Präzisionslust der Landschaftslyrik

Wulf Kirstens offene Worte zum Menschen in seiner Landschaft, ausgelotet von Wissenschaftlern und Dichtern

Von Christophe FrickerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christophe Fricker

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Landschaft, Geschichte und Sprache stehen im Mittelpunkt der Gedichte von Wulf Kirsten. Er verbindet die drei Themen miteinander und macht sie zur Triebfeder seines Schreibens. Wie liest sich das?

Die erste Lektüre-Erfahrung kann ernüchternd sein, denn auch als erfahrener Leser stolpert man über Worte wie „Runse“, „krolzen“ oder „einschürig“. Kirstens Schwelgen im präzisen Benennen von Landschaftsformationen und -inventar, das das Hymnische ansteuert und dann – wohl bewusst – verfehlt, hat jedoch etwas Mitreißendes.

Auf dem Fuße folgt die zweite Ernüchterung: die des geschichtlichen Verlusts. Man spürt, dass die Lebenswelt, in der all diese Worte eine Bedeutung hatten, nicht mehr die eigene ist, dass es aber die einer großen Gemeinschaft war, der die eigene Urgroßmutter oder Großmutter angehörte, die man gerade noch kannte oder gar kennt. Man spürt, dass diese Gemeinschaft auch in Kirstens Gedichten nicht mehr da ist, selbst wenn die Worte noch existent sind. Um die meisten von ihnen ist es jedoch einsam geworden.

Die dritte Ernüchterung setzt damit ein, dass man sich fragt, wie man sich eigentlich selbst zu seiner Umwelt verhält. Der Naturschutz des späten 20. Jahrhunderts ist entweder auf die Einrichtung menschenfreier Zonen bedacht oder er ist, um es mit Ernst Jünger zu sagen, merkantil – er handelt mit Verschmutzungsrechten. Kaum erst werden Stimmen hörbar, die Naturschutz und Menschenschutz zusammen betrachten.

Wulf Kirsten ist eine dieser Stimmen. Er spricht von Gebäuden und Gewächsen, an denen man erkennt, an welchem Ort man sich befindet. Der Autor spricht nicht unbedingt von einer Welt des Handwerks und der Pflanzen – es wäre geradezu bösartig, ihm das zu unterstellen. Aber er spricht von einer Welt, in der Handwerk und Pflanzen einen angestammten, bedeutsamen und zukunftsträchtigen Platz haben.

Was macht man mit einer solchen Dichtung? Zuerst einmal sollte man sich von ihrer Sorgfalt und ihrer Sprachlust zum genauen Lesen verleiten lassen. Einfühlsame und respektvolle Lektüren versammelt der hier vorliegende Band, der auf ein Kolloquium zum 80. Geburtstag des Dichters zurückgeht. Nach sieben neuen Gedichten folgt ein fast 60 Seiten langes Gespräch, das der Herausgeber, der Dichter und Literaturwissenschaftler Jan Röhnert, mit Kirsten führte – nicht die erste dokumentierte Unterhaltung beider. Aus dem Gespräch erfährt man, dass der Autor seine Gedichte als Gleichnis, Bild, Rhythmus, Narrativ, als bewegt und auch ironisch sieht und dass er nicht anthroposophisch, sportlich, maritim, spießbürgerlich oder marxistisch sein will. Man erfährt, welche Dichter und Maler er kannte und kennt, aus persönlicher Begegnung oder begeisterter Lektüre, und man lernt, durch welche Dörfer in der Mitte Deutschlands, vor allem in Thüringen, er gewandert oder spaziert ist.

Auf das Gespräch mit Röhnert folgen elf Aufsätze zu Werk und Person Kirstens. Dass sie von Angehörigen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, Berufe, Altersgruppen und Nationalitäten stammen, ist deutlich zu spüren. Der Ton schwankt zwischen schmunzelnd persönlicher, bewegend kluger Hommage (bei Nancy Hünger und Harry Oberländer) und wohlwollender Distanz (Jan Urbich, Bernhard Böschenstein). Einige der außerordentlich vielen von Kirsten im Gespräch genannten Namen von Vorbildern und Gesprächspartnern sind in den Betrachtungen und Analysen präsent, aber naturgemäß bleibt vieles noch unausgelotet, etwa was Kirstens Beziehungen zur tschechischen oder rumänischen Literatur oder zu Stefan George angeht.

Die Frage, was man denn nun mit Kirstens Lyrik anfangen solle, wäre so im Hinblick auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung zumindest ansatzweise beantwortet. Aber nicht nur dem Wissenschaftler, auch dem kreativen Leser, dem verantwortungswilligen Mitmenschen, dem offenherzigen Spaziergänger und vielleicht sogar dem aufmerksamen Unternehmer oder Politiker hat Kirstens Dichtung etwas zu sagen. Was ergibt sich für sie aus dem Geschichtsbild, der Sprachkunst und dem Landschaftsverständnis, das Wulf Kirsten an den Tag legt und dem dieser übrigens auch wunderschön gestaltete Band nachgeht? Diese Frage bleibt im allerbesten Sinne offen.

Titelbild

Wulf Kirsten: Die Poesie der Landschaft. Gedichte, Gespräche, Lektüren.
Herausgegeben von Jan Röhnert.
Lyrik Kabinett, München 2016.
208 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783938776414

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch