Würzen. Formen. Trommeln.

Das Gesamtkunstwerk Günter Grass

Von Jürgen JoachimsthalerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Joachimsthaler

Der von Aalen zerfressene Pferdekopf in der „Blechtrommel“, das Vogelscheuchenballett in den „Hundejahren“, Aua mit den drei Brüsten im „Butt“ und natürlich der über Jahrzehnte von Buch zu Buch weitergereichte Oskar Matzerath – Grass‘ Werk ist voll von eindringlichen Bildern und unvergesslichen Gestalten, deren sinnliche Kraft der Präsenz entspricht, mit der er auch selbst als öffentliche Figur auftrat – und dabei stets seine eigene Erfindung, sein eigenes Kunstprodukt war, insistierend, besserwisserisch, oft großartig und bezaubernd, manchmal nervend und peinlich, aber immer unübersehbar. Wie kaum ein anderer deutschsprachiger Schriftsteller in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts modellierte und kontrollierte er sein eigenes Bild. „Ich kann das, Kinder, mir deutlich was ausdenken“ heißt es im „Tagebuch einer Schnecke“ – auf den ersten Seiten eines Textes, der an sein politisches Engagement für den Wahlkampf der „Es-Pe-De“ im Jahre 1969 erinnert, damit vordergründig Realitätsnähe, Autobiographisches und eindeutige Standpunkte im Dienste einer Partei verspricht und doch bereits mit dieser einen Bemerkung die Grenze zur Fiktion durchbricht. Nicht um lustvoll erfindendes Fabulieren jedoch geht es in erster Linie an dieser Stelle, sondern um Deutlichkeit, um Markanz und Eindrücklichkeit als ästhetisches Ideal.

Die Suggestivkraft einer Äußerung überwiegt im Zweifelsfall ihren „realistischen“ Aussagewert. Sogar für Grass selbst – schreibt er – verwischen sich die Grenzen zwischen seinem realen Leben und dem, was er erzählend entwirft. Nicht mehr zu unterscheiden sei, heißt es in „Beim Häuten der Zwiebel“, „wer wem was in den Mund gelegt hat, wer genauer lügt, Oskar oder ich, wem man am Ende glauben soll, was hier wie da fehlt und wer wem die Feder geführt hat“. Die Differenz zwischen Grass und seiner Figur Oskar Matzerath löst sich so stellenweise auf – weil sie sich auflösen soll, um eine möglichst dichte Einheit von Leben und Werk zu evozieren. Oskar ist ja – wie etwa auch der namenlose Erzähler im „Butt“ und in der „Rättin“ – gezielt mit autobiographischem Material angereichert worden, die öffentliche Kunstfigur Günter Grass ihrerseits wiederum mit Elementen von Oskar und anderen Figuren aus seinem Werk.

Doch nicht nur die Grenze zwischen fiktionalem Text und autobiographischer Mitteilung wird zugunsten eines möglichst homogenen und deutlichen Gesamteindrucks immer wieder in Frage gestellt. Grass‘ Wirkung beruht wesentlich darauf, dass er sich und seine Figurationen in vielen verschiedenen Medien gleichzeitig in Szene zu setzen weiß. Er hebt die Grenzen zwischen ihnen ebenso auf wie die zwischen angeblich realistischer Aussage und literarischer Erfindung. Der bildende Künstler Grass schafft immer mit an der optischen und haptischen Vorstellungsseite dessen, was der Romancier sprachlich entwirft, im Atelier stehen die Pulte und Arbeitstische nebeneinander, so dass Grass während der Arbeit an einem Gegenstand rasch von der Skulptur zum Text zu Zeichnung, Aquarell und Radierung wechseln kann. Jeder Stoff wird in möglichst vielen Künsten gleichzeitig entworfen. Interferenzen nicht nur zwischen Kunst und Realität, sondern generell zwischen verschiedenen Ausdruckswelten werden gezielt gesucht. Text und Wörter dringen in seine Bilder, oft sogar seine Skulpturen ein, während Kontur, Kolorit, Proportion und „Strich“ seiner Sprache ihren geradezu plastischen Charakter verleihen und zur markanten Vorstellbarkeit, zur Deutlichkeit seiner erfundenen Welten beitragen. Seine frühe musikalische Tätigkeit als Drummer einer Jazz-Band hat sich nicht nur inhaltlich der Figur Oskar mitgeteilt, sie ist der Metrik seiner Lyrik und der Prosodie seiner Erzähltexte unüberlesbar einverschrieben.

