Ich fühle mich eigentlich immer schlecht, aber dabei doch recht gut

Das solide Erzähl-Debüt von Martin Brinkmann

Von Christian HeuerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christian Heuer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Man muss es bei einem 26-jährigen Debütautoren vielleicht explizit voranstellen, um die Wahrnehmungsbrille der Öffentlichkeit zurechtzurücken: Martin Brinkmanns Roman "Heute gehen alle spazieren" hat nichts mit dem Etikett "Pop" zu tun und auch nichts mit jener "jungen Literatur", die gemeinhin, wie jüngst während der Pariser Buchmesse zu beobachten war, mit Berlin in Zusammenhang gebracht wird. Er besetzt vielmehr eine Nische in der literarischen Topographie, die nicht sonderlich präsent ist, nämlich das Land zwischen Cuxhaven, Bremerhaven und Bremen, eine Region zwischen Meer und flachem Land, Ländlichkeit und der unurbansten Großstadt Deutschlands. In diesem Raum erlebt die Hauptfigur den Übergang von Schul- und Zivildienstzeit zum Studium und die zunehmende Verunsicherung gegenüber dem Leben; hier hat die Ödnis und die Lakonie ihrer Lebenswahrnehmung und -beschreibung ihren Platz.

Brinkmanns Roman setzt sich aus insgesamt 20 einzelnen Erzählungen zusammen, die zum Teil bereits in veränderter Form veröffentlicht wurden. So ist das überaus gelungene Eingangskapitel "Cuxhavener Kachelweiss" bereits in der Anthologie "Trash-Piloten" (Reclam Leipzig, 1997) zu finden, andere in dem kleinen, aber sehr interessanten Literaturjahrbuch "Krachkultur" des Bunte Raben Verlags, für den Brinkmann auch als Lektor tätig ist. Was diese Geschichten als Roman zusammenhält, sind nicht die biographischen Erlebnisse des Ich-Erzählers, nicht der frühe Tod des Vaters nach schwerer Krankheit, der Umzug in ein Studentenwohnheim, die Großmutter als Pflegefall im Krankenhaus, die Begegnung mit alten Freunden und Freundinnen - dies alles bewirkt keine Entwicklung mit gravierenden Einschnitten und Brüchen, sondern stützt und exemplifiziert die Haltung des Protagonisten, der mit sich und der Welt nichts Rechtes anzufangen weiß, ohne gleich am Bewusstsein der Dissoziierung zu leiden: "Ich fühle mich eigentlich immer schlecht, aber dabei doch recht gut". Das eigentliche Leitthema des Romans ist damit im Prinzip die Ratlosigkeit gegenüber der empfundenen Trägheit der Existenz, und ferner die Sprache, die, zwischen Erkenntnis und Tatenlosigkeit lavierend, nur die eigene Passivität distanziert festzustellen vermag: "[...] wird mir bewusst, wie schwer mir alles fällt, wie schwer es mir doch fällt, irgendeine Kleinigkeit auszuführen, und wie lächerlich ich mich benehme."

Es ist der Alkohol, der für die Romanfigur einen erträglichen Zustand der Teilnahmslosigkeit mit glasigem Blick schafft. Brinkmann nutzt das Trinken nicht als literarisches Mittel, um seinen Protagonisten zum rebel without a cause zu stilisieren oder Momente der Exaltiertheit in dem ansonsten dahindämmernden Leben zu schaffen, sondern das Glas Bier steht immer schon da, es ist eine Beschäftigung, die die Reflexion über die Unsicherheit ausschaltet, ohne Alternativ- oder Gegenhandlungen zu ermöglichen. Es perfektioniert jene Distanz, die der Erzähler als seinen Zustand relativer Zufriedenheit beschreibt, wie im Kapitel "Südliche Nordsee", in dem die Fahrt an die Küste nicht als die bürgerliche, touristische Flucht oder als die befreiende Naturnähe des Romantikers (sofern in den Nordseebädern der Inseln überhaupt möglich) empfunden wird: "Sobald ich irgendwo leicht angetrunken herumstehe, ist der Moment wie aus der Zeit herausgefallen. Ich könnte ganz von vorne anfangen. Mir ist, wie gesagt, als stünde ich bereits eine Ewigkeit schwitzend an dieser Bude und würde aufs Meer starren. Man gehört nicht dazu. Man beobachtet nur." Allerdings, das zeigt jede dieser Stunden des Suffs, ist die Entfremdung vom Geschehen stets mit neuen Momenten der Verunsicherung und der peinlichen Begegnungen, Blickkontakten und Reaktionen verbunden. Wenn zum Schluss des Romans die Reise mit einem Freund nach Teneriffa zum Besäufnis gerät, die Insel zur bloßen Staffage von pubertären Exzessen im Hotelzimmer wird und jeder Versuch der Inselerkundung misslingt, so wird nochmals deutlich, wie sehr der Erzähler aus der Welt gefallen ist.

Der Autor findet für die Gefühlswelt seiner Figur Bilder und Situationen, die zwar nicht sonderlich originell, aber aussagekräftig für den Zweck der Erzählung sind. Die Sprache ist klar, frei von literarischer Prätention, lakonisch. Die Szenen des Lebens, die Gespräche, die Auseinandersetzung mit dem Tod der Großeltern- und Elternwelt, der Verlust alter Freundschaften (billigend in Kauf genommen mit der Geste des großen Selbstgenügsamen oder hilflos kämpfend) und die Einsamkeit, sie schaffen zum größten Teil die Gratwanderung zwischen realistischer Darstellung und Symbolkraft. Dass dabei weder der Eindruck einer tragischen Existenz als Sinnbild einer gefallenen Jugend noch das Klischee des "coolen" Zynikers entsteht, ist die Stärke des Romans. In diesem Sinne ist es durchaus als Lob zu verstehen, dass Brinkmanns Debüt sowohl als "literarisches" Werk wie auch als gelungen für den Jugendbuchmarkt anzusehen ist. Denn es geht dem Roman nicht um das Sittengemälde oder kollektive Bewusstsein einer Jugend, welches sie selber kreiert oder angepappt bekommt, sondern bei aller denkbaren Repräsentativität dieses Typus eines Jugendlichen um die differenzierte Ausgestaltung einer instabilen Wahrnehmung von sich selbst und der Welt in einer Phase des individuellen Umbruchs.

Titelbild

Martin Brinkmann: Heute gehen alle spazieren. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart/München 2001.
155 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3421054479

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