Literaturtheorie als Spieltheorie
Aus Anlass neuerer Bücher zum Thema von Stefan Matuschek, Johannes Merkel und Ruth Sonderegger
Von Thomas Anz
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSpiele der Postmoderne
Die kulturelle Karriere der „Postmoderne“ ist seit etwa einem Jahrzehnt vorbei, die Konjunktur eines ihrer Lieblingsbegriffe scheint jedoch anzuhalten.
In Philosophie, Ästhetik, Kunst und Literatur aus dem Umkreis der Postmoderne wurde das Wort „Spiel“ in geradezu inflationärer Häufigkeit verwendet, und zwar sowohl in programmatischen Texten der Postmoderne als auch in Versuchen zu beschreiben oder zu definieren, was denn der Begriff „Postmoderne“ besage.
In einem Gespräch, dessen Abdruck der ersten deutschen Ausgabe (1982) von Jean-François Lyotards bedeutender Schrift „Das postmoderne Wissen“ beigefügt ist, postulierte dieser: „laßt spielen … und laßt uns in Ruhe spielen“. Lyotards 1978 in Frankreich vorgelegter „Bericht“ bezieht sich ausdrücklich auf Wittgensteins Begriff des „Sprachspiels“. Der Begriff und diverse Metaphern des Spiels durchziehen das ganze Buch. Es fordert an einer Stelle ausdrücklich eine „Theorie der Spiele“. Der Instabilität der Positionen, in denen sprachlich Handelnde in ununterbrochenen Bewegungen interagieren, entspreche in der gegenwärtigen, der „postmodernen““ Wissenschaft die Pragmatik einer Forschung, die die „Erfindung neuer ‚Spielzüge‘ und selbst neuer Regeln von Sprachspielen in den Vordergrund gerückt hat.“
Ein Vortrag Jacques Derridas aus den sechziger Jahren, dessen gedruckte Fassung den Poststrukturalismus und die Postmoderne stark inspirierte, führte das Wort „Spiel“ schon im Titel: „Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaft vom Menschen“. Nietzsche ist hier Vorbild für „die fröhliche Bejahung des Spiels der Welt“, eines Spiels ohne Ursprung, Ziel und Wahrheit. Später, in „La dissémination“ (1972), setzte sich Derrida eingehender mit Platons Spiel-Begriff auseinander. Und an Werken Mallarmés illustriert er hier, was literarisches Spiel im Sinn seines eigenen Konzepts des différance-Spiels zu leisten vermag: eine Subversion von metaphysischen Behauptungen über Sinn, Wahrheit und Wirklichkeit.
Die „gesamte Realität ist zum Spiel der Realität übergegangen“, konstatierte denn auch Jean Baudrillard („Der symbolische Tausch und der Tod“, dt. 1982). Sie sei damit zu einem ästhetischen Phänomen geworden. „Das Simulationsprinzip überwindet das Realitätsprinzip“. Habe früher das Vergnügen an Literatur und Kunst darin bestanden, etwas Reales in dem wiederzuerkennen, was künstlich und imitiert war, so herrsche jetzt überall da ästhetische Faszination, „wo das Reale und das Imaginäre zu einer gemeinsamen operationalen Totalität verschmolzen sind“. Der unterschwellig wahrgenommene Trick, die Montage, das Szenario der medial konstruierten Wirklichkeit präsentiere sich als „ein unentwirrbares Spiel, mit dem sich ein ästhetischer Genuß verbindet, der Genuß an der Lektüre und den Spielregeln“.
Bezeichnenderweise mit einem (trefflichen) Wortspiel, einer Mischwortbildung aus „play“ und „plagiarism“, kennzeichnete der amerikanische Schriftsteller Raymond Federman einen weiteren Spiel-Aspekt postmoderner Ästhetik: „Playgiarism“ meint die spielerische Anlehnung an andere Texte und tangiert einen der zentralen Begriffe postmoderner Literaturtheorie, den der „Intertextualität“. Literarische Texte beziehen sich mehr oder weniger exzessiv auf andere, ihnen vorangegangene „Prätexte“, zitieren, imitieren, plagiieren, ironisieren sie oder treten mit ihnen in einen Dialog. Das Wort „Anspielung“ bzw. „Allusion“ verweist wohl am deutlichsten auf den Spielcharakter solcher Intertextualitätsphänomene.