Nie verliert seine Sprache ihre performative Dimension. Dass Kunst inszeniert sein will und für den öffentlichen Auftritt, für Lesung, Bühne und Rezitation, Präsentation oder Ausstellung vorbereitet sein muss ist, dem Theatermenschen Grass selbstverständlich, der Libretti schrieb, an Opern- und Theateraufführungen mitwirkte und immer wieder gemeinsam mit Musikern auftrat. Das Vogelscheuchen-Ballett der „Hundejahre“ entstand aus einem Ballett, um das den leidenschaftlichen Tänzer Grass in Paris der Choreograph Marcel Luitpart gebeten hatte, später veranstaltete er gemeinsam mit dem Flötisten Aurèle Nicole oder dem Schlagzeuger Günter „Baby“ Sommer Rezitationsabende, während derer seine Stimme die Rolle des melodischen Vordergrundinstruments übernahm. Der dafür mit Hilfe bekannter Komponisten entwickelte Sprechgesang macht die klangliche, die musikalische Seite seiner Sprache hörbar, im Medium seiner zunächst stumm wirkenden gedruckten Texten wird deren akustische Dimension lesbar, zum Beispiel durch kehrreimartige Wiederholungen inmitten der Erzählprosa oft gerade an inhaltlich gewichtigster Stelle. So hebt seine Sprache durch ihre elaborierte Wort- und Lautgestalt immer wieder vom nur Erzählten ab und bringt Semantik wie Syntax der dicht beschriebenen Milieus ins Schwingen, macht sie durchsichtig und beraubt sie ihrer scheinbaren Selbstverständlichkeit. „Blubb, pifff, pschsch“ lautet der onomatopoetische Refrain in seinem Gedicht „Kleckerburg“, in den Hundejahren verdeutlicht die Sprache sich selbst durch Wiederholungen, die gleichzeitig an den grauenhaften Hintersinn der erzählten Geschichte, den Holocaust, in sprachlich zertrümmerter Form immer wieder erinnern. In der „Rättin“ jagt Grass dann gleich alle Motive seines vorangegangenen Schaffens durch ein dekonstruktives Karussell, atomisiert sie zu beliebig neu kombinierbaren Zeichenketten und setzt sie zu einem entmaterialisierten Reigen neu zusammen, in dem sie mit dem phantasierten Untergang der Menschheit ihre bisherige narrative Bedeutung verlieren, um warnend auf die drohende nukleare Katastrophe zu verweisen.

Nie jedoch geht die Verselbständigung der Sprache soweit, dass sie zum inhaltsfreien Ornament würde. Grass hatte sich während der 1950er Jahre vehement gegen die in der Nachkriegszeit so populäre neo-abstrakte Kunst ausgesprochen, weil diese es gerade in Deutschland allzu sehr erleichtere, inhaltlicher Auseinandersetzung auszuweichen und zur Verdrängung der NS-Verbrechen beizutragen. Seine formalen Experimente dienen denn auch nie dem Absehen von Inhalten, sondern deren Intensivierung. Die Ermordung des jüdischen Spielzeughändlers Sigismund Markus durch NS-Schergen in der „Blechtrommel“ wird in sprachlichen Wiederholungschleifen erzählt, deren Aufbau eng angelehnt ist an die „Todesfuge“ seines Freundes Paul Celan. Auch Form hat eine Bedeutung.

