderung für die Tapferkeit der ‚Opfer‘ einer früheren Geburt mit, die offen lässt, wie das, was diese Generation in ihrem ,schicksalsgebeutelten’ Leben gemacht hatte, genau zu bewerten sei: Vielleicht hatte sie die große Verantwortung, die ihr die „UNGNADE DER VERFRÜHTEN GEBURT“ aufbürdete, nur mit einem besonderen ‚Idealismus‘ angenommen, wie ihn Kohl und seinesgleichen vielen Tätern des „Dritten Reiches“ bis weit in die 1980er-Jahre hinein als ,mildernden Umstand’ offen zubilligten.

Auch Elsners Essays kreisen damit in ihrer unbestechlichen Polemik gegen alles Deutsche immer wieder um das lange Nachleben des Nationalsozialismus jener Bundesrepublik, in welche die Autorin nach sieben Jahren des Exils in Rom, London, New York und Paris 1970 zurückgekehrt war. Egal, ob Elsner die Frauenbewegung von links kritisiert und die Empfehlungen deutscher Geburtshelferinnen als Härtetest für werdende Gebärmaschinen im Geiste des „Dritten Reichs“ geißelt, ob sie die Hasslyrik deutscher Kriegslieder aus der NS-Propaganda analysiert oder die Mörder Ernst Thälmanns im Konzentrationslager Buchenwald anklagt, von denen einer, der SS-Oberscharführer Wolfgang Otto, seinen sonnigen Lebensabend in seinem heimeligen Häuschen im „katholischen Städtchen Geldern, Am Hardttor 23“, verbrachte, wie die Autorin zu dessen Lebzeiten verriet – nie verliert Elsner jenes Nazitum aus dem Blick, das ihr als Rückkehrerin aus dem Ausland in Deutschland auf Schritt und Tritt ins Auge fiel.

Einzigartige Zeitbilder

Elsners Essays sind als einzigartige Zeitbilder wiederzuentdecken, weil sie vom unerschütterlichen Standpunkt einer Schriftstellerin geprägt sind, die spätestens seit ihrem Eintritt in die DKP im Jahr 1977 aus der Rolle einer Schriftstellerin fiel, wie man sie sich in jenen Jahren idealtypisch vorzustellen pflegte. „Autorinnen im literarischen Ghetto“ ist denn auch eine der fulminantesten Rundumkritiken des bundesdeutschen Literaturbetriebs, die in den 1980er Jahren geschrieben worden sind. Darin rechnet Elsner mit der sogenannten weiblichen Ästhetik der Frauenliteratur ab und kritisiert die Dummheit jener Kolleginnen, die sich mit einer Nische der männlich dominierten Kulturindustrie zufrieden gaben, indem sie sich aufgrund ihres biologischen Geschlechts über einen Kamm scheren ließen: „Der Vorschlag, die Werke von Dante, Shakespeare und Goethe als Männerliteratur zu bezeichnen, weil ihre Verfasser mit einem Penis ausgestattet waren, dürfte bei männlichen Autoren und Kritikern Empörung oder Gelächter hervorrufen, während es von ihnen doch als ganz normal empfunden wird, dass die Bücher von Frauen als Frauenliteratur bezeichnet werden, weil ihre Verfasserinnen mit Brüsten und einer Scheide ausgestattet sind.“

Elsner beobachtet messerscharf, wie jene „schreibenden Feministinnen, die voller Hingabe Selbstbespiegelung betreiben, ohne sich um Arbeitslosigkeit, den Mietwucher, die Inflation oder das Wettrüsten zu kümmern“, von seiten der bundesdeutschen Literaturkritik eine Schonung genossen, „wie sie aussterbenden Indianerstämmen gewährt zu werden pflegt“. Der „gönnerhafte Beifall“ der männlichen Kritiker für die ‚Frauenliteratur‘ rühre schlichtweg daher, dass „diese schreibenden Feministinnen ausschließlich mit ihrer Selbstfindung und der Vervollkommnung einer sogenannten neuen Weiblichkeit beschäftigt sind, die sich allerdings von der alten, von Männern geprägten Vorstellung von Weiblichkeit verblüffend wenig unterscheidet“. Ganz abgesehen von dieser einleuchtenden Kritik, die sich angesichts des konservativen Geschlechter-Backlashs, den wir nun schon seit Jahren beobachten können, überaus aktuell ausnimmt, reizen viele von Elsners Texten in ihrer Direktheit und ihrer ungebremsten Wut zu lautem Auflachen.

Einer der bittersten autobiografischen Texte dieser zweibändigen Sammlung, „Gläserne Menschen“, handelt nicht etwa von der National Security Agency (NSA), von Google und Facebook, sondern von der unheimlichen analogen Erfahrung, in einer Schriftsteller-Wohnung in München zu leben, die offenbar von geheimdienstlichen Überwachern betreten und durchsucht wird, wenn die Autorin gerade nicht da ist. Die Erzählerin hat allerdings auch nicht die Securitate im Verdacht, wie es von Herta Müller hinlänglich bekannt ist, sondern mindestens ebenso unheimliche und ungreifbare deutsche Ermittler. Elsner holt in der Geschichte jedoch weiter aus und erzählt im Zeitraffer die gesamte Leidensgeschichte ihrer Rückkehr nach Deutschland. Es folgt eine tragikomische Odyssee von Hamburg bis nach München, in der sich die Bundesrepublik als ein repressives Land voller Burn-Out-Zombies darstellt, in dem man unter dem permanentem finanziellen Druck, der ständigen Lärmbelastung und im Angesicht der Fratze des unbeirrten Nazitums des Bekanntenkreises der eigenen Eltern nur noch in der Psychiatrie landen kann. Das muss man einfach gelesen haben: Wer diese Texte nicht kennt, sollte von der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur nicht reden.

Titelbild

Gisela Elsner: Fliegeralarm. Roman.
Herausgegeben und am Manuskript letzter Hand überprüft von Christine Künzel. Mit einem Nachwort von Kai Köhler.
Verbrecher Verlag, Berlin 2009.
282 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426239

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Gisela Elsner: Flüche einer Verfluchten. Kritische Schriften 1.
Herausgegeben von Christine Künzel in Zusammenarbeit mit Kai Köhler.
Verbrecher Verlag, Berlin 2011.
410 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426628

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Gisela Elsner: Im literarischen Ghetto. Kritische Schriften 2.
Herausgegeben von Christine Künzel.
Verbrecher Verlag, Berlin 2011.
376 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783940426635

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Michael Peter Hehl / Christine Künzel (Hg.): Ikonisierung, Kritik, Wiederentdeckung. Gisela Elsner und die Literatur der Bundesrepublik.
edition text & kritik, München 2014.
202 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783869163239

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David Nirenberg: Anti-Judaismus. Eine andere Geschichte des westlichen Denkens.
Aus dem Englischen von Martin Richter.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
587 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783406675317

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Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen.
Nach der Ausgabe letzter Hand herausgegeben und kommentiert von Elke Fröhlich.
Reclam Verlag, Stuttgart 2015.
416 Seiten, 11,95 EUR.
ISBN-13: 9783150203651

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