Deutsch-jüdischer Kulturtransfer

Ein von Elke-Vera Kotowski herausgegebener Sammelband spürt den Verästelungen des Kulturerbes deutschsprachiger Juden nach

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1911 erschien bei Duncker & Humblot in Leipzig, einem renommierten Verlag mit breit gefächertem sozialwissenschaftlichem Programm, ein Buch, das im Rezensionsbetrieb rasch die Runde machte, Zustimmung oder Ablehnung provozierte, beides auch da, wo man es, zumal aus heutiger Sicht, nicht immer erwartet hätte. Der Autor war Werner Sombart, von Haus aus Nationalökonom und einer der Gründungsväter der 1909 gegründeten „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“, seit 1906 Professor an der Berliner Handelshochschule, ein produktiver Gelehrter, der öffentliche Resonanz nicht scheute, sondern suchte, und der seinen Ruhm unter anderem mit einer ausladenden Studie über den modernen Kapitalismus begründet hatte. Das Thema, dem er 1911 seine Aufmerksamkeit widmete, war damit eng verknüpft, denn es suchte die Rolle der Juden im Wirtschaftsleben zu bestimmen. Deren Anteil am „Aufbau der modernen Volkswirtschaft“ sei nämlich weitaus „größer“, als bislang  „geahnt“, heißt es einleitend. Ihre besondere Eignung dafür sah Sombart in spezifischen Elementen einer rationalisierten Lebensführung sowie  – bedingt durch die Zerstreuung über die Welt – in bestimmten kollektiven Eigenheiten. Damit siedelte er sich in der Nachbarschaft von Rassentheorien an, die um 1900 nicht nur in Deutschland weite Kreise zogen. Eine „blutsmäßige Verankerung“ jüdischer Wesensmerkmale zu behaupten, hatte er jedenfalls keine Scheu.

Indem er Juden und Kapitalismus unlösbar aneinanderkettete, konnte er auf den Beifall der Antisemiten rechnen. Dass er auch unter den Zionisten Anhänger fand, hängt mit seiner Überzeugung zusammen, dass die Juden, wie er 1912 in einem Essay schrieb, trotz jahrhundertelanger Diaspora in Gegenwart und Zukunft die unverbrüchliche Aufgabe hätten, „als selbständiger Volkskörper sich zu erhalten“. Christian Dietrich, einer der 40 Autoren des von Elke-Vera Kotowski veranstalteten Sammelbandes, stellt Sombart in eine Reihe mit Moritz Goldsteins 1912 publiziertem Aufsatz im „Kunstwart“ („Deutsch-jüdischer Parnaß“) und Johann Gottlieb Fichtes „Reden an die deutsche Nation“, die alle drei in der zionistischen Publizistik auf Interesse und Resonanz stießen. An Sombart schätzte man, wie Dietrich formuliert, den „ethnisch stark aufgeladenen Begriff von den Juden“, der ihn „zum idealen Sprachrohr eigener Interessen werden ließ“, an Goldstein das Plädoyer für die Ausbildung einer auf Dissimilation zielenden eigenständigen nationaljüdischen Kultur, an Fichte den leidenschaftlichen, im Dezember 1807 vorgetragenen Weckruf an das Nationalgefühl seiner Landsleute. Und doch oder gerade deswegen blieben auch die Zionisten, ungeachtet ihrer Vorbehalte, den Traditionen deutscher Geistigkeit  verhaftet, verharrten, wie Robert Weltsch, der Redakteur der „Jüdischen Rundschau“,rückschauend konstatierte, „im Rahmen der faktischen Assimilation“.

Für Dietrich sind das Indizien für die Schwierigkeiten, das Proprium des „Deutsch-Jüdischen“ zu fassen. Auch Michael A. Meyer weist auf die Komplexität, den Facettenreichtum, die vielfachen Dimensionen und Wandlungsprozesse hin, die es bei der Frage nach der Identität der Juden in Deutschland zu berücksichtigen gelte. Aus „drei Quellen“ habe sich diese gespeist: aus der Geburt und der persönlichen Geschichte, aus eigenen Entscheidungen und aus den Zuschreibungen der Gesellschaft, in der sie lebten. Nicht zuletzt daraus erwuchs ein unauflösliches Dilemma: „Obwohl die deutschen Juden strebten, ihre deutsche Identität zu verfestigen, weigerten sich weite Teile der Nicht-Juden, diese Identität anzuerkennen“, lautet der Befund. Antijüdische und antisemitische Strömungen, die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts mächtig anschwollen, untergruben in der Konsequenz alle Bemühungen, Gefühle von Zusammengehörigkeit zu wecken und zu befestigen. Der erfolgreiche Romancier Jakob Wassermann, den Meyer in diesem Zusammenhang zitiert, fühlte davon seine Existenz in einem essentiellen Sinn bedrängt. Zugleich offenbarten sich darin Phänomene, die weit über individuelle Befindlichkeiten hinausreichten, als er 1921 bekannte: „Die Juden, die Deutschen, diese Trennung der Begriffe wollte mir nicht in den Sinn, es war die peinvollste Überlegung, darüber mit mir selbst ins klare zu kommen.“

