Die freie Liebe altert nicht

Der Kritiker Volker Hage als Romanautor und Gesellschaftsbeobachter der 1970er-Jahre

Von Helga ArendRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helga Arend

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dreierkonstellationen sind ein beliebtes Thema in der Literatur- und Filmgeschichte. Der Ich-Erzähler des Romans Die freie Liebe verweist unter anderem auf folgende Titel: auf Johann Wolfgang von Goethes Werther und Stella, Anton Tschechows Drei Schwestern und François Truffauts Jules und Jim. Diese intertextuellen Verweise im Roman präsentieren Liebesbeziehungen, die neue Liebeskonzepte entwerfen und die jeweils gesellschaftlich akzeptierten Normen in Frage stellen. Verstöße gegen die Konventionen liefern ebenso Filme der 1970er Jahre, in denen das Ausleben der Sexualität und die Freiheit des Individuums mit den Regeln der Gesellschaft kollidieren. Die Zitate und Darstellungen sind Anspielungen darauf, aus welchen Ideen und Bildern der Protagonist des Romans, der im Jahre 1951 geboren wurde und als Student in München lebt, seine Vorstellungen von Sexualität entwickelt. Die immer wieder eingestreuten Verweise auf Texte und Filme beeinflussten und veränderten die Konzeptionen der Geschlechtsbeziehungen in den 1970er-Jahren, deren Ideal eine „freie Liebe“ war, die jegliche Form von Besitzanspruch auf den Geliebten zutiefst verabscheute. Der Roman wirkt wie ein Erinnerungsspaziergang zu den Wegmarken der Kulturerlebnisse eines Studenten in dieser Zeit. Auch die Musik wird nicht vergessen. Lieder Frank Sinatras, der Rolling Stones, Pink Floyds und anderen kommentieren wie in einem Spiel die Themen und Motive, die in Die freie Liebe konstruiert werden: Liebe, Theater, Kunst und der Umgang mit der eigenen Biografie. 

Die Tagebuchtexte, die im Mai 1971 beginnen und im Dezember 1972 enden, geben Bilder der Zeit und der Mentalität der Jugend wieder, die durch die äußere Form und die Schilderung der Gefühle des Protagonisten Wolfgang sehr authentisch wirken. Die Notizen berichten über das Leben in einer Wohngemeinschaft zweier Männer und einer Frau in München, die versuchen, die neuen Vorstellungen der freien Liebe zu leben.  Die Aufzeichnungen des jungen Mannes werden eingerahmt und unterbrochen durch eine Erzählung des alternden Mannes aus dem Jahr 2012, der sich mit dem früheren Gefährten der Wohngemeinschaft trifft. Der Mitbewohner Andreas ist als Schauspieler nicht nur beruflich erfolgreich, er scheint auch privat mehr erreicht zu haben als der Ich-Erzähler. Er ist seit 30 Jahren mit einer Ärztin verheiratet und hat zwei Töchter, auf die er stolz ist.

Anlass für die Begegnung der beiden älteren Männer ist eine Aufführung von Max Frischs Biografie: Ein Spiel. Der Ich-Erzähler sieht sich das Stück an, weil Andreas dort mitspielt und er ein Treffen mit ihm sucht. Die Komödie wird im Roman nicht mit 30 oder fünf Schauspielern wie in den von Max Frisch geschriebenen Versionen inszeniert, sondern nur mit den drei Hauptfiguren: Hannes, Antoinette und dem Spielleiter – also wieder in Form einer Dreierkonstellation. Ein interessantes Detail des Settings besteht darin, dass im Mai 2012 im Deutschen Theater Berlin tatsächlich dieses Frisch-Stück unter der Regie von Bastian Kraft aufgeführt wurde. Der Roman vermittelt durch konkrete Anspielungen auf die Zeitgeschichte, genaue Zeit- und Raumangaben und durch die Form der Tagebuchaufzeichnung immer wieder den Eindruck, die Realität werde in diesem ästhetischen Werk möglichst detailgetreu abgebildet. 

Der junge Protagonist denkt in seinem Tagebuch über den Sinn solcher Aufzeichnungen nach, und auch darüber, wie die Geschichte anders hätte weitergehen können. Aber wie es gewesen wäre, wenn er mit der geliebten Lissa zusammengeblieben wäre, wird nicht thematisiert. Die Dreierkonstellation, in der Andreas den Part der Verantwortung und der Protagonist den Part der Leidenschaft übernimmt, scheint zunächst für Wolfgang und Lissa die beste Lösung zu sein. Auch nach der Heirat von Lissa und Andreas bleibt die Beziehung weiterhin bestehen. Andreas akzeptiert das Verhältnis der beiden. Aber gestört wird die freie Liebe am Ende durch die Eifersucht – die Eifersucht Lissas auf Maria, mit der Wolfgang eine kurze Beziehung hat, und Wolfgangs auf Said, der als zusätzliches WG-Mitglied eingezogen ist. Die freie Liebe wird nicht von dem eher bürgerlichen Andreas unterminiert, sondern von den Protagonisten selbst, die diese zwar für sich selbst fordern, es aber nicht ertragen, wenn der Partner ebenfalls Leidenschaft für andere empfindet. Am Ende ergibt sich der Eindruck des endgültigen Scheiterns der freien Liebe.

