Warum dem Bürger zum Weltende nicht nur der Hut vom spitzen Kopf fliegt

Eckart Voigts und Alessandra Boller haben ein Handbuch zu Dystopia, Science Fiction und Post-Apocalypse herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Handbücher sind im Allgemeinen in deutscher Sprache verfasst, Manuals hingegen in englischer. Wieso ein Band auf Einband und Vorblatt als Handbuch firmiert, aber ausschließlich in Englisch verfasst wurde, erhellt sich auf den ersten Blick nicht und wird auch auf keiner seiner 430 Seiten erwähnt, geschweige denn erläutert oder gar begründet.

Die Rede ist von dem in der Reihe „Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium“ erschienen Band „Dystopia, Science Fiction, Post-Apocalypse“, in dem selbst noch Zitate aus der nur äußerst spärlich herangezogenen deutschsprachigen Sekundärliteratur stillschweigend ins Englische übersetzt wurden. Herausgegeben haben ihn Eckart Voigts und Alessandra Boller.

Voigts hat eine Professur am Englischen Seminar der TU Braunschweig inne, Boller ist am Seminar für Anglistik der Universität Siegen tätig. Auch die meisten der Beitragenden lehren und forschen an deutschen Universitäten im Bereich der Anglistik und Amerikanistik. Nun mag das erklären, warum der Band ausschließlich englischsprachige Primärtexte beleuchtet. Begründet wird allerdings auch dies nicht. Vielmehr belässt es Mitherausgeber Voigts in der „Introduction“ bei dem ausdrücklichen Bedauern darüber, dass die Beschränkung auf englischsprachige Primärquellen „the exclusion of globally important non-English texts“ zur Folge hatte. Voigts’ einleitender „Overview“ zur „ Dystopian Imagination“ bietet neben einigen Anmerkungen zu „Genre and Terminologies“ der „SF, Dystopia, and (Post-)Apocalypse“ einen Abriss zur Historie der Science Fiction, deren Wurzeln er in „the 19th-century techno-criticism“ ausmacht. An Johann von Voß’ ganz und gar nicht technik-kritischer Zukunftsphantasie „Ini“ aus dem Jahr 1810 hat Voigts offenbar nicht gedacht. Aber Voß hat sein Buch ja auch in deutscher Sprache verfasst und veröffentlicht.

Der dreigliedrige Untertitel des vorliegenden Bandes „Classics – New Tendencies – Model Interpretations“ weckt falsche Erwartungen. Denn tatsächlich bietet das Buch, abgesehen von dem bereits erwähnten gut zehn Seiten umfassenden Vorwort, ausschließlich Interpretationen repräsentativer Texte, Comics, Filme und PC-Spiele. Die Anordnung der Beiträge wird nicht begründet, orientiert sich aber im Wesentlichen an der Entstehungszeit der interpretierten Werke, deren ältestes aus dem Jahr 1895 stammt. Beschlossen werden die Aufsätze jeweils mit einer annotierte Bibliografie.

Einer der Beitragenden ist selbst Autor einer (satirischen) Dystopie. Ulrich Horstmann veröffentlichte 1985 den phantastischen Roman „Das Glück von OmB’Assa“. In dem vorliegenden Band widmet er sich Russel Hobans literarischer „Post-Nuclear Dystopia“ „Riddley Walker“ (1980). Ronja Tripp wiederum analysiert Aldous Huxleys „ground-breaking“ Roman „Brave New World“ (1932), der eine biopolitische Dystopie und zugleich eine „anti-Utopian satire“ sei. Sonja Georgi liest Octavia Butler’s „Parable Series (1993, 1998) und die „Xenogenesis Trilogie“ (1987-1989)  als „Critical Dystopia“ respektive „Posthuman Dystopia“. Raimund Borgmeier bietet eine „detailed analyses“ von Ursula K. LeGuins Roman „The Dispossessed“ (1974), den die Schriftstellerin selbst im Untertitel als „Ambiguous Utopia“ ausweist. Renate Brosch widmet sich hingegen in ihrer Untersuchung zu „A Clockwork Orange“ (1962/1971) einem Roman und seiner Verfilmung. Ausschließlich Filmen gilt hingegen das Interesse von Monika Pietrzak-Franger, die sich mit „Matrix“ (1999-2003) und „ExistenZ“ (1999) befasst. Dirk und Marie Vanderbeke beleuchten die „Graphic Dystopias“ „Watchmen“ (1986-1987) und „V for Vendetta“ (1982-1989), während sich Sebastian Domsch „Dystopian Video Games“ zuwendet.

Eröffnet aber wird der Band mit einem Aufsatz von Richard Nate über „The Time Machine“ (1895) und „The War of the Worlds“ (1898) von H. G. Wells. Nate kündigt zwar an, er werde zeigen, dass die Romane „are intended to warn against the consequences of what Wells and some others perceived as a process of biological and cultural degeneration“. Tatsächlich geht er jedoch weniger auf die Intention des Autors ein, dazu hätte es wohl auch stärkerer Bezugnahmen auf entsprechende Aussagen Wells über seine beiden Texte bedurft. Vielmehr plausibilisiert Nate, dass die beiden SF-Texte als solche Warnungen gelesen werden können.

