Utopien, die Dystopien gebären
Margaret Atwood hat ihre „MaddAddam“-Trilogie mit der „Geschichte von Zeb“ abgeschlossen
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Rape/Revenge-Genre, in dem – nicht selten cineastische – Geschichten vergewaltigter Frauen erzählt werden, die sich zu gewaltigen Rächerinnen ermächtigen, reüssiert bekanntlich nicht erst seit gestern. In dem hier zu besprechenden Buch tritt hingegen eine ehedem „knallharte“ Frau auf, die durch die fortgesetzten Vergewaltigungen ihrer Entführer gebrochen wurde, was vermutlich wesentlich realistischer sein dürfte. Dabei ist Margaret Atwoods Roman „Die Geschichte von Zeb“ dem nicht eben für seinen Realismus be- und gerühmten Genre der Science Fiction zuzurechnen. Mit ihm beschließt die Autorin ihre „MaddAddam“-Trilogie, deren beiden ersten Teile „Oryx und Crake“ sowie „Das Jahr der Flut“ 2003 und 2009 erschienen.
In einer heruntergekommenen Welt voller Hass, Habgier, Niedertracht und all den anderen menschlichen Makeln, die das Leben auf Erden zur Hölle machen, rottet der junge Wissenschaftler Crake kurzerhand die Menschheit aus und schafft eine neue Spezies. Handelt der erste Band davon, wie er seinen Plan zur Vernichtung der Menschheit schmiedet und durchführt, um an ihrer Stelle die Craker zu setzen, von ihm erzeugte menschenähnliche Wesen ohne jede Aggressionsfähigkeit, auf dass eine bessere Welt entstehe, so zeigt der zweite Band das Geschehen aus einer ganz anderen Perspektive, nämlich aus derjenigen der „Gottesgärtner“, die ähnlich wie Crake von einer Heilsideologie getrieben werden. Der dritte Band schließt unmittelbar an den vorherigen an, der unmittelbar nach der fast vollständigen Ausrottung der Menschen mit einem Cliffhanger endete.
Ungeachtet seines Titels ist der dritte Teil zumindest ebenso sehr die Geschichte von Toby wie die von Zeb. Wer die Trilogie bislang verfolgte, kennt beide Charaktere bereits aus dem zweiten Band. Hier wie dort ist Toby die eigentliche Identifikationsfigur. Zu den ehemaligen GottesgärtnerInnen haben sich nun die Craker gesellt. Ihnen erzählt Toby allabendlich Craker-gerecht und somit ins süßlich-märchenhafte umgedichtet die Geschichte von Zeb, die sie zuvor vermutlich recht wahrheitsgetreu und in wesentlich raueren Worten von ihm berichtet bekommen hat. So würzt er seine Geschichte gerne mit derben Obszönitäten und begegnet einer Frau auch schon mal mit den Worten „Was du brauchst ist ne ordentliche Tiefbohrung“.
Zeb, so erfährt Toby, wuchs mit seinem Halbbruder Adam bei „Hochwürden“, einem perversen Frauenmörder auf, der es bestens verstand, den Gläubigen das Geld aus der Tasche zu ziehen. Die heranwachsenden Geschwister flohen, wobei sie nicht versäumten, den Betrüger um das von ihm gestohlene Geld zu betrügen. Zebs abenteuerlicher Weg führte ihn über die „Bärenbrücke“ zu HelthWyzer, wo er auf den etwa zehnjährigen Überflieger Crake trifft, und schließlich zu den „Gottesgärtnern“. Zeb entwickelt sich immer mehr zu einem kampferprobten Haudegen mit einer rauen Schale und einem vielleicht etwas weicheren Kern.
Doch bietet der Roman nicht nur zwei Perspektiven auf die abenteuerliche Vergangenheit von Zeb, sondern erzählt aus der Sicht Tobys die Gegenwart der ehemaligen „Gottesgärtner“. Sie leben in steter Furcht vor der Rache zweier Painballer. Die arglosen Craker befreiten die beiden, als sie sahen, dass die ebenso empathielosen wie mörderischen „Gladiatoren“ an ihrer Fesselung litten. Neben den Menschen und den Craker spielt noch eine dritte Spezies eine nicht zu unterschätzende Rolle: die gerne verzehrten Organschweine. Die einst als lebende Ersatzteillager für die Menschen gentechnisch geschaffenen Hybride sind aufgrund ihres „menschlichen präfrontalen Kortexgewebes im Gehirn“ klug genug, Menschen ernsthaft gefährlich werden zu können.