Ebenso wenig wie ‚die‘ Identität der in Deutschland beheimateten Juden läßt sich ‚das‘ deutsch-jüdische Kulturerbe in den Ländern des Exils nach 1933 trennscharf bestimmen. Die Ergebnisse der hier versammelten, durchweg lesenswerten Aufsätze sind eindeutig. Man kann die Leistungen einzelner Personen oder Gruppen beschreiben, kann erzählen, mit welchen Hindernissen die Exilanten in ihren nicht immer selbst gewählten Zielländern konfrontiert waren, kann berichten über mehr oder weniger gelungene Integrationsversuche, aber auf so etwas wie kollektive Hinterlassenschaften wird man dabei eher selten stoßen. Gewiß, es gab Elemente eines Habitus, der den Emigranten aus Deutschland anhaftete und von den Eingesessenen als fremd wahrgenommen und entsprechend karikiert wurde. Die ‚Jeckes‘ in Palästina erschienen so gesehen als Verkörperung des Deutschen schlechthin, trugen trotz der Hitze Jacken und Schuhe, pflegten die deutsche Sprache,  das letzte ihnen verbliebene, unverlierbare Stück Heimat. Auch im Sport lassen sich „deutsche Denk- und Organisationsmuster“ nachweisen. Besonders nach 1933 verstärkten sich im „Jischuw“, wie Moshe Zimmermann zeigt, die Präsenz und der Einfluss „der deutschen Körperkultur“ ganz erheblich, was die Bemühungen des Zionismus unterstützte, Turnen, Fußball und andere Spielarten sportlicher Ertüchtigung, darin deutschen Vorbildern verpflichtet, in den Dienst der „nationalen Wiedergeburt“ zu stellen, Leibesübungen und Wettkampf als „Instrumente“ zur „Stärkung der Wehrkraft“ zu benutzen.

Unter „deutsch-jüdischem Kulturerbe“, so Elke-Vera Kotowski in der Einführung für das von ihr betreute Unternehmen, soll die „Gesamtheit aller Lebensäußerungen“ gefaßt werden, in denen sich Identitäten und Identitätszuscheibungen manifestieren. Sie „repräsentieren“, heißt es weiter, „Aspekte des kulturellen Gedächtnisses“, die sich in den verschiedenen Phasen der Kohabitation von Juden und Nicht-Juden im deutschsprachigen Raum herausgebildet haben. Dabei ist das materielle Erbe ebenso relevant wie das immaterielle, „Kunst-, Alltags oder sakrale Gegenstände“ ebenso wie „kulturelle Techniken, Praxen, Kenntnisse und performative Akte“. Schon diese Formulierungen lassen ahnen, dass die hier versammelten Beiträge ein außerordentlich breites Spektrum an Themen, kulturellen und sozialen Konstellationen abdecken. Dabei wird deutlich, dass vom Kulturtransfer, gleichviel ob von den Nationalsozialisten erzwungen oder schon vor 1933 vollzogen, ohne die Menschen, die ihn getragen haben, weder anschaulich noch sachgerecht erzählt werden kann, und es ist nur angemessen, dass der personalen Dimension der ihr gebührende Raum gewährt wird.