Die postmoderne Konjunktur des Spiel-Begriffs war ein internationales Phänomen. Es hinterließ auch im deutschsprachigen Raum unübersehbare Spuren. Ganz in Übereinstimmung mit dem programmatischen Pluralismus der Postmoderne stellte Hans Magnus Enzensberger 1984 in dem Band „Das Wasserzeichen der Poesie“ (unter dem Pseudonym Andreas Thalmayr) „hundertvierundsechzig Spielarten“ literarischen Schreibens vor. Es sei, so heißt es im Vorwort, „nie ein simples, es ist schon immer ein höchst verwickeltes Spiel gewesen, das die Dichter und ihre Leser trieben. War das alles ernst gemeint? Oder war es nur eine Parade von Kunststücken, eine Vorstellung von glänzenden Tricks, sonderbaren Gemütsbewegungen, atemberaubenden Fertigkeiten? Und wenn es ein Spiel war, nach welchen Regeln wurde es gespielt?“ Der Vielzahl der Regeln, nach denen literarisch gespielt wird, entspreche die Pluralität der möglichen Lesarten eines Textes. „Die einzig richtige Art, ein Gedicht zu lesen, gibt es nicht. Sie ist nur ein pädagogisches Phantom. Soviele Köpfe, soviele Lesarten, eine richtiger als die andere.“
Dass Schreiben und Lesen gewissen „Spielregeln“ unterliegen, daran erinnert 1987 auch ein Zeitungsartikel Hanns-Josef Ortheils mit dem Titel „Was ist postmoderne Literatur?“ Ortheil berief sich hier auf Italo Calvino und zitierte dessen Erklärung: „Wir werden den Roman spielen können, wie man Schach spielt, mit absoluter Fairneß, und wieder eine Beziehung herstellen zwischen dem Schriftsteller, der sich der Mechanismen, die er verwendet, voll bewußt ist, und dem Leser, der das Spiel mitspielt, weil er dessen Regeln kennt und weiß, daß man ihn nicht mehr an der Nase herumführen kann.“
Verabschiedungen der Postmoderne und des Spiels
Wie eng der Begriff der „Postmoderne“ mit dem des „Spiels“ assoziiert war, zeigt sich auch noch an den Distanzierungen und Verabschiedungen von der Postmoderne im Verlauf der neunziger Jahre. 1993 noch erklärte der Medienästhetiker Florian Rötzer als Mitherausgeber eines Katalogs mit dem Titel „Künstliche Spiele“ (zu einer Ausstellung mit „Interaktiven Installationen“): „Wir wollen nicht mehr akzeptieren, daß Kunst, Information, Bildung, Wissenschaft oder Arbeit ein Gegensatz zum Spielerischen sein sollen. […] Wir glauben nicht mehr daran, daß eine Ordnung die einzigartige und unverbrüchliche ist. Wir befinden uns im Zeitalter des Konstruktivismus und des Experiments, nicht mehr in dem der Realität, der Objektivität und der Wahrheit.“ Im gleichen Katalog steht jedoch auch die skeptische Stimme Vilém Flussers, der erklärte, es „wäre voreilig, aus einem etwaigen Verdrängen des soziologischen durch ein ludisches Denken und Handeln auf eine fröhlicher werdende kulturelle Stimmung schließen zu wollen: Spieltheorien sind mathematisch exakter formulierbar als soziologische, sie sind ‚härter‘. Und Spieler sind nicht notwendigerweise heitere Menschen. Und auch die Vorstellung, die Kulturlandschaft sei daran, sich in eine Kinderstube zu verwandeln, ist nicht unbedingt erfreulich“.
