Der Lärm der vorüberlaufenden Kaninchen

Jürgen Daiber skizziert in seiner Untersuchung Klanglandschaften der frühen Moderne vom Schreibzimmer bis zum Schützengraben

Von Johannes GroschupfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Groschupf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ohne Ohropax bei Tag und Nacht ginge es gar nicht.“ Franz Kafka war einer der ersten Kunden der Fabrik pharmazeutischer und kosmetischer Spezialitäten in Berlin-Schöneberg. Der Fabrikant Max Negwer hatte 1907 ein Gehörschutzprodukt aus Wachs entwickelt, das laut Werbung „Frieden für das Ohr“ versprach. Nichts brauchte Kafka dringender, um zu schreiben.

Der große Gegner seines Schreibwunsches war der Lärm, der den fragilen Schreibprozess Mal um Mal störte: „Ein wenig Gesang unter mir, ein wenig Türenzuschlagen auf dem Gang und alles ist verloren.“

Berühmt ist Kafkas Tagebucheintrag, der unter dem Titel „Großer Lärm“ 1912 in den Prager Herderblättern erschien und der mit dem intensiven Schreibwunsch einsetzt: „Ich will schreiben mit einem ständigen Zittern auf der Stirn.“ Seine häusliche Situation „im Hauptquartier des Lärms der ganzen Wohnung“, die mit unnachahmlich kafkaesker Präzision und Komik entfaltet wird, macht den Wunsch zunichte. Einzig die Geste der Selbsterniedrigung bleibt, ob er nicht „schlangengleich ins Nebenzimmer kriechen und so auf dem Boden meine Schwestern und ihr Fräulein um Ruhe bitten sollte“.

Jürgen Daiber folgt in seiner Studie mit Akribie den Lebensverhältnissen Kafkas, vom Grundriss der elterlichen Wohnung, in der Franz ein Durchgangszimmer zugewiesen war, über seinen Tagesablauf bis hin zu seinen ebenso rastlosen wie vergeblichen Umzügen auf der Suche nach einem stillen Ort zum Schreiben.

Kafka litt an einer Geräuschüberempfindlichkeit. Er litt nicht nur unter dem familiären Lärm des Türenschlagens, Zurufens und des abendlichen Kartenspiels „Franzefuß“, bei dem ein „ewiges Pfeifen, Singen, Hohngelächter und Karten-auf-den-Tisch-Hämmern“ ins anliegende Zimmer des schreibunfähigen Sohnes dringt. Nein, er beschwert sich in seinen Tagebüchern und in Briefen auch über den Lärm der Automobile in Prag, den Lärm der Métro in Paris, den „Lärm, den die vorüberlaufenden Kaninchen“ vor seinem Hotel in Weimar machen, den Lärm des Kopfsteinpflasters, über das die Pferdekutschen in Leipzig und Prag donnern, den Klavierlärm aus diversen Nebenzimmern, den „Lärmtag der Kinder“ oder den Lärm „durch Chorgesang aus dem gegenüberliegenden Wirtshaus“. Daiber resümiert: „Seine Briefe, Tagebücher und Oktavhefte sind prall gefüllt mit Eintragungen, die angesichts der Konfrontation mit unterschiedlichsten Lärmquellen immer und immer wieder in einer zentralen Klage kulminieren: der Lärm stört oder verhindert die einzige von Kafka als existentiell notwendig begriffene Tätigkeit: Sein Schreiben.“

Was er auch anstellte und unternahm, er stieß immer wieder auf den Lärm, in Prag wie auch auf Reisen. Kafkas eigentliches Dilemma war, so Daiber, sich in der Nähe anderer Menschen aufhalten zu müssen. „Und sich in der Nähe anderer Menschen aufhalten zu müssen, bedeutet, weitgehend schutzlos dem Lärm der anderen ausgesetzt zu sein.“ Was könnte da, außer Ohropax, helfen? Bereits im Januar 1913 schilderte Kafka sein Schreibideal in einem Brief an Felice Bauer. Er phantasierte sich in einen Höhlenbewohner hinein, der „mit Schreibzeug und einer Lampe im innersten eines ausgedehnten, abgesperrten Kellers“ sitzt, seine Mahlzeiten allein einnimmt, das Tageslicht meidet und sich dem Strom der aus seinem Innern aufsteigenden Schreibimpulse überlässt. In der späten Erzählung Der Bau wird dieser Höhlenbewohner ausführlicher porträtiert.

