Gorbatschow ist an allem schuld und Jelzin ist bloß ein Alkoholiker

Claudia Erdheims russische Geschichten

Von Melanie WitteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Witte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kolja ist um seine Wohnung betrogen worden. Ein gerade mal Sechzehnjähriger hat ihn entführt und gedroht, Koljas Mutter umzubringen, wenn er dem Verkauf der Wohnung nicht zustimmt. Jetzt prozessiert Kolja gegen die neuen Eigentümer der Wohnung, da die eigentlichen Täter längst nicht mehr auffindbar sind. Immer wieder finden Verhandlungen statt, werden aber jedes Mal bald vertagt. Immer wieder erscheinen Polizisten in Koljas Wohnung, um alles noch einmal genau durchzugehen. Das geht so weiter, bis Kolja stirbt.

Koljas Geschichte steht im Zentrum der ersten von fünf Erzählungen, zu denen die österreichische Schriftstellerin Claudia Erdheim ihre Beobachtungen und Erlebnisse während eines einjährigen Russlandaufenthaltes verarbeitet hat. Der Titel "Früher war alles besser" beschreibt die in zahlreichen Gesprächen eingefangene Grundstimmung der russischen Bevölkerung. "Früher", das meint die Zeit vor dem Niedergang der kommunistischen Diktatur, denn mit der Demokratisierung haben auch die Schattenseiten westlicher Kultur in Russland Einzug gehalten. Früher soll es weniger Prostitution und Drogenmissbrauch gegeben haben, weniger Armut und Obdachlosigkeit. Lebensmittel waren knapp, aber besser, alles war sauberer, und es gab Gras und Blumen, wo heute nur Sand ist. Kurz gesagt: "Unter Stalin war es gar nicht so schlecht. Da hat Ordnung geherrscht." Gorbatschow "ist an allem schuld" und "Jelzin ist bloß ein Alkoholiker". Als der Letztgenannte im August 1998 den Premierministerposten umbesetzt, gerät der Rubel in eine dramatische Krise. Während Gehälter gekürzt werden, steigen die Preise für Grundnahrungsmittel rapide an. "Es ist wie früher", sagen die Leute gelassen, wenn sie wieder Schlange stehen müssen beim Einkaufen.

"Ein Buch über Russland zu schreiben, ist schwer", behauptete einmal jemand. Als schwierig erwies sich auch Claudia Erdheims Vorhaben, einen Gesellschaftsroman zu schreiben. Es entstanden stattdessen fünf Geschichten und ein Fotoband. Genau genommen handelt es sich bei Ersteren weniger um fünf eigenständige Prosastücke, als vielmehr um einen fortlaufenden, tagebuchartigen Text. Ein Reisebericht hat es nicht werden sollen, denn, so die Autorin im Interview mit der Wiener Zeitung: "Reiseberichte sind fad."

Dass auch ihr Buch über das heutige Russland ein wenig fad geraten ist, liegt größtenteils sicher an dem ästhetisch wenig reizvollen Notizbuchstil, der den ebenfalls nur mäßig interessanten Dialogen nichts hinzuzufügen vermag, was das Land und seine Menschen für den Leser lebendig machen könnte. Zudem gibt sich die Erzählerin selbst emotional unbeteiligt, wenn nicht sogar zuweilen herablassend, was aber auch wienerischer Humor sein könnte. Und schließlich liest sich jeder Artikel eines Wörterbuchs spannender als die stichwortartigen Ortsbeschreibungen, die kursiv in den Haupttext eingefügt sind. Immerhin wird durch Wiederholung ähnlicher Beobachtungen die trostlose Gleichförmigkeit der Stadtlandschaft Moskau anschaulich: "Kein Gras, nur Sand". Dennoch entstehen so nicht leicht Bilder im Kopf des Lesers. Dem Vorhaben der Autorin, Stadtansichten "wie in einem Film ablaufen" zu lassen, wird man daher kein gutes Gelingen attestieren können. Bilder enthalten eben doch mehr Informationen als Ein- bis Dreiwortsätze.

Titelbild

Claudia Erdheim: Früher war alles besser. Geschichten aus Russland.
Löcker Verlag, Wien 2000.
251 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-10: 3854093322

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