Unter dem Titel „Der Achtzigerjahresspaß und der Ernst der Neunziger“ distanzierte sich im selben Jahr der Berliner Schriftsteller Bodo Morshäuser, Autor der zehn Jahre vorher erschienenen Erzählung „Die Berliner Simulation“, von jener Kultur der Simulationen und des Spiels, die in den achtziger Jahren den Ton angegeben hatte: „Inhaltliche Diskussionen galten als abstoßend, Meinungen galten als austauschbare Selbstdarstellungen. Sinnfragen verbreiteten einen Mief, den man nur mit Lustigkeit vertreiben konnte. Mit Spiel. Mit Simulation. Mit So-tun-als-ob. Mal sehen, was geschieht, wenn ich das jetzt sage. Ich bins nicht. Ich sage es nur. Undsoweiter. Die achtziger Jahre waren das Jahrzehnt der Spieler.“ Mit dem Fall der Mauer, mit dem Wegfall der stabilisierenden Grenzen zwischen Westen und Osten, mit der Destabilisierung der erstarrten Nachkriegsordnung sind, so Morshäuser, in den 90er Jahren Probleme und Konflikte in Europa angewachsen, angesichts derer die spielerische Leichtigkeit der 80er Jahre einem bitteren Ernst gewichen ist. Unter dem bezeichnenden Titel „Die Spaß-Generation hat sich müde gespielt“ erschien im November 1996 in der „Zeit“ ein programmatischer Artikel, in dem die damals eben zur Leiterin des Feuilletons ernannte Sigrid Löffler konstatierte: „Spiel und Spaß, Erleben und Genießen waren die Zentralbegriffe jeder Kultursoziologie der achtziger Jahre.“ Inzwischen gebe es allerdings Indizien für einen kollektiven Stimmungswandel. Autoren wie W.G. Sebald, Christoph Ransmayr oder Raoul Schrott kündeten, „müde gespielt“, vom „Ende der Spiel-Zeit“, vom Ende der „Spaß-Ideologie“. In dem Reisebericht „Rub‘ Al-Khali – Leeres Viertel“ des Ethnologen, Spieleforschers und Romanciers Michael Roes mit dem Untertitel „Invention über das Spiel“ gingen die fragmentarischen Anmerkungen und Bruchstücke von spieltheoretischen Reflexionen in die „Melancholie einer wüsten Sinnleere“ über. Unter der Kopfzeile „Das Spiel ist aus: Die Krisen des Kapitalismus treiben das postmoderne Denken in die Defensive“ setzte „Die Zeit“ am 13. August 1998 eine Artikelserie zur Debatte über die Postmoderne fort.
Über die postmoderne Spielkultur spricht man mittlerweile längst in der grammatischen Form der Vergangenheit; sie ist zu einem in historische Distanz gerückten Phänomen geworden. Und inzwischen begegnet man auch in den Literatur- und Kulturwissenschaften den ehemaligen Autoritäten der Postmoderne mit entsprechender Respektlosigkeit. In ihrer bei Suhrkamp erschienenen Dissertation „Für eine Ästhetik des Spiels“ schreibt die in Berlin lehrende Philosophin Ruth Sonderegger im Hinblick auf Derridas Spiel-Begriff von einem „Jargon der Eigentlichkeit“, von einer „zeichentheoretischen Wesenserkenntnis“, die den Spiel-Begriff in den Dienst einer „letzten“ philosophischen Wahrheit stelle, der nämlich, „daß der Rede von Wahrheit, Bedeutung und Verstehen ein notwendig transzendentaler Schein zugrunde liegt.“ Die lesenswerte Habilitationsschrift „Literarische Spieltheorie“ des Literaturwissenschaftlers Stefan Matuschek zeigt sich dem dekonstruktivistischen Spiel-Begriff gegenüber noch reservierter: Das mit dem „Anspruch radikaler Neuorientierung“ aufgetretene Theorem vom „Spiel der Signifikanten“ sei inzwischen kaum mehr als ein „Gemeinplatz“. Dekonstruktivismus und Postmoderne sind hier verabschiedet, nicht jedoch der Begriff des Spiels. Für Sonderegger wie für Matuschek behält er seine Attraktivität. Die Vergleiche und Gleichsetzungen von Literatur und Spiel sind älter als die Postmoderne und werden sie überdauern. Zu einer Literaturtheorie des Spiels haben postmoderne Programme und Theorien vielfältige Anregungen gegeben – auch wenn sie hinter dem, was bereits Ende des vorigen Jahrhunderts von Spieltheoretikern und Ästhetikern geleistet worden ist, weit zurückgeblieben sind. Das literaturtheoretische Anregungspotential, das dem Spiel-Begriff eigen ist, haben sie nur in vagen Ansätzen ausgeschöpft.
