Auf Spurensuche in (un)bekannten Räumen

Über Texte von Jenny Erpenbeck, Jan Faktor, Olga Grjasnowa, Sibylle Lewitscharoff, Kolja Mensing, Julia Schoch und Feridun Zaimoglu

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wenn sieben SchriftstellerInnen sich über Grenzen und Grenzerfahrungen beziehungsweise hybride Ordnungen und Grenzüberschreitungen äußern, dann reden sie, das versteht sich, nicht zwangsläufig über dasselbe Thema; sie können politische, nationale, gesellschaftliche, kulturelle oder sprachliche Grenzziehungen und viele andere mehr vor Augen haben und müssen dabei keineswegs nur die Auswirkungen der jüngsten Migrations- und Globalisierungsprozesse thematisieren. Das Generalthema des Sammelbandes „Über Grenzen“ gibt also Klammern vor, die auch Krethi und Plethi zusammenführen würden. Was die sieben Autorinnen und Autoren indessen tatsächlich verbindet, ist lediglich die eine Tatsache, dass sie am Grenzgänger-Programm der Robert Bosch Stiftung teilgenommen und im Wintersemester 2012/13 an der Otto-Friedrich-Universität in Bamberg über ihre einschlägigen Reisen und Arbeiten berichtet haben. Im vorliegenden Band werden ihre Berichte jeweils ergänzt durch literaturwissenschaftliche Erläuterungen.

Jenny Erpenbeck (geboren 1967 in Ost-Berlin) erinnert an die Geschichte des Familienanwesens, das im Zentrum ihres Romans Heimsuchung steht und als lieu de mémoire die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte der vergangenen 100 Jahre spiegelt. In der daran anschließenden Interpretation des Romans nimmt Bettina Bannasch nicht mehr länger die Fäden einer Literaturkritik auf, die Heimsuchung vorzugsweise mit zeitgenössischen Romanen von AutorInnen vergleicht, die derselben Generation angehören wie Jenny Erpenbeck; sie betrachtet den Roman vielmehr in der Tradition neuerer geschichtswissenschaftlicher Diskurse, insbesondere aber auch als (durchaus gelungenen) Versuch, die im Exil entwickelte Erzählung vom ‚Anderen Deutschland‘ fortzuführen.

Ganz anders, nämlich ziemlich langatmig berichtet Jan Faktor (geboren 1951 in Prag) über die Recherchen zu seinem Georg-Projekt, vor allem darüber, was ihm in den endlosen Wäldern der ehemals ostbrandenburgischen, inzwischen polnischen Ortschaft Christianstadt/Krzystkowice alles begegnet und zugestoßen ist, dort wo die Nationalsozialisten die vermutlich größte Munitionsfabrik des Deutschen Reiches aufgebaut hatten (und bekanntlich auch ein Außenlager des KZ-Komplexes Groß Rosen). Wesentlich spannender liest sich der Beitrag von Renata Cornejo über Georgs Sorgen um die Vergangenheit und über Prag als Ort der (Re-)Konstruktion ganz spezifischer Traditionen und Identitäten.

Auch Olga Grjasnowa (geboren 1984 in Baku), die mit ihrem Romandebüt Der Russe ist einer, der Birken liebt auf Anhieb Aufsehen erregte, berichtet über die Recherchen, die das Grenzgänger-Stipendium ihr ermöglicht hat, ohne dabei das Verhältnis zwischen Wirklichkeit und Fiktion explizit zu reflektieren. Sie beschränkt sich darauf, ihre Reiseroute nachzuzeichnen, von Eindrücken einer Reise zu erzählen, die sie nach Aserbaidschan, Georgien und Armenien geführt hat, und skizziert in diesem Zusammenhang die Geschichte der Auseinandersetzungen zwischen Aserbaidschan und Armenien. Stephanie Catani aber weist in überzeugender Manier nach, dass die Kritik, wo immer sie den Roman als quasi-autobiographischen Text versteht (und somit Grjasnowas ‚Migrationshintergrund‘ sowie ihre jüdische Herkunft ins Spiel bringt), nach wie vor „nicht selten gerade jene Kategorien“ bemüht, „die als Erklärungsmodell für Identität wie Individualität im Roman in Frage gestellt werden.“ Der Russe ist einer, der Birken liebt zitiert Zuschreibungen, die auf eindeutige Klassifizierungen drängen und also jede kulturelle Diversität hervorheben, nie um sie zu legitimieren, vielmehr um sie bloßzustellen.