Die Craker hingegen sind zwar „übernatürlich schön“, erscheinen aber eher instinktgeleitet als vernunftbegabt. Es ließe sich auch sagen, sie seien sexbeseelt und struntzdumm. „Das sind wandelnde Kartoffeln“, befinden jedenfalls einige der Menschen. Dabei, so räumen sie gerne ein, sind die Craker „total nett“, „zumindest die Frauen“. Färben sich deren Genitalbereiche blau, wenn sie paarungsbereit sind, so hat ihr Schöpfer die männlichen Craker mit überdimensionierten Penissen ausgestattet. Ganz so dumm, wie es lange scheint, sind die Craker aber vielleicht doch nicht. Einer von ihnen sieht Toby beim Schreiben ihres Tagebuches zu und lernt selbst, erste Worte zu schreiben. Schließlich erweisen sich die Craker gar als unerwartet hilfreiche Dolmetscher zwischen den Spezies.
Atwood verhandelt in ihrem Roman allerlei Liebesprobleme und ethische Fragen. Ist die Todesstrafe stets abzulehnen oder in bestimmten Fällen geradezu ethisch erfordert? Und wie kann man mit der eigenen Eifersucht fertig werden, die sich nie ganz ablegen lässt, selbst wenn sie einem noch so verhasst ist? Auch werden die Klischees des angeblich allen Frauen innewohnenden Kinderwunsches und der bedingungslosen Mutterliebe konterkariert. „Wer will den schon Kinder in dieses Elend setzen?“, fragt eine der Frauen rhetorisch in die Runde. „Ich bezweifle, dass du die Wahl haben wirst“, meint daraufhin die stets als ein wenig naiv gezeichnete Swift-Fuchs und betont, sie fände, „wir sind es der Menschheit schuldig“. Tatsächlich werden einige der Frauen schwanger. „Ich will dieses Ding nicht in mir haben“, klagt eine von ihnen, denn als mögliche Väter kommen nur „ein Schwerverbrecher“ und „ein gespleißtes Monster“ in Frage. Keiner der Figuren weiß angesichts dieser Alternative, „Optimistisches oder Beruhigendes“ zu sagen. Denn nichts könnte „sonderlich überzeugend“ klingen. Weder, dass Gene „nicht unbedingt gleich Schicksal“ und „epigenetische Veränderungen denkbar“ seien, noch, dass der potentielle Verbrechervater vielleicht „ja nur eine sehr, sehr schwere Kindheit“ gehabt habe und der ebenfalls mögliche Monstervater „vielleicht menschlicher“ sei, „als wir denken“, noch gar, dass „auch aus Bösem Gutes erwachsen“ könne.
Atwood erzählt die Geschichte von Zeb mit eben jener schwärzesten Art von Humor, die bereits in den beiden vorherigen Bänden mehr als nur aufblitzte. Dabei kann sie auch schon einmal augenzwinkernd selbstreferentiell werden und eine Figur konstatieren lassen, dass „Spekulationen über den Zustand der Welt, nachdem der Mensch die Kontrolle über sie verloren hatte, – vor langer Zeit und auch nicht lange – eine heikle Form der Massenunterhaltung bildeten“. Ein kleiner Missgriff scheinen hingegen die „knatternden kleinen Solarmotoren“ der Bärenbrücke zu sein. Denn diese machen bekanntlich nicht solche Geräusche.
Führen die ersten beiden Bände je eine Utopie ad absurdum – „Oryx und Crake“ die des gentechnisch zu erzeugenden Neuen Menschen und „Das Jahr der Flut“ die einer religiös überhöhten Ökoideologie — so beschränkt sich der vorliegende Band darauf, beiläufig zu bemerken, dass nichts bleibt, als zu „erkennen, was vermieden werden muss“. Eben dies ist die Aufgabe von Dystopien wie der vorliegenden. Sie, die Dystopien, sind gerechtfertigt; nicht jedoch die Utopien mit den ihnen innewohnenden dystopischen Gefahren. Dies, so könnte man sagen, sei die Moral von Zebs Geschichte, wäre da nicht eine kleine Liebäugelei mit dem Utopischen, die Atwoods Dystopie schließlich doch noch riskiert.
Ohne allzu viel vorwegnehmen zu wollen, sei noch erwähnt, dass die Geschichte von Zeb mit zwei zivilisatorischen Prozessen und dem Tode der einen oder anderen Figur endet, die den Lesenden an Herz gewachsen sein dürfte. Solche Figuren aber überhaupt ins Leben rufen zu können, ist die große Kunst der Schriftstellerei.
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