Allerdings ist der Roman nicht nur ein Text über die freie Liebe, sondern auch eine Abhandlung über Erinnerungen, das Alter und nicht zuletzt die Kunst. Dass es beim Schreiben von Tagebüchern nicht um die detailgetreue Abbildung der Wirklichkeit geht, sondern auf das kunstvolle Verfassen ankommt, zeigen die Bezüge, die zu den autobiografischen Schriften von Julien Green, Henri-Fréderic Amiel, Leo Tolstoi, Walter Kempowski und Franz Kafka hergestellt werden. Diese Autoren haben ihre autobiografischen Aufzeichnungen zu ästhetischen Meisterwerken geformt: Nicht um die Realität geht es, viel wichtiger ist es, ob daraus Kunst entsteht und dass diese wiederum zu neuem Leben wird. Aufgabe der Kunst ist es nicht, die Wirklichkeit abzubilden, sondern das Leben der Menschen zu gestalten. Sie entwirft Bilder der Erinnerung. Ohne die Bilder der Filme, ohne die Texte der Romane und Biografien und ohne die Musik der Zeit wäre nichts in der Erinnerung der Vergangenheit so, wie es ist. Das gegenwärtige Erleben könnte ohne diese Artefakte so nicht stattfinden. Immer wieder wird im Text deutlich, dass die Bücher, Filme und die Musik die freie Liebe erst ermöglichten. Auch wenn sie im Leben der Romanfiguren keine Dauer haben konnte, gibt es durch die Ästhetik die Idee ihrer Möglichkeit und den Versuch, sie umzusetzen. Die Leidenschaft, die sie erweckt hat, konnte dann wiederum zu neuer Literatur, neuer Musik und einem neuen Film gestaltet werden.

Dem Zweiten Buch wird ein Zitat von Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau vorangesetzt, das darauf verweist, wie traurig es ist, wenn man einmal genossene Freuden wieder verliert. Das Zitat ist aus einem Gedicht, das die Vergänglichkeit der Liebesstunden betrauert. Aber aus der Trauer um diese Lust ist ein Gedicht entstanden. Und auch am Schluss des Romans planen die beiden alternden Männer einen Film, in dem der Protagonist der Künstler ist. Seine Erinnerungen gestaltet er selber zu einem neuen Stück Kultur um; dieses wiederum beeinflusst das Leben derjenigen, die es aufnehmen.

Der Text des Protagonisten, der sich am mimetischen Charakter der Aufzeichnungen orientiert und damit wie eine Art Mentalitätsgeschichte der 1970er-Jahre wirkt, schafft einen Erinnerungsweg in die Kultur der Zeit und beleuchtet, wie die Realität durch die Kunst konstruiert wird. Die freie Liebe, die zuletzt an Eifersucht zu zerbrechen droht, entsteht erst aus Idealen und Vorstellungen, die sich aus der Ästhetik speisen. Die ganze Realität, wie sie erlebt wurde, wäre ohne sie nicht möglich gewesen – sie ist ein Konstrukt aus ästhetischen Fragmenten.

Der Roman, der zunächst wie ein Abgesang auf die Möglichkeit der freien Liebe erscheint, ist ein großartiger Lobgesang auf die Idee derselben, die in der Literatur, im Film und in der Musik erst erfunden wurde. Der Kritiker Volker Hage singt nicht nur in seinen journalistischen Texten einen Hochgesang auf die Ästhetik, sondern auch sein erster Roman lässt sich so lesen. Er bietet unterschiedliche Ebenen der Rezeption an: Als Tagebuch ist er ein Gang durch die Zeit, der besonders für seine Generation wie ein Reservoir schöner Erinnerungen gelesen werden kann, und dem Literaturkenner bietet er intertextuelle Bezüge, die in äußerst vielfältiger Weise verfolgt und interpretiert werden können. Die Zahl Drei, die nicht nur inhaltlich eine Rolle spielt, sondern einen Gestaltungsgrundsatz der Rahmenerzählung darstellt, ist ein Symbol der Vollkommenheit: Die Dreierkonstellation ist hier die ideale Form für die ästhetische Gestaltung der Liebe. Vollendung in der Struktur liefert auch die Kreisform, die dadurch entsteht, dass der Schluss der Rahmenerzählung wieder zu Max Frisch zurückführt, der am Beginn als Auslöser des Erzählens steht: Die Vorstellung, dass die Tochter der Geliebten als neue Geliebte auftauchen könnte, ist eine Reminiszenz an den Roman Homo Faber.

Der als Literaturkritiker etablierte Volker Hage profiliert sich durch diesen ästhetisch äußerst durchkonstruierten Text über die Entstehung und Auswirkung der Kunst auch als Schriftsteller, auf dessen nächsten Roman man gespannt sein kann.

Titelbild

Volker Hage: Die freie Liebe. Roman.
Luchterhand Literaturverlag, München 2015.
160 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783630874685

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