Von der Verführungskraft des Wortes
Matuscheks Distanz zum Dekonstruktivismus hat mit den auf die konstruktivistischen Tendenzen der Kulturwissenschaften generell zielenden Angriffen der Physiker Alan Sokal und Jean Bricmont gegen den „eleganten Unsinn“ postmoderner Denker nichts gemein (vgl. literaturkritik.de Nr. 12, 1999). Die erfrischende Respektlosigkeit des Buches richtet sich ebenso gegen Naturwissenschaftler, die den Spiel-Begriff in ähnlich diffuser Weise zum Gemeinplatz gemacht haben wie Derrida und seine Gefolgschaft. Hatte Johan Huizinga 1938 unter dem Titel „Homo ludens“ die gesamte Kultur auf den Spielbegriff gebracht, so wagen inzwischen derart ehrgeizige und umfassende Theorieentwürfe nur noch Naturwissenschaftler, konstatiert Matuschek im Blick auf das Erfolgsbuch von Manfred Eigen und Ruth Winkler („Spiel. Naturgesetze steuern den Zufall“. 1974, 9. Aufl. 1990). Das klingt noch achtungsgebietend, doch dann folgt die böse, treffende Nebenbemerkung: „Doch deren Dilettantismus in den Geisteswissenschaften wird von den Fachleuten meist mit sehr viel mehr Wohlwollen aufgenommen als umgekehrt, sind sie doch froh, daß sich so anerkannt kluge Köpfe auch für ihre Gegenstände interessieren.“
Unter der abstrakten Definition „Dichotomie von Zufall und Gesetz“ wird bei Eigen/Winkler der Spiel-Begriff zu einer Art Weltformel. Das war er allerdings schon in einem u.a. von der Frühromantik und von Nietzsche enthusiastisch zitierten Fragment Heraklits: „Die Zeit ist ein Kind, das spielt, hin und her die Spielsteine setzt.“ Ähnliche Verbreitung fand das Diktum Platons vom Menschen als „Spielzeug Gottes“. In der frühen Neuzeit und im Barock wurde das gesamte soziale Leben einem Schauspiel gleichgesetzt. In soziologischen Handlungs- und Rollentheorien lebt diese Tradition fort. Davon zeugt etwa der deutsche Titel eines schon klassisch gewordenen Buches des Soziologen Erving Goffman: „Wir alle spielen Theater“.
Neben soziologischen und psychologischen gibt es mathematische, wirtschaftswissenschaftliche, pädagogische, sprachphilosophische oder auch ästhetische Spieltheorien – und kaum einen sozialen oder natürlichen Vorgang, der sich nicht mit ihren Kategorien beschreiben ließe. So auch der Umgang mit Literatur.
Die Geschichte der literaturtheoretischen Verwendung des Spiel-Begriffs ist so alt wie die Überlieferung der Literatur selbst. Die „Poetik“ des Aristoteles legitimiert den Begriff der „Mimesis“ anthropologisch mit der Erinnerung an das Spiel der Kinder: „Das Nachahmen selbst ist dem Menschen angeboren – es zeigt sich von Kindheit an.“ Wenn Plato die Fiktionalität der Dichtung zur Lüge abwertet, rekurriert er ebenfalls auf den Begriff: Die „Nachbildung“ sei „eben nur ein Spiel“ und „kein Ernst“. In dieser Verwendung ist „Spiel“ mit Unwahrheit, Leichtfertigkeit und Unvernunft assoziiert. Noch die gegenwärtige Kritik an der „Unverbindlichkeit“ postmodernen Spiels steht in dieser Traditionslinie.
Die historische Rückbesinnung angesichts der gegenwärtig wild zirkulierenden Spekulationen über die Affinitäten von Literatur und Spiel reicht allerdings, wie Matuschek anmerkt, in der Regel nur bis Kant und Schiller. In Kants Definition des Schönen als „freies Spiel der Erkenntniskräfte“, in dem Einbildungskraft und Verstand harmonieren, und in Schillers berühmtem Diktum, der Mensch sei „nur da ganz Mensch, wo er spielt“, erhielt der Begriff höchste Dignität. Als Spiel begriffen, werden Kunst und Literatur zum Paradigma unentfremdeter, den Rationalisierungs- und Ausdifferenzierungsprozessen gesellschaftlicher Modernisierung entgegengesetzter Tätigkeit, die weder unter dem Diktat der sinnlichen Natur noch unter dem der Rationalität und Moral steht. Das mit Spiel assoziierte Bedeutungsmerkmal der Freiheit wird hier besonders hervorgehoben.