Jürgen Daibers hellhörige Sound Studies in Kafkas Werk scheinen ihm selbst nicht ertragreich genug zu sein. Er hat sie deshalb um Exkursionen zu drei Zeitgenossen ergänzt: Theodor Lessing, Ernst Jünger und Luigi Russolo. Thematisch durchaus naheliegend ist der Hannoveraner Lessing, der 1908 den „Antilärmverein“ gründete und ein monatlich erscheinendes Mitteilungsorgan herausgab: Der Anti-Rüpel. Antirowdy. Das Recht auf Stille. Recht hochtrabend beschwert sich hier ein leidender Geistesarbeiter „inmitten schreiender, peitschender, roh sich überlärmender Millionen“. Hauptgegenstand seiner Proteste und Kampfansagen sind: „Klavierplage, Autoplage, Glockenplage, Teppichklopfplage, falsche Straßenpflasterung“. Lessing agitiert durchaus geräuschvoll gegen den lärmenden „Pöbel“: „Am besten kommt in der Welt vorwärts, wer viel Geräusch und Gestank aushalten und vollführen kann.“ Die tragische Lebensgeschichte des Autors wird von Daiber eindrücklich bis zu ihrem bitteren Ende erzählt, doch das führt vom Thema ab. Auch bei den Kapiteln zu Ernst Jünger und Luigi Russolo fragt man nach der Verbindung zu Kafkas Lärmempfindlichkeit. Ernst Jüngers Selbststilisierung als nahezu übermenschlich belastungsfähiger Schützengrabenheld wird von Daiber anhand der zahlreichen akustischen Kriegsschilderungen Jüngers als „verweigertes Trauma“ interpretiert. Der futuristische Klangkünstler Russolo ist vom Schlachtenlärm vollends begeistert: „Wunderbare und tragische Sinfonie der Kriegsgeräusche! Hier gibt es die sonderlichsten und mächtigsten Geräusche!“ Seine minutiöse Beschreibung des Feuers der mittleren Artillerie der Österreicher mutet skurril an: „In einer sehr langen Flugbahn kann die Tonspanne zwei Oktaven betragen und sogar übertreffen.“ Mehr noch, sie ist Teil einer Entmoralisierung der Wahrnehmung, wie Helmut Lethen sie in der „Verhaltenslehre der Kälte“ beschrieben hat. Die körperlichen Leiden geraten hier aus dem Blickfeld.

Daiber legt eine Vielzahl interessanter Befunde, Texte, Beobachtungen, auch Illustrationen vor, doch er kommt er bedauerlicherweise von seinem ursprünglichen Thema ab. Man hätte gern mehr über Kafkas schriftstellerische Auseinandersetzung mit dem Lärm gelesen, etwa in den Romanen. Welche akustischen Phänomene tauchen in seinen Schriften auf? Oder blieb der Lärm einfach der Dämon, der ihn vom Schreiben abhielt? Unwillkürlich fallen einem auch viele Zeitgenossen ein, die eine gewisse Geräuschkulisse als für ihr Schreiben förderlich empfanden, beispielsweise Alfred Döblin, der gern in einem großen Café schrieb: „Öfters hatte ich auch mein Manuskript mit, hörte bald zu, was man sich erzählte, und bald schrieb ich. Der wirre Lärm war mir beim Schreiben angenehm.“ Hier hätte sich Daiber noch etwas breiter aufstellen können.

Dennoch ist seine Studie ein interessanter Zugang zu Kafkas Werk, in das man sich gleichsam mit neuen Ohren wieder hineinliest. Zugleich wird man für die akustischen Zumutungen des heutigen Alltags sensibilisiert.

Titelbild

Jürgen Daiber: Franz Kafka und der Lärm. Klanglandschaften der frühen Moderne.
mentis Verlag, Paderborn 2015.
182 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783957430281

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