Seine Texte und Kunstwerke (zu denen auch er selbst, genauer: sein öffentliches Erscheinungsbild gehörte) sind trotz aller sinnlichen Konkretion und Originalität immer auch traditionsgesättigt, voll von Anspielungen, Zitaten und anderen Bezügen zur Bibel, zu Homer und Aristophanes, Büchner und Heine bis zu Thomas Mann, zu Bachofen, Fontane, Sienkiewicz und Joyce bis zu Johannes Bobrowski. Doch nicht nur auf die Hochkultur bezieht sich Grass in seinen Werken. Er ist auch ein Virtuose des Populären, der bedenkenlos die Schlümpfe in der „Rättin“ auftreten lässt, auf Märchenfiguren der Brüder Grimm zurückgreift, blasphemisch gebrochene Motive der katholischen Alltagskultur nutzt, seinen Oskar gängige Swing- und Jazz-Hits trommeln lässt, feministische Matriarchatsesoterik ironisch mit erotischen (männlichen) Wunschträumen kontaminiert, Marken der Warenwelt nennt (was später dann als Merkmal der Popliteratur gelten sollte) und „Im Krebsgang“ den „deep space“, die dunklen Seiten des Internet in sein Narrationsmaterial mit einbezieht.

Der Kochkünstler Grass antwortet auf den lange anhaltenden Bestseller-Erfolg von Johannes Mario Simmels „Es muss nicht immer Kaviar sein“ mit seinen eigenen Kochrezepten als strukturierendem Textmaterial im „Butt“. Er würzt seine Texte durch stete Mischung der Stilhöhen unter Verwendung jeder zur Verfügung stehenden Semantik – und sei es die der indischen Göttin Kalī in „Zunge zeigen“. Den Lesern wird durch Mehrfach- und Übercodierung vieles auf einmal geboten, ohne dass jeder alle Dimensionen seiner Texte gleichzeitig verstehen müsste. Besonders deutlich wird dies bei der vielen Deutschen kaum zugänglichen polnischen Dimension seines Werkes: Die „Blechtrommel“ und „Katz und Maus“, aber auch spätere Texte sind immer wieder durchzogen von polnischen Signifikanten, die weit über die auffälligen polnischen oder kaschubischen Spracheinsprengsel hinausreichen, wirklich „gelesen“ aber nur von Polen oder polnisch gebildeten Lesern werden können. Vieles davon entgeht den übrigen Lesern, Anderes (wie die Spracheinsprengsel) wirkt dunkel und geheimnisvoll und trägt gerade dadurch zur Faszinationskraft des eben nicht simpel und restlos aufhellbaren Werkes bei. Grass‘ übernationale Wirkung beruht auch auf dieser interkulturellen Dimension seiner Werke, die John Irving ebenso inspiriert haben wie Paweł Huelle oder Salman Rushdie.

Günter Grass hat bei all dem sein Schaffen als eine durch leitmotivartige Wiederholungen in sich stark vernetzte Textur angelegt. Motive und Figuren werden von einem Werk zum nächsten weitergereicht, so dass die einzelnen Texte, Bilder, Skulpturen, Auftritte, Reden, Aktionen usw. immer auch aufeinander verweisen und den Eindruck erwecken, es handle sich um ein einziges umfassendes Ganzes, das, mag es auch sukzessive entstanden und auf verschiedene Bücher und Kunstwerke (und öffentliche Auftritte) verteilt sein, doch zugleich synchron als Einheit betrachtet werden muss. Der ästhetische Anspruch schließt dabei politische Deutlichkeit nicht aus. „Ein weites Feld“ beharrt auf seiner Ablehnung der Wiedervereinigung noch, nachdem diese längst vollzogen ist, Oskar trommelt in der Fiktion den Deutschen das von ihnen verdrängte Geschehen der Kriegsjahre und die NS-Verbrechen ebenso ins Bewusstsein zurück, wie Grass dies mit seinen Büchern auch außerhalb der Fiktion tat. Auch als politisch aktiver Bürger bleibt Grass Künstler, der seine Wirkung mit künstlerischen Mitteln zu erzeugen weiß. Seine Kunst ist politisch, seine Politik Kunst. Auch hier bevorzugt er die systematische Aufhebung der Grenzen. Sein Einsatz für Willy Brandts Ostpolitik korrespondiert mit seiner literarischen Gedächtnisarbeit, durch die er die verlorene Heimat Danzig imaginiert als durch deutsche Schuld zerstörte deutsch-polnische Mischwelt, zu deren Wiedererinnerung auch in Polen er maßgeblich beiträgt, während er durch seine Unterstützung der Solidarność und viele neue Freundschaften sogar wieder ein bisschen heimisch werden kann in Gdańsk.

