Geheimnisvoll und poetisch
Judith Kuckart erzählt in „Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück“ von Menschen, die das Glück suchen und manchmal auch finden
Von Georg Patzer
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLeonhard allein zu Haus. Es ist Silvester. Er fährt mit dem Rennrad über die Terrasse, was artistisch aussehen soll. Er studiert in der Nähe im ersten Semester Volkswirtschaft und fährt jeden Abend wieder heim, „aus Anhänglichkeit oder vielleicht auch aus Angst, was manchmal das Gleiche ist“. Er macht sich zum Jahreswechsel Nudeln mit Fertigsugo, schaut fern, liest eine SMS seiner Eltern, die in Belgien sind, spielt Klavier und legt sich dann schlafen. „Am Morgen lag die Frau in der Diele.“
So abrupt und geheimnisvoll beginnt das neue Buch von Judith Kuckart – und so geheimnisvoll geht es auch weiter, so geheimnisvoll wie manchmal das Leben. Denn auch hier wird wenig aufgeklärt: Wie ist die Frau überhaupt ins Haus gekommen? Was will sie überhaupt und was macht sie? Leonhard jedenfalls ruft weder die Polizei noch seine Eltern an, sondern macht Kaffee. Sie erzählt von ihrer Tochter Ronja, zeigt ihm, dass sie im Handstand laufen kann und verbringt die Nacht mit ihm. Einen Tag später trägt sie eine grüne Polizeiuniform (‚richtige‘ Polizisten haben eine blaue), lässt sich von ihm fotografieren, steigt in den Bus und verschwindet: „Nur einmal glaubte Leonhard, sie wieder gesehen zu haben. Im Kino. Sie kam ihm viel älter vor, und im Abspann hieß sie Tilda Swinton.“
Es sind kurze Begegnungen, von denen Judith Kuckart in ihrem neuen Roman „Dass man durch Belgien muss auf dem Weg zum Glück“ erzählt. Begegnungen, die die Beteiligten verändern. In elf Kapiteln fächert Kuckart eine Reihe solcher Zusammentreffen auf und erst allmählich merkt man als Leser, dass sie miteinander verbunden sind: Die Frau in der Diele ist die arbeitslose Schauspielerin Katharina aus Basel, die mithilfe der Polizeiuniform umsonst mit der Bahn fährt. Im Sommer wohnt sie bei einer Freundin in Berlin, manchmal erzählt sie von ihrer Tochter Ronja. Aber wahrscheinlich gibt es diese gar nicht.
Da sind noch Emilie und Maria, pensionierte Lehrerinnen in einem tschechischen Kurort, Wanda, die in einer Bäckerei arbeitet und dort Katharina trifft, Leonhards und Beas schüchterner Klavierlehrer Joseph, der die Lehrerinnen nach Tschechien fährt und in das gleiche Haus zieht, in dem Wandas erster Mann lebt. Katharinas Schwester Bea, die mit ihrem Mann in derselben Siedlung wie Leonhard wohnt. Viktor, den Vertriebsleiter eines Fachverlags, der an eine Frau denkt, die in ihrem Abschiedsbrief vor dem Selbstmord schreibt, „dass jemand bitte noch die Pfandflaschen zurückbringen soll“: Sie wirft sich vor einen Zug, der nach Belgien fährt. Es sind kleine alltäglich Augenblicke, die wir miterleben dürfen, in denen Beziehungen (zwischen Männern und Frauen, Kindern und Eltern, Untergebenen und Vorgesetzten) kurz angedeutet werden – und in der Andeutung mehr als deutlich werden. Kuckart erzählt von Untreue und Freundschaft, von Liebe und Glück, das sie alle suchen, und vor allem von der Unmöglichkeit und von dem Wunsch, ein Kind zu bekommen – eine tiefe Wunde für viele.
Karg und präzise, unpathetisch, beinahe beiläufig und somit höchst kunstvoll erzählt Kuckart diese Geschichten, Anspielungen, Skizzen. Lieber erzählt sie zu wenig als zu viel, was eindeutig an A.L. Kennedy und Alice Munro erinnert, auch wenn sie ab und zu etwas zu gewollt geheimnisvoll und poetisch und damit leider kitschig wird, etwa wenn das Glück ein „gläserner Gast“ sein soll. In kurzen Passagen beherrscht sie aber die Kunst, die Menschen aus der Welt fallen zu lassen. Etwas zu erleben, was sie berührt oder erschüttert, was ihr Leben, manchmal auf unscheinbare Weise, verändert. Es sind Kleinigkeiten, aber gerade diese Kleinigkeiten sind es, auf die es in der Literatur wie im richtigen Leben ankommt.
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