In dieser Perspektive gibt Werner Treß Beispiele für die prägende Rolle einzelner Rabbiner und Gelehrter in den Vereinigten Staaten, Uta Deichmann beleuchtet das Verhältnis von „Wissenschaft und jüdischer Identität“, indem sie das Augenmerk auf Fritz Haber, den Entdecker der Ammoniaksynthese und einen der Väter des deutschen Gaseinsatzes im Ersten Weltkrieg, sowie auf den Biochemiker Leonor Michaelis lenkt, der in Deutschland keine Professur erhielt und sich schon vor 1933 nach Übersee orientierte, zunächst in Japan, dann in den USA bedeutende akademische Meriten erwarb. Christine Holste sieht in der Architektur und den Hervorbringungen jüdischer Architekten Manifestationen für das „Spannungsverhältnis zwischen der jeweiligen Mehrheitsgesellschaft“ und deren „Umgang mit der jüdischen Minderheit“. Der preußische Jurist Albert Mosse, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts zum Rechtsberater der japanischen Regierung berufen wurde, wird von Joachim Rott porträtiert, Doris Maja Krüger schreibt über den Literatursoziologen Leo Löwenthal und die „jüdische Renaissance“ in der Weimarer Republik, Eva-Maria Ziege, um nur noch sie zu nennen, hebt die Bedeutung Erich Fromms für die „Entwicklung der Psychoanalyse in Mexiko“ hervor.

Was blieb übrig? Wie war und ist der Umgang mit dem deutsch-jüdischen Erbe nach dem Zusammenbruch des Nationalismus, zumal nach der Diagnose des Rabbiners und Überlebenden des KZ Theresienstadt Leo Baeck, wonach „die Epoche der Juden in Deutschland ein für alle Mal vorbei“ sei: Der „Glaube“, dass „deutscher Geist und jüdischer Geist auf deutschen Boden sich treffen und durch ihre Vermählung zum Segen“ hätten werden können, habe sich als „Illusion“ entpuppt. In der Tat existiert nach NS-Diktatur und Shoa kein „authentisches deutsche Judentum“ mehr. Insofern, argumentiert Julius H. Schoeps, habe es  keinen ihm gemäßen Ort und sei gezeichnet vom „Stigma der Heimatlosigkeit“. Um die Erinnerung zu bewahren, bedürfe es der „Institutionalisierung und Vernetzung“. Gelingen werde dies nur, wenn  das deutsch-jüdische Erbe „nicht als etwas Fremdes, sondern als etwas Eigenes angesehen“ werde: „Nur dann besteht die Chance, daß die deutsch-jüdische Kulturtradition in Deutschland wenigstens in Ansätzen weiterleben kann.“ Dazu gehört, was Norbert Mecklenburg an den Beständen des Archivs des Leo Baeck Instituts exemplifiziert, die Einsicht, dass die Trennung in ‚Deutsche‘ und ‚Juden‘ ein politisierter Topos des völkischen Radikalismus, eine künstliche, die historischen Gegebenheiten verzerrende antisemitische Agitationsfigur war. „Normale“ Verhältnisse werde es erst dann geben, so die These, wenn dies als Relikt des Nationalsozialismus begriffen und die „Möglichkeit des darüber Anders-Denkens wieder hergestellt“ werde.

Es fällt schwer, das Genre der Aufsatzsammlung eindeutig zu bestimmen. Sie ist teils Handbuch, teils Präsentation von begonnenen oder abgeschlossenen Projekten, enthält teils Überblicksessays, teils Spezialstudien. Für den Charakter eines orientierenden Handbuchs spricht der voluminöse Anhang von gut 150 Seiten, der weltweit Archive, Bibliotheken, Museen und Forschungseinrichtungen verzeichnet, sowie über deren Ziele, Bestände und die jeweils abgedeckten Forschungsfelder informiert: ein nützliches, von Matthias Albert Koch zusammengestelltes Vademekum, das „fortlaufend ergänzt und aktualisiert“ wird und im Internet unter www.germanjewishculturalheritage.com abrufbar ist. Gegen ein Handbuch spricht, dass die relativ knapp gehaltenen Beiträge auf systematische Ausflüge in Forschungsgeschichte und Forschungsstände, also auf übliche handbuchtypische Elemente verzichten. Ein Nachteil ist das freilich nicht, sondern erhöht vielmehr die Lesbarkeit und die Chancen für eine Rezeption diesseits wie jenseits der akademischen Gefilde.

Titelbild

Elke-Vera Kotowski (Hg.): Das Kulturerbe deutschsprachiger Juden. Eine Spurensuche in den Usprungs-, Transit- und Emigrationsländern.
De Gruyter, Berlin, München, Boston 2015.
814 Seiten, 89,95 EUR.
ISBN-13: 9783110304794

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