Nie war Grass ambivalent, nie um klare Stellungnahmen verlegen, so dass er in Deutschland oft eher als politischer Autor wahrgenommen wird denn als jener Wortkünstler, als der er es außerhalb Deutschlands zu Weltruhm gebracht hat. Er bezog Stellung, immer, gefragt oder ungefragt, und brachte sich ein, indem er den Mächtigen, den Entscheidern nahe trat. Er, seine Erzähler und seine Figuren, wollen dort sein, wo es um etwas geht, wo sie das „Eigentliche vermuten“, die Macht – und an dieser auch teilhaben. Oskar Matzerath möchte in der „Blechtrommel“ gar an die Stelle Jesu treten und nimmt auf einer Madonnenstatue in der Danziger Herz-Jesu-Kirche die Position des göttlichen Kindes ein, wagt sich aber auch in die Nähe von NS-Größen (und trommelt NS-Veranstaltungen kaputt), in den „Hundejahren“ wird narrative Nähe sogar zu Hitler über Hitlers Hund hergestellt, in „Beim Häuten der Zwiebel“ deutet er eine mögliche gemeinsame Kriegsgefangenschaft mit dem späteren Papst Benedikt XVI. an. „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“ und der 2013 veröffentlichte (sehr umfangreiche) Briefwechsel mit Willy Brandt betonen Grass‘ Verbindung zum einstigen Bundeskanzler und SPD-Vorsitzenden, in „Unterwegs von Deutschland nach Deutschland“, dem 2009 veröffentlichten Tagebuch des Jahres 1990,  wird des Umstandes gedacht, dass ihn der Bundespräsident mit auf die Reise nach Polen nahm – welcher deutsche Schriftsteller wäre dazu aber auch besser geeignet gewesen? Grass ist Teil der deutschen Ostpolitik und der Geschichte der Wiederannäherung Deutschlands an Polen. Dabei scheute er die polemische Auseinandersetzung nicht. Jenes Zentrum der Macht, in das er so drängte, fand er, ganz Demokrat, in der Instanz der Öffentlichkeit, in deren Wahrnehmung er sich ebenso zwängte wie Oskar in den Schoß der Madonna, ein ungeliebtes enfant terible, das doch nur angenommen sein wollte mit all seinen Eigenheiten und Widerborstigkeiten.

Inszenierte, gelegentlich auch narzisstisch sich um sich selbst drehende Bekenntnishaftigkeit ist wesentlicher Teil seines Auftretens bis hin zu dem umstrittenen späten Gedicht „Was gesagt werden muss“. Dessen vordergründige politische Aussage – Warnung vor einer unkontrollierten Atommacht Israel und einer Eskalation des Irankonflikts – wird vorgetragen in einer Sprache, deren Tonfall weniger vom Rhythmus als von der Rhetorik eines sich in die Syntax hineinpressenden lyrischen Ich geprägt ist. Diesem geht es weniger um Israel und den Nahen Osten als um sich selbst. Es reflektiert seinen komplexbeladenen Umgang mit der Politik des Staates Israel – nicht um Israels willen, sondern um sich selbst Kritik an Israel zu erlauben, nachdem es aufgrund von Holocaust und deutscher Schuld solche lange Zeit unterdrückt hätte. Der Text löste Debatten darüber aus, inwieweit in dem Aufklärer Grass sich ein sekundärer oder tertiärer Antisemitismus verstecke, eine Art unterdrückter Wut darüber, nach dem Genozid nicht mehr „einfach so“ unkontrolliert über „die Juden“ reden zu können. Grass schien zudem, so einer der Vorwürfe, die typisch rechte Gleichsetzung des Staates Israel mit „den Juden“ zu vollziehen. Doch kommen die Worte „Juden“ und „jüdisch“ in dem Gedicht gar nicht vor, lediglich die Bemerkung, dass das lyrische Ich aufgrund der Geschichte sich mit Kritik an Israel immer zurückgehalten habe. Politisch anmaßend bis bedeutungslos – was könnte Grass an einer Atompolitik Israels verhindern? – liegt die verkannte Bedeutung des Gedichts durchaus auf der von seinen Kritikern angesprochenen Ebene. Jedoch wird die in den Details oft berechtigte Kritik dem Ganzen nicht ganz gerecht. Bis in die verzwickte Syntax hinein ist es ein schonungsloses Psychogramm der Angehörigen einer Generation, die am Zweiten Weltkrieg noch beteiligt war und in intensiver Auseinandersetzung mit der historischen wie moralischen Schuld der Deutschen wesentlich zur Reflexion und Annahme deutscher Schuld und Verantwortung beitrug, gerade dadurch aber in sich selbst allzu oft antisemitische Indoktrination durch pseudo-philosemitische Verkrampfung ablöste. Diese führt dieses Gedicht in ihrer Verdrehtheit und Peinlichkeit bis in die Sprachstruktur hinein vor. Das Problem betrifft ja nicht nur Grass allein. Martin Walsers Paulskirchenrede offenbarte, weniger pointiert, ähnliche (und wohl schlimmere) Abgründe, aber auch bei Siegfried Lenz und selbst bei Johannes Bobrowski finden sich Spurenelemente analoger Schwierigkeiten, die darauf schließen lassen, dass die Beschäftigung mit „den Juden“, zu der diese Autoren sich aufgrund der Kriegserfahrung verpflichtet fühlten, nicht ganz – wen wundert es? – zwanglos und unverkrampft vor sich gehen konnte. Grass‘ Verdienst besteht darin, dies mit seinem Gedicht durch bekenntnishafte Offenheit durchsichtig zu machen, erkennbar, deutlich.