Derartige Zuschreibungen finden sich nochmals, allerdings weithin befreit von jeder Selbstreflexion, in dem Gespräch über Apostoloff, das Sibylle Lewitscharoff (geboren 1954 in Stuttgart) mit ihrem Publikum in Bamberg geführt hat. Auch Annette Bühler-Dietrich bleibt in ihrem Aufsatz über Apostoloff auf den von Lewitscharoff ausgelegten Geleisen: Bulgarien erscheint so als ein Land, das in wirtschaftlicher wie in kultureller Hinsicht keine ‚bürgerliche Ethik‘ kennt, das den Anschluss verpasst hat an den Konsens „der westeuropäischen Tradition, Entwicklung und Kritik des bürgerlichen Individuums in der Literatur zu reflektieren, zu begleiten und voranzutreiben.“ Die Frage nach dem Verhältnis von Realität und Fiktion wird von Bühler-Dietrich wie schon von Lewitscharoff zwar aufgeworfen, aber lediglich mit Blick auf die Figurenkonstellation des Romans weiter ausgeführt.

Die Recherchenotizen von Kolja Mensing (geboren 1971 in Oldenburg) handeln in erster Linie von seinen Reisen in jene oberschlesischen beziehungsweise polnischen Landschaften, die er aufgesucht hat, um herauszufinden, wo und wie sein Großvater gelebt hat und warum über dessen Schicksal in der Familie über Jahrzehnte hin Stillschweigen vereinbart worden ist. In seiner Analyse von Mensings Roman Die Legenden der Väter untersucht Florian Lehmann, ausgehend von der Debatte über Erinnerungsfälschung in der Literatur, zunächst die im Text vorkommenden Grenzräume, die durch ihre „Instabilität das Fundament für die Legenden der Väter“ gelegt haben, ferner die Verbindungen zwischen individuellem und sozialem Gedächtnis und schließlich auch den Text selbst als einen Grenzgänger zwischen faktenorientierter und fiktionaler (Auto-)Biographie: ein hybrides Konstrukt, das die Lebensgeschichten der zentralen Figuren nicht idealisiert sondern dekonstruiert.

Julia Schoch (geboren 1974 in Bad Saarow, Brandenburg) grenzt sich von der Strömung der Neuen Innerlichkeit und ihren Ausläufern ostentativ ab; sie befürwortet wieder „Äußerungen, nicht Erforschungen des Inneren“ und liefert dazu auch einen wunderbaren Text, den einzigen poetischen Text in diesem Sammelband: Kaliningrader Karussell. In den daran anschließenden Anmerkungen zu Schochs Hörspiel Kaliningrader Nacht verweist Friedhelm Marx auf das poetologische Programm der Autorin, auch und gerade in einer Gesellschaft Widerstand zu artikulieren, die jedes Aufbegehren gleich abzufangen und beiseite zu schieben gelernt hat. Das Hörspiel, so Marx, führt vor, „wie traumatische Erinnerungen zu einer Geschichte werden, ohne ihren verstörenden Kern zu verlieren“; es leistet somit das, was Julia Schoch als unerlässliche Aufgabe der zeitgenössischen Literatur betrachtet: den Leser respektive die Leserin „in einen noch unbekannten Raum hineinzustoßen“.

Ähnlich wie Julia Schoch kann auch Feridun Zaimoglu (geboren 1964 im anatolischen Bolu) den Nachkommen der alten Schule der Neuen Innerlichkeit, die nach seinem Dafürhalten „Innenschau sehr gerne mit Innenbeleuchtung“ verwechseln, kaum etwas abgewinnen. So hält er flammende Plädoyers für das sehr oft missverstandene „Deutsch-Romantische“ und für die deutsche Tradition des magischen Realismus, während er gleichzeitig einer Kritik, die vordem statt seines Textes hinterland einen „anständigen Roman“ von ihm erwartet hat, mit Verve und Biss die Leviten liest. Marie Gunreben legt im Anschluss die Zusammenhänge zwischen hinterland und der Poetik der Romantik sehr anschaulich dar; vor dieser Folie beschreibt sie am Ende auch die Kennzeichen von Zaimoglus Poetik der Entgrenzung.

Eine Zusammenschau dieser Beiträge verbietet sich. Allzu disparat ist ihr Verhältnis zu- und untereinander, ebenso wie das Verständnis, was ‚Grenzlektüren‘ angeht. Der Beweis, dass in allen hybriden Konstellationen, die Grenzziehungen grundsätzlich problematisieren oder sogar destabilisieren, innovatives respektive subversives Potential steckt, steht jedenfalls noch aus.

Titelbild

Stephanie Catani / Friedhelm Marx (Hg.): Über Grenzen. Texte und Lektüren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
Wallstein Verlag, Göttingen 2015.
219 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783835317239

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