Die Geburt der Kultur aus dem Bewußtsein des Todes

Jan Assmann und Thomas Macho skizzieren das Arbeitsfeld einer wissenschaftlichen Thanatologie

Von Frank MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist schon paradox. Selbst wer den Tod für das Ende aller Existenz hält und zutiefst davon überzeugt ist, mit seinem Hinscheiden ins Nichts zu versinken, investiert in Handlungen, deren Folgen ihn überdauern. Jan Assmann hat für diese Tatsache eine überzeugende Erklärung gefunden. Der Mensch leidet unter einer abgründigen Unruhe, die auf einem Zuviel an Wissen und einem Zuwenig an Lebenszeit beruht. Da wir im Irdischen kein Genüge finden, können wir ohne die Fantasmen der Unsterblichkeit nicht leben. Ganz gleich, ob sich diese auf die Hoffnung einer Fortdauer im Jenseits richten oder auf die Kette der Generationen, auf ein Weiterleben in unseren Kindern und Kindeskindern. Im Grunde verdanken sich auch unsere kulturellen Hervorbringungen dem produktiv umgesetzten Bewusstsein der Sterblichkeit.

Leider verzichtet der gelernte Ägyptologe Assmann auf eine systematische Ausarbeitung seiner These. So fördert die anschließende Erörterung altägyptischer Todesbilder (der Tod als Feind, als Heimkehr und als Geheimnis) nur bedingt Informationen zutage, die die Behauptung vom Tod als "Kultur-Generator ersten Ranges" stützen und sie auf ein breiteres kulturgeschichtliches Fundament stellen. Auf das engste mit der Idee der Fortdauer verbunden, so Assmann im zweiten, besser lesbaren Teil seines Beitrags, sind die Ideen der Gerechtigkeit, des Gedächtnisses und der Geschichte bzw. Literatur. Im Bewusstsein der Ägypter erweist sich das Buch im Vergleich mit Grab und Totenkult keineswegs nur als die "wahre, die bessere Pyramide"; vielmehr offenbart sich in ihm "die Literaturhaftigkeit bzw. Literarizität des Grabes".

Von größerem Interesse wären Assmanns Überlegungen, hätte der Verfasser sie an einem Kulturkreis demonstriert, der mit seinen Totenriten, Jenseitsvorstellungen und Grabdenkmälern nicht von vornherein in so intimer Nähe zum Lebensende steht wie der ägyptische. Oder anders formuliert: Überzeugungskraft besäße Assmanns These erst dann, wenn sie der Autor anhand kultureller Errungenschaften mit größtmöglicher 'Todesferne' exemplifiziert hätte. Inwiefern speist sich der kulturell relevante Teil unseres Handelns und Forschens in Kunst, Wissenschaft oder Philosophie aus dem Bewusstsein unserer Hinfälligkeit - auch und gerade bei Kulturleistungen, die einen solchen Bezug auf den ersten Blick völlig vermissen lassen? Diese Frage ist zu einem guten Teil allgemein-philosophischer bzw. psychologischer Natur, lässt sich also allein durch den Hinweis auf kulturhistorische Fakten schwerlich beantworten.

Für den Mangel an theoretischer Reflexion wird der Leser durch den kürzeren Beitrag Thomas Machos ("Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich") entschädigt. Macho, bereits durch das Buch "Todesmetaphern" (1987) als ein Kenner des Themas ausgewiesen, entwirft zunächst ein Spektrum unterschiedlicher Möglichkeiten, sich dem Negativaxiom Tod, seiner "Opazität", Unvorstellbarkeit und begrifflichen Unschärfe zu nähern. Dabei weiß Macho sehr wohl um die Schwierigkeiten einer wissenschaftlichen Theorie des Todes. Mal wird der Tod als anthropologische Konstante verstanden, mal werden seine kulturell variablen Zuschreibungen auf der Zeitachse eingetragen und zu einer Geschichte des Todes gestreckt. Problematisch wird die kulturalistische Annäherung an den Tod, insofern sie sich darauf beschränkt, lediglich ein Panoptikum kulturell möglicher Praktiken zu entwerfen. Beispielsammlungen generieren keine Ordnungkriterien.

Wie also ist die Kluft zwischen einem anthropologischen Universalismus und einem relativistischen Kuriositätenkabinett zu überbrücken? Macho zieht hier eine Variante der Assmannschen These heran, Franz Borkenaus "Todesantinomie". Da sich der Mensch weder ein Leben nach dem Tod noch ein definitives Ende des Lebens wirklich vorzustellen vermag, bleibt ihm nur die Flucht in den Mythos, d. h. die Auflösung der Antinomie in ein Tableau kulturell möglicher 'Lösungen'. Diesen Gedanken ergänzt Macho um eine "materialistische" Perspektive, deren theoretischer Kern die paradoxe Materialität des toten Leichnams selbst darstellt. Der Tote ist ein "Double". Er unterscheidet sich von seinem lebendigen Zwilling, ohne ein anderer zu werden.

Im Unterschied zu Assmann gelingt Macho die Vermittlung von Todes- und Alltagskultur. Die widersprüchliche Tatsache, dass der Tote zugleich 'fortgeht' und 'bleibt', könnte der Auftakt zur Geschichte der Repräsentationen gewesen sein. Sodann rücken Bestattungsrituale als Teil eines Systems differenzierter Kulturtechniken in den Blick, z. B. die Mumifizierung. Als Konservierungstechnik interferiert sie mit Strategien der Nahrungs- und Fleischbevorratung und stellt den Wahrnehmungskontext für bestimmte Ernährungsweisen bereit. Noch erstaunlicher: Auch unsere unbändige Reiselust entpuppt sich unter der von Macho eröffneten Perspektive als eine Folge des Totenkults. Kaum ein Bild im Laufe der Metaphorisierung des Todes hat sich stärker eingeprägt als das Bild des Übergangs, der Passage: "Nicht wenige Grabbeigaben sind auch - und vielleicht sogar in erster Linie - Reiseutensilien."

Titelbild

Jan Assmann: Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Todesriten im alten Ägypten.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
119 Seiten, 8,60 EUR.
ISBN-10: 351812157X

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