Weder Grass noch seine Figuren wollen „sympathisch“ sein. Ihnen geht es um Deutlichkeit, um Erkennbarkeit in allen Dimensionen. Das Versteckspiel zwischen inszenierter Biographie, exhibitionistischem Tabubruch und Verschleierung biographischer bis intimer Details, die dann doch, vielleicht, ein bisschen, oder eben doch nicht öffentlich zugänglich gemacht werden, gehört dazu und trägt dazu bei, Spannung aufrecht zu erhalten über die verschiedenen Werke und Äußerungen der Kunstfigur Grass hinweg. Was kommt als nächstes? Was mag er noch zu bekennen, zu enthüllen haben? Jede Äußerung ist kalkuliert und dient dazu, der öffentlichen Kunstfigur Grass eine weitere Dimension hinzuzufügen. Dies gilt auch für das spektakuläre Bekenntnis seiner SS-Mitgliedschaft (nachdem er diese in kleinerem Kollegenkreise schon Jahrzehnte zuvor mitgeteilt hatte). Der Zeitpunkt war sorgfältig kalkuliert und generierte berechenbare Aufmerksamkeit kurz vor der Veröffentlichung des Erinnerungsbuches „Beim Schälen der Zwiebel“. SkeptikerInnen wie Charlotte Knobloch, die damalige Vorsitzende des Zentralrats deutscher Juden, zweifelten an der moralischen Ernsthaftigkeit eines Geständnisses, dessen ökonomisches Kalkül unübersehbar glatt aufging. Doch so sehr Grass immer auch ökonomischer Künstler ist, geht es ihm nicht nur um Ökonomie allein. Dieses „Bekenntnis“ war notwendiger Teil einer fast schon lebenslangen Selbstdarstellungsstrategie und gehört zu den Abschlussarbeiten am Gesamtkunstwerk Grass. Nicht umsonst greift er in „Beim Schälen der Zwiebel“ wieder mehrfach auf seine Kunstfigur Oskar Matzerath zurück.