Dies steht in einer Literaturtradition spieltheoretischer Ansätze, die sich, von der Forschung relativ unbeachtet und von Matuschek nun ‚wiederentdeckt‘, schon im Umkreis der Renaissance und des Humanismus (u.a. Petrarca, Erasmus, Rabelais) herausbildeten und im Zuge wachsender Autonomieansprüche des Subjekts und der Kunst weit über die klassische Ästhetik hinausreichten.
Der Blick auf die Geschichte des Spiel-Begriffs in der Literaturtheorie und Ästhetik fördert wahrhaft Erstaunliches zutage – und ist so anregend wie desillusionierend: Der Begriff hat Platz für unterschiedlichste Vorstellungen und Positionen, und während diese alle vergänglich waren, hat er sie bislang immer überlebt. Die romantische Kritik an Schillers Spiel-Begriff wird zu einem neuen Triumph eben dieses Begriffs. Erklärte das Standardwerk der philosophischen Hermeneutik, Gadamers „Wahrheit und Methode“, das „Spiel“ zu seinem „Leitfaden“, so widmete ihm Jurij Lotmans Standardwerk des Strukturalismus ein eigenes Kapitel. Die poststrukturalistische Kritik am hermeneutischen Sinnverstehen wie am Strukturalismus rückte ihn sogar in ihr Zentrum. Und wo inzwischen Ruth Sonderegger oder Stefan Matuschek, jeweils von wenig verwandten Positionen aus, den dekonstruktivistischen Spielbegriff kritisieren, wollen sie doch auf das theoretische Anregungspotenzial, das dem Begriff eigen ist, keineswegs verzichten. Sie teilen dabei ihre Vorliebe für die frühromantische Spieltheorie Friedrich Schlegels, gehen jedoch mit ihr sehr unterschiedlich um.
Der Begriff „Spiel“ war und bleibt eine Art Joker, der sich in der Auseinandersetzung zwischen literaturtheoretischen Gegnern universal einsetzen lässt. Zu den Verdiensten von Matuscheks Buch gehört nicht zuletzt, dass es mit sprach- und wissenschaftsanalytischer Distanz der erstaunlichen Verführungskraft des Spiel-Begriffs nachgeht und damit zusätzlich zur historischen eine begriffliche Meta-Reflexion in Gang setzt, die den literarischen und ästhetischen Spieltheorien bislang weitgehend fehlte.
Zum beispiellosen Erfolg des Spiel-Begriffs gehört sein „Überangebot an semantischen Merkmalen“, das vielfältige Anschauungsmaterial konkreter lebensweltlicher Phänomene, auf die er verweist, und zugleich die synthetische Abstraktion davon. Nicht zuletzt ist es kurz und lässt eine anthropologische Verheißung anklingen: „die des in freier Tätigkeit glückerfüllten Menschseins“.
Das Buch ist in seinen historischen Rekonstruktionen literaturtheoretischer Spiel-Begriffe und in seinen oft erhellenden Erklärungen ihres Erfolgs zweifellos ein wertvoller Beitrag zum Thema. Doch zu einer systematischeren Explikation des Begriffs und präziseren Ausarbeitung seiner literaturtheoretischen Möglichkeiten leistet es relativ wenig. Die einschlägige Definition des Begriffs, die Huizinga gegeben hat, zitiert Matuschek zwar, zeigt sich an ihr jedoch nicht weiter interessiert. Erstaunlicher jedoch ist die Ignoranz gegenüber Wittgenstein, der die Verführungskraft des Begriffs bereits eingehend reflektiert hat und darüber hinaus auch konkrete Vorschläge zur Analyse seiner Verwendungsweisen gemacht hat. Was an Matuscheks Buch nur bedauerlich ist, wird an dem von Ruth Sonderegger zum Ärgernis.