In die Irre führt der Titel „Dystopian Androids“, unter dem sich Christoph Houswitschka Philip K. Dicks Kurzgeschichte „Do Androids Dream Of Electric Sheep?“ (1968) und Ridley Scotts Verfilmung „Blade Runner“ (1982) zuwendet. Denn in den Werken sind ja nicht die Androiden dystopisch. Im Gegenteil, wenn Buch und Film überhaupt einen Hoffnungsschimmer in der dystopischen Menschenwelt erkennen lassen, wird er von Androiden verkörpert, wie auch Houswitschka andeutet, wenn er schreibt: „Androids in both Dick’s novel and Scott’s film personify the unacknowleged opportunities to find redemption and regeneration of a flawed world by accepting their humanity“. Die eigentliche Dystopie aber macht der Autor gewissermaßen in der Schöpfung selbst aus. „Creation itself of both androids and human beings becomes part of a dystopian narrative about our world.“ Das ist mehr als nur eine originelle Idee. Zwar würdigt Houswitschka die Rolle von Mary Shelleys „Frankenstein“ für das Genre. Eine andere Ehre lässt er hingegen nicht ganz zu Recht Fritz Lang zukommen, wenn er erklärt, der Regisseur von „Metropolis“ (1925-1926) „was the first director to collapse the story of a female robot who takes the role of a demagogue“, und dabei verschweigt, dass es sich bei Langs Werk um eine Literaturverfilmung handelt. Langs Ehefrau Thea von Harbou hatte nicht nur den gleichnamigen Roman, sondern auch das Drehbuch zum Film geschrieben. Die innovative Idee stammt also keineswegs von ihm.

Margaret Atwood ist die einzige AutorIn, deren Werke gleich in zwei Beiträgen des vorliegenden Bandes ausführlicher gewürdigt werden. Kerstin Schmidt beleuchtet das „Religious Dystopia“ in „The Handmaid’s Tales“ (1985) und Dunja M. Mohr bietet eine insgesamt inspirierende Interpretation der „MaddAddam“-Trilogie (2003 bis 2013) als biotechnologischer Eco-Dystopie.

Jeanne Cortiel wiederum stellt in ihrem erhellenden Beitrag zur „Feminist Utopia/Dystopia“ die beiden Werke „The Female Man“ (1975) von Joanna Russ und „Woman on the Edge of Time“ (1976) von Marge Piercy nebeneinander. Ihre Thesen, „that these two novels can be seen as prototypical feminist dystopian texts in the 1970s, constituting the beginnings of feminist dystopianism in the midst of the utopian renaissance“, dürfte unbestritten sein. Und dass beide Romane „present the basic narrative world as dystopian for women; both include a partial utopia and its dystopian nemesis; both show that this utopia is only the present moment; and finally, both novels are grounded in a powerful sense of utopian hope, while also expressing profound pessimism“, wurde in ihren Grundzügen in den 1980er-Jahren bereits so ähnlich von der Politologin Barbara Holland-Cunz vertreten. Neu und erhellend allerdings ist Cortiels über die beiden untersuchten Werke hinausweisende Anmerkung, dass „Feminist dystopia is not isolated from or even antagonistic to dystopian tradition“, sondern „the feminist dystopia includes a critique of the genre itself“.

Wenn die Autorin hingegen „in the foundational texts of this tradition“, namentlich in „Brave New World“ und „Nineteen Eighty-Four“, die  „discernible roots“ feministischer Dystopien ausmacht, entgeht der in Bayreuth tätigen Amerikanistin, dass bereits 30 respektive 50 Jahre vor diesen beiden dystopischen Klassikern eine feministische Dystopie deutscher Sprache erschien, die mit den beiden von ihr betrachteten Werken sehr viel mehr gemein hat als die Dystopien von Wells und Huxley: Helene Judeichs „Neugermanien“. Ebenso wie die Werke von Russ und Piercy stehen sich in dem 1903 erschienen Theaterstück eine dystopisch-maskulinistische (Absurdum) und eine utopisch-feministische Gesellschaft (Neugermanien) gegenüber. In Judeichs Stück wurden die im Jahr 2000 einem maskulinistischen Putsch unterlegenen Feministinnen aus dem nunmehrigen misogyn regierten Absurdum vertrieben und gründeten das feministische Neugermanien. Das Männerreich führt sich hingegen schließlich durch die extensive Unterdrückung der Frauen selbst ad absurdum. Immerhin merkt auch Cortiel an, dass feministische Dystopien „reaches back to a number of interconnected literary and broader cultural and critical traditions especially in the late 19th and early 20th centuries“.

Das Fazit dieser Rezensionen fällt ähnlich ambivalent aus wie die feministischen Visionen: Zwar sind einige der Aufsätze durchaus erhellend, konzeptionell überzeugt das Handbuch jedoch weniger. Zudem realisiert der Band materiell eine dystopische Vorstellung aller Lesenden. Kaum schlägt man ihn auf, rieselt er auch schon als Sammlung loser Blätter zu Boden.

Titelbild

Eckart Voigts / Alessandra Boller (Hg.): Dystopia, science fiction, post-apocalypse. classics – new tendencies – model interpretations.
WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 2015.
430 Seiten, 37,00 EUR.
ISBN-13: 9783868215656

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