Seit der „Blechtrommel“ gilt Grass in Anlehnung an Oskar Matzerath als halber oder ganzer Kaschube, der wie seine prominenteste Figur seiner Herkunft nach in die eigenartige deutsch-polnisch-kaschubische Mischkultur gehört. Die Handlungskonstruktion der „Blechtrommel“ versieht Oskar mit einer kaschubischen Mutter, ihrem Ehemann, „dem Reichsdeutschen Mazerath“ und einem polnisch optierenden kaschubischen „Onkel“ Jan Bronski, der ein Verhältnis mit Oskars Mutter, seiner Cousine, unterhält und von dem Oskar hofft, er möge sein leiblicher Vater sein. Entsprechend schwer fällt Oskar der Umgang mit seinem deutschen Vater, über dessen deutsche Familiengeschichte der Leser kaum etwas erfährt. Mehr erfährt man von der Liebesgeschichte seiner Mutter mit ihrem bekennend polnischen Cousin Jan Bronski, die überraschend und in ihrer Unbegründetheit für den Leser umso schmerzlicher endet mit der Verlobung von Oskars Mutter Agnes Koljaiczek „mit dem Reichsdeutschen Mazerath“ im geschichtsträchtigen Jahr 1920, welches wiederum nur von polnischen Ereignissen her beschrieben wird, „da Marszalek Pilsudski die Rote Armee bei Warschau schlug und das Wunder an der Weichsel von Leuten wie Vinzent Bronski der Jungfrau Maria, von Militärsachverständigen entweder General Sikorski oder General Weygand zugesprochen wurde, in jenem polnischen Jahr also“. Diese erst nachträglich von Westdeutschland aus von Oskar selbst vorgenommene (Re-)Polonisierung der während der NS-Zeit germanisierten eigenen Familien- und Lebensgeschichte findet ihren Höhepunkt in seinen systematisch gestreuten Zweifeln an der Vaterschaft Mazeraths; er möchte lieber der illegitime Sohn Jan Bronskis sein, hätte lieber einen polnischen Vater als einen deutschen. Damit wird Oskar nicht nur zwischen die Ethnien gestellt, sondern die letztlich nie aufgehobene Unsicherheit über seinen leiblichen Vater erhöht diese Ambivalenz und verstärkt seine Position ‚außerhalbʻ der geltenden Ordnungen. Referentielle Unsicherheit ist der Grundzug Oskars und seiner Geschichte. Oskar wird dadurch zumindest in seiner eigenen Phantasie aus jeder ihm von seiner Umgebung zugeschriebenen nationalen Eindeutigkeit und der zeitüblichen Zuordnung zum Deutschtum hinausprojiziert in ein kaschubisches „Dazwischen“, das ihn herausnimmt aus aller Mitschuld am Nationalsozialismus.

Auch sich selbst beschreibt Grass als einen von dieser Kaschubei geprägten Abkömmling, was freilich nicht ganz unproblematisch ist, entspricht es doch nicht ganz der realen Bedeutung des Kaschubischen für den jungen Grass: „Meine Mutter konnte zwar kaschubisch, und als Kind hatte ich ein paar Brocken parat, aber das war erstens nicht fein und irgendwann ja auch nicht mehr opportun, politisch gesehen, kaschubisch oder gar polnisch zu sprechen“, berichtete er Michael Jürgs für dessen Grass-Biographie. In „Beim Schälen der Zwiebel“ folgt das „Bekenntnis“, dass Grass‘ Familie zwar ihrer Herkunft nach, keineswegs aber in ihrem Bewusstsein zwischen den Kulturen gestanden habe. Umso drängender stellt sich die Frage, warum Grass nach 1945 von Westdeutschland aus der Kaschubei nachträglich solche Bedeutung für sich und seine wichtigsten literarischen Gestalten einräumt. Seine Konstruktion der Kaschubei etabliert diese als einen „dritten Ort“ zwischen Deutschland und Polen, der nach 1945 und angesichts einer von Grass selbst verstärkt vorangetriebenen Schuld-Debatte um die nationalsozialistischen Verbrechen dem Autor der„Blechtrommel“ die Möglichkeit bietet, sich mit dem Halb-Kaschuben Oskar in eine zumindest teilweise nichtdeutsche Herkunft hinein zu imaginieren. Aufgrund seiner kindlich-kindischen Grausamkeiten, Egoismen und Unverantwortlichkeiten ist Oskar dabei von der Gefahr befreit, in seiner anti-nationalsozialistischen Haltung als bloße Exkulpationsfigur zu wirken, die seinen Erfinder dem Vorwurf hätte aussetzen können, mit ihm eine Figur geschaffen zu haben, die der Schuldentlastung dient. Tatsächlich freilich erlaubt es gerade die unangepasste private Boshaftigkeit Oskars, ihn dem Nationalsozialismus entgegenzustellen und ihn so bei aller individuellen Schuld von dem Vorwurf auszunehmen, am Nationalsozialismus schuldhaft mitgewirkt zu haben. Wohl auch deshalb mag Oskar trotz (und wegen) aller negativen Seiten für Autor wie Leser so reizvoll gewesen sein: Er erlaubte die Imagination einer Gestalt, die gerade auch in ihrer deutsch-polnisch-kaschubischen Zwischenstellung aus dem nationalsozialistischen Verbrechenszusammenhang herausgenommen schien.