„Hin und her“ – Polemischer Exkurs zu Sondereggers Autonomieästhetik des Spiels
Der knappe Befund Ruth Sondereggers zur jüngeren „Konjunkturgeschichte des Spielbegriffs“ ist (trotz falscher Syntax) durchaus treffend: „Erst über den Umweg verschiedener Kulturtheorien des Spiels, vor allem diejenigen von Huizinga und Caillois, einerseits, über die strukturalistischen und dekonstruktiven Zeichentheorien andererseits ist der Spielbegriff wenn nicht ins Zentrum, so zumindest an die interessantesten Ränder gegenwärtiger Theorien des Ästhetischen gerückt. Von hier aus konnte der Spielbegriff in den ästhetischen Theorien Kants und Schillers ebenso neu entdeckt werden wie der darauf kritisch bezogene Spielbegriff der Frühromantiker.“ Weil Sonderegger selbst allerdings den „Umweg“ der Kulturtheorien des Spiels, ja überhaupt aller interdisziplinären Forschungen dazu nicht gehen mag, bleibt ihr Spiel-Begriff diffus und abstrakt. Nicht weniger als einen „Neubeginn“ der ästhetischen Theorie soll er ermöglichen, soll das Zentrum einer Ästhetik werden, die der Autonomie von Kunst erstmals ganz angemessen sei. Doch dieses Zentrum bleibt leer.
Das Buch erschöpft sich darin, „Gadamers Hermeneutik des Spiels“ (ein 50-Seiten-Kapitel) und „Derridas Spiel der Dekonstruktion“ (ein weiteres Kapitel) gegeneinander auszuspielen, den Gegensatz von Hermeneutik und Antihermeneutik im Rückgriff auf „Schlegels Ästhetik des Spiels“ (das Hauptkapitel) aufzuheben und damit beide zu überbieten. Am Ende „bekommt die hermeneutische These, wonach das Kunstwerk zusammenlesbarer Sinn ist, ebenso recht wie die dekonstruktive, der zufolge das Kunstwerk nicht Sinn, sondern materialer und formaler Nichtsinn ist.“ Der Spiel-Begriff macht’s möglich. Im Anschluss an Schlegel entwirft Sonderegger ein Konzept ästhetischer Erfahrung, das aus dem „Hin und Her“ zweier „Auflösungsbewegungen“ besteht: Verstehen löst Unverständliches auf, das Unverständliche wiederum den verständlichen Sinn. Der Spiel-Begriff soll es leisten, beides als zusammengehörig zu begreifen: „Dem Verstehen wird nicht ein Nichtverstehen entgegengehalten, sondern beide werden im Modus des Spiels verworfen und wieder restituiert.“
Aber was heißt hier „Spiel“ oder „Modus des Spiels“? Um eine genauere Klärung der Bedeutungen, mit denen der Begriff verwendet wird oder mit denen er sich in ästhetischen Theorien verwenden lässt, zeigt sich Sonderegger kaum bemüht. Das große Gewicht und die hervorragende Eignung des Spiel-Begriffs zur Auseinandersetzung mit Hermeneutik und Dekonstruktion wird behauptet oder vorausgesetzt, doch nie hinterfragt. Es scheint, als solle sich der Begriff durch möglichst häufige Verwendung legitimieren. Verweist Matuschek skeptisch auf das Grimmsche Wörterbuch, das unter 23 Bedeutungsvarianten insgesamt 132 Verwendungsmöglichkeiten verzeichnet, so lässt Sonderegger über die Tauglichkeit des Begriffs erst gar keine Zweifel aufkommen. Die Spiel-Definition Huizingas oder die Spiel-Typologie von Caillois ignoriert sie, weil, so die beiläufige Begründung, „Übertragungen von Kulturtheorien des Spiels auf das Feld der Ästhetik […] äußerlich bleiben“, auf „schwer zu erweisenden anthropologischen Vorannahmen“ beruhen und allenfalls Aspekte „nicht ästhetischer Spiele in Kunstwerken“ im Blick haben. Kulturwissenschaften sind der Autorin ohnehin suspekt. Mit dem Verdikt „Marginalisierung des Ästhetischen“ werden ihre Beiträge zur Spielforschung zur Marginalie erklärt, die sich ignorieren lässt. Gegen die Feststellung, dass der ästhetische „ein eigengesetzlicher Diskurs“ ist, „der den anderen in der Moderne ausdifferenzierten Diskursