Die neuen Verhältnisse

Michail Prischwin erzählt in seinem Roman „Der irdische Kelch“ von der Zeit nach der Russischen Revolution

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein ganz eigenwilliges Buch ist hier zu entdecken: Michail Prischwins (1873–1954) Der irdische Kelch aus dem Jahr 1922 führt mitten in die chaotische und schwierige Zeit kurz nach der Russischen Revolution. Die Bolschewiken haben sich nach der Machtübernahme einigermaßen etabliert und gestalten nun das Land nach ihren Vorstellungen um. Das läuft jedoch nicht ohne Kollateralschäden ab, die bisweilen absurd und bizarr anmuten. Das Außergewöhnliche an Prischwins kurzem Roman liegt in seiner Mischung von drei Grundelementen, die den Inhalt des Buchs ausmachen und zugleich dessen Stil prägen.

Da wäre zunächst einmal der eigentliche Plot zu nennen: Es geht im Roman um ein paar Monate im Leben Alpatows, eines Intellektuellen, der sich unter den neuen Gegebenheiten mehr schlecht als recht durch’s Leben schlägt. Zu Beginn des Romans trifft er zusammen mit seiner Großmutter und zwei Buben im „Jahr neunzehn des zwanzigsten Jahrhunderts“ in einem Dorf ein, wo er künftig als „Schkrab“, das heißt als „Schkolny rabotnik“, als Schularbeiter tätig sein wird – so nennt man in der angebrochenen Epoche die Lehrer. Gleichzeitig soll Alpatow im einstigen Schloss und Herrenhaus ein „Museum des Gutslebens“ einrichten. Humorvoll schildert Prischwin, wie Alpatow den Exponaten eigenmächtig Geschichten andichtet und je nach Besucher auch völlig andere Versionen davon erzählt. Wie in einem Panoptikum stellt Prischwin neben Alpatow eine ganze Reihe von teils kuriosen Figuren vor, die sich mit den neuen Verhältnissen mehr oder weniger arrangiert haben oder selbst zu den Vertretern der bolschewistischen Macht gehören. Die Arbeitsbedingungen auf dem Land erweisen sich für Alpatow als äußerst schwierig, da Hunger herrscht und Alpatow viel Zeit für die Nahrungssuche aufwenden muss: In der Kleinstadt versucht er das Recht auf eine Sauerkraut-Ration zu erwirken – für Prischwin ein willkommener Anlass, die Abgründe der neuen Bürokratie bloßzustellen. Alpatows weiteres Schicksal bleibt im Übrigen bis zum Schluss offen.

Von dieser Geschichte heben sich die zahlreichen eindrücklichen Naturschilderungen deutlich ab, die Prischwin – meist am Anfang der einzelnen Kapitel – immer wieder in seinen Roman einflechtet. Sie gelten überhaupt als eines der Markenzeichen des Autors, nicht umsonst hat sein Schriftstellerkollege Konstantin Paustowski Michail Prischwin einen „Sänger der Natur“ genannt. Prischwins Beschreibungen der Natur erheben sich bisweilen zu großartigen Hymnen:

Vollkommen silbern war der Kranich im Tau erschienen, jetzt fliegt ein anderer herzu, mit Flügeln so weit wie das Sonnenrund, sie haben sich gefunden und jubilieren. Und in allem Gesträuch fällt mit ungestümer Kraft Groß und Klein ein, jeder wie es ihm gelingt, jeder wie er gestimmt: Ruhm, Ruhm.

Eveline Passet hat diese Stellen, wie überhaupt den ganzen Roman, in ein fabelhaftes Deutsch übertragen. Der erhabenen Natur bei Prischwin scheinen die Menschen und die Geschichte, die sie schreiben (oder eher: anrichten), beinahe gleichgültig zu sein. Trotzdem suggeriert Prischwin hie und da, dass es der Natur ohne die Menschen besser gehen würde. Auf jeden Fall stehen die Überlegenheit sowie die Stille der Natur in einem spürbaren Kontrast zum eigenartigen Treiben der Menschen.

