Tönende Träumereien
Robert Walsers vielschichtiges Verhältnis zur Musik dokumentieren Roman Brotbeck und Reto Sorg in „Das Beste, was ich über Musik zu sagen weiss“
Von Rafael Arto-Haumacher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSchon Hermann Hesse verwies, als Bewunderer von Robert Walser (1887–1956), auf die am Musikalischen orientierten Gestaltungsprinzipien der Walser’schen Texte, indem er sie als „feine Kammermusik“ bezeichnete. Walser, dessen Romane, Prosastücke und Gedichte sich mit der Beobachtung der bürgerlichen Welt zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus der Sicht eines Sonderlings, eines unkonventionell wahrnehmenden Flaneurs befassen, schuf sich sprachliche Ausdrucksmittel, welche an das handwerkliche Repertoire eines virtuosen Musikers erinnern. Metrik, Rhythmik, Sprachmelodik, Sprachdynamik und Verzierungstechniken künden von einer Suche nach Ausdrucksmöglichkeiten, um die Wahrnehmung der Welt und ihre Transformierung in die überbordende Imagination des Beobachtenden adäquat zu verschriftlichen und der Enge sprachlicher Konventionen zu entkommen.
Auch wenn Walser als Kind zum Klavierspielen angehalten wurde, hatte er später weder einen musiktheoretisch fundierten Zugang zu Musik noch lauschte er mit den Ohren des Connaisseurs. Dennoch spielt Musik in seinem Werk eine bedeutende Rolle: in ihrer bewussten oder unbewussten Wahrnehmung durch die Figuren und Erzähler seiner Texte und der Stimulanz, die jene zu einer ganz eigenen Weltbeobachtung gelangen lässt. Eindrucksvoll zeigen dies die Herausgeber Roman Brotbeck und Reto Sorg in dem Band „Das Beste, was ich über Musik zu sagen weiss“, in welchem sie Texte von Walser versammelt haben, die sich im engeren wie im weitesten Sinne mit Musik befassen. Die Texte – aus 300 vorliegenden wählten die Herausgeber 60 aus – sind chronologisch angeordnet und umfassen einen Entstehungszeitraum von 1899 bis 1933. Die Auswahl beschränkt sich auf kurze Prosastücke und Gedichte, während Passagen aus Walsers Romanen oder Briefwechsel nicht mit aufgenommen wurden.
Insgesamt ist eine beachtliche Bandbreite abgebildet: Sie umfasst Texte, in denen Musik das zentrale Sujet ist („Musik“, 1902), geht über Texte, in welchen die Beschreibung von Musik als inszenatorisches Mittel verwendet wird („Der Schuss. Eine Pantomime“, 1902), und reicht bis hin zu Texten, in denen sich Musik durch Geräusche („Klopfen“, 1925) oder durch ihre ausdrückliche Absenz manifestiert („Schneien“, 1917). Es lassen sich immer wiederkehrende Motive in den Stücken ausmachen: Musik als Mittel des Seelenzugangs, als zum Vergessen und Träumen führende Sinnesberauschung oder allgemein als Widerspiegelung des Lebens.
Dass Musik die Kraft hat, die Seele des Menschen zu erreichen, meint Walser weniger in einem religiösen Sinn. Vielmehr ist ihm die Seele der Kern des Menschlichen, das, was jedem Menschen eigen und bei jedem Menschen gleichartig ausgebildet ist. Der Musikhörende ist in diesem Moment „nur Mensch“ und verbindet sich mit dem Musikausübenden, der ebenfalls, wie es Walser über Niccolò Paganini sagt, „ganz nur Mensch“ war, „wo er konzertierte“. Somit hat Musik in ihrem Zugriff auf die Seele die Kraft, Unterschiede zu verwischen und Verbindung zu schaffen, was mit Walsers Vorliebe für schneebedeckte Landschaften korrespondiert, weil der Schnee Konturen verwischt und eine ansonsten vielfältige Szenerie „zu einem einzigen sinnenden Ganzen“ verbindet.
Zudem kann Musik den Zuhörer vergessen machen oder zu „tönenden Träumereien“ (ver)führen. Hier ist weniger Weltflucht als vielmehr der Übergang in einen Wahrnehmungszustand gemeint, welcher die Entrückung vom gerade Geschehenden braucht, damit sich unkonventionelle, hintergründige Beobachtungen machen lassen, die sonst nicht abrufbar wären. Musik kann gleichsam zum Halluzinogen werden („Lustspielabend“, 1907). Das kann sich auch im Topos des um die Gunst einer Frau werbenden Musizierenden zeigen: Der Werber setzt die Klänge seines „Seeleninstruments“, seiner „Herzengeige“ ein, um bei seiner Angebeteten Wahrnehmungen auszulösen, welche seine Person zumindest kurzzeitig genehm und liebreizend machen lassen („Brentano“, 1902; „Simon“, 1904).
In Musik spiegelt sich für Walser aber auch das Leben allgemein. Die Verschränkung von Gegensätzlichem („Schmerz und Freudenklänge“, laut und leise) und Widersprüchlichem (dissonante Klänge), das Geheimnisvolle und Eruptive imposanter Klanggemälde oder die Vereinigung musikalischer Darbietungen mit der Geräuschkulisse der Alltagsszenerie sind bei ihm Ausdruck dafür, dass Musik „das Abenteuer des Daseins“ zeigt und „den Sinn des Lebens“ veranschaulicht („Sommernacht“, 1915; „Erinnerungen an ‚Hoffmanns Erzählungen‘“, 1916).
Trotz alledem streben Walsers Musiktexte keineswegs auf eine einheitliche Aussage zu oder sind einem bewusst entwickelten Programm verpflichtet. In Form, Aufbau und sprachlicher Gestaltung unterschiedlich, spiegeln die Texte mannigfaltige und durchaus widersprüchliche Facetten einer Haltung zu Musik und musikalischer Rezeption.
Im aufschlussreichen Nachwort des Buches ordnen Brotbeck und Sorg die Texte über Musik in das Gesamtwerk ein und untermauern durch zahlreiche Stellenverweise Walsers Musikverbundenheit. Sie arbeiten seine Haltung zum zeitgenössischen Musikbetrieb oder zu Werken großer Komponisten ebenso heraus wie sie auf die Bedeutung des Musikalischen für Walsers Schreib- und Sprachweise aufmerksam machen.
Die Anthologie gibt somit einen überaus interessanten Einblick in die Gestaltungsprinzipien der Walserschen Sprach- und Gedankenwelt. Überdies lädt sie den Leser dazu ein, sich der eigenwilligen Sprachästhetik Walsers hinzugeben und den Eindruck von Musik als „ein Weinen in Melodien, ein Erinnern in Tönen, ein Gemälde in Klängen“ selbst zu erfahren.
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