Sie schien herausgenommen. Oskar ist von Anfang an als unzuverlässiger Erzähler angelegt und nicht wirklich glaubwürdig. Den Text durchziehen erst im Nachhinein auffällige dunkle Andeutungen wie die rätselhafte Schwarze Köchin, die für eine nicht benannte Angst Oskars steht, eine womöglich in diesem Text zwar bereits in geheimnisvoller Andeutung ausgedrückte, aber noch nicht offengelegte Schuld. Die Konstruktion Oskars erfüllt, ohne darin aufzugehen, immer auch eine gesellschaftspolitische Funktion: Grass brauchte in den 1950er Jahren den Trommler Oskar, der die Deutschen an ihre Schuld gemahnen konnte und dies damals nur konnte von der Außenseiterposition einer Figur aus, der weder zu den Deutschen gehörte noch nicht zu ihnen gehörte. Er durfte weder schuldlos sein noch wirklichen Anteil an der NS-Schuld haben. Unabhängig von der überwältigenden künstlerischen Qualität dieser Figur waren ihre Eigenschaften funktional innerhalb des damaligen Diskurses – von Anfang an aber mit dem narratologischen Warnschild der Unzuverlässigkeit und eines noch aufzuklärenden Restes versehen.

So wenig Grass trotz entsprechender Selbstinszenierung mit der Hauptfigur seines Lebenswerks gleichgesetzt werden darf, so analog war Oskar doch konstruiert zur damaligen Selbstpositionierung des Autors in der Öffentlichkeit: Der Roman „Die Blechtrommel“ war Grass‘ eigene Blechtrommel. Biographische Analogien zwischen Autor und Figur waren in dieser Situation funktional. Dabei beinhaltete diese Konstruktion von Anfang an die versteckte Ankündigung späterer Ergänzung und Revision, was trotz – und wegen − der Rätselhaftigkeit der Andeutung zusätzliche Spannung schuf. In „Die Rättin“ dekonstruiert Grass seine literarischen Motive (um sie im nächsten Hauptwerk „Ein weites Feld“ erstmals ganz hinter sich zu lassen, ehe sie „Im Krebsgang“ wieder in veränderter Gestalt dominant werden). Dekonstruktion ist freilich keine Aufhebung, sondern bekenntnishafte Durchsichtig-Machung von Kunst als Kunst und erhöht deren Komplexitätsgrad. Sie verleiht dem Dekonstruierten dadurch nachträglich abermals erhöhte Deutlichkeit und Bedeutung. So ist es auch mit Grass‘ spätem SS-Bekenntnis, das die Konstruktion des masurischen „Dazwischen“ nicht aufhebt, aber als von der Wirklichkeit sich lösenden ästhetischen Entwurf durchsichtig macht. Das späte Eingeständnis rundet dies ab und wird zudem aufgrund seiner performativen Markanz selbst als soziales Kunstwerk im Gedächtnis bleiben. Dieses muss nicht gefallen, es kann auch abstoßen und erlaubt moralische Ablehnung. Künstler und Kunstwerk treten mit ihm jedoch einmal mehr prägnant hervor und werden sichtbar und beurteilbar als Leben und Werk vereinendes Gesamtkunstwerk, dessen Autor allein darüber verfügt, wann wo welche Information mit welcher Wirk- und Würzkraft zu seinem öffentlichen Bild hinzugefügt wird. Er, nicht seine Nachlassverwalter oder gar ein ihm nachforschender Wissenschaftler bestimmt darüber, wie welcher Mosaikstein seiner Biographie einzusetzen ist, damit ein deutliches Bild entsteht. Es muss nicht gefallen, es muss nicht Zustimmung auslösen (so gerne Oskar auch liebesheischend in den Schoß der großen Mutter Öffentlichkeit kriecht), es muss wirken, eindringlich sein, unvergesslich.