Als drittes wichtiges Merkmal des Buchs sind die ausführlichen Diskurse zu nennen, die in den Roman Eingang gefunden haben – etwa die Rolle der Russischen Revolution, die Geschichte an und für sich und der Platz des Menschen darin sowie Religion und Philosophie. Prischwins Buch ist außerdem reich an symbolhaften Begriffen, deren Entschlüsselung dem Leser nicht immer leicht fällt. Der titelerwähnte Kelch beispielsweise verweist zunächst auf die Bibel und steht damit für das Leiden – Alpatows Leben selbst zeigt Züge einer Passionsgeschichte. Der „Kelch“ wird jedoch im Verlauf des Romans mit zahlreichen Nuancen angereichert und mit weiteren Symbolen in einen Bezug gesetzt. Eveline Passet bietet in ihrem Nachwort glücklicherweise einige Hilfestellung, die es ermöglicht, den symbolischen Gehalt des Textes zumindest ansatzweise zu erschließen.

Man hat den Irdischen Kelch verschiedentlich eine Groteske genannt. Gewiss: Die eine oder andere Figur und mancher Dialog mögen einem grotesk und absurd vorkommen. Doch sind sie dies im Grunde genommen nur bedingt, wenn man versucht, sich in jene Jahre nach der Revolution hineinzudenken, in der das Alte hinweggefegt und das Neue noch nicht vollständig durchgesetzt und definiert war. In einer solchen Zeit sind allgemeine Bewertungskriterien quasi außer Kraft gesetzt. Prischwin weist denn auch darauf hin, dass er manche Dialoge nicht selber erfunden, sondern auf der Straße aufgeschnappt und dann in den Text eingebaut hat. Das alles heißt nun aber nicht, dass Prischwin keine Kritik an den Verhältnissen des Jahres 1919 üben würde. Im Gegenteil, er drückt seine Vorbehalte gegenüber der neuen Macht deutlich aus: Der Autor betont die vernichtende Kraft der Bolschewiken, die Zerstörung der Umwelt, der sozialen und kulturellen Traditionen und beschreibt, wie die Menschen zu Tieren (gemacht) werden. Gleichzeitig scheint aber auch durch, dass Prischwin seine Meinung zu den Bolschewiken und ihrem historischen Projekt im Moment der Niederschrift des Romans durchaus noch nicht abschließend gefasst hat. Er kritisiert zwar manches, ist aber gleichzeitig von der grundsätzlichen Notwendigkeit des Neuen überzeugt. Der Autor ringt gerade in den diskursiven Abschnitten des Romans weiterhin um seine Haltung. Diese vorläufige Unentschiedenheit verleiht der Lektüre einen zusätzlichen Reiz.

In Der irdische Kelch steckt viel von Michail Prischwins eigener Biographie. Eine parallele Lektüre seiner Tagebüchaufzeichnungen, die in Russland nun nach und nach erscheinen, ist in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich. Der irdische Kelch konnte zu Lebzeiten des Autors nicht veröffentlicht werden. Prischwin hatte den Text direkt Leo Trotzki zukommen lassen, der zwar das ästhetische Potenzial des Romans erkannte und auch anerkannte, zugleich aber den Inhalt als „konterrevolutionär“ bezeichnete. Es verwundert beinahe, dass sich für den Autor aus diesem Urteil keine weiterreichenden negativen Konsequenzen ergeben haben.

Der irdische Kelch wurde nun zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt. Die nun vorliegende Übersetzung bietet Anlass, einen wenig bekannten russischen Schrifsteller (neu) zu entdecken. Die eigentümliche Mischung an Ingredienzen wird ergänzt durch eine stilistisch vielfältige Sprache. Michail Prischwin konzentriert sich in seinem Roman auf einen kleinen Ort, eine kurze Zeitspanne und ein menschliches Schicksal. Dabei gelingt es ihm, eine Umbruchsphase in der russischen Geschichte auf eine Weise zu beleuchten, wie man sie bisher kaum gekannt hat. Unwillkürlich stellt sich einem die Frage, wie wohl ein Roman aussehen würde, der sich mit derselben erzählerischen Grundhaltung des heutigen Russlands annehmen würde.

Titelbild

Michail Prischwin: Der irdische Kelch. Das Jahr 19 des 20. Jahrhunderts.
Übersetzt aus dem Russischen von Eveline Passet.
Guggolz Verlag, Berlin 2015.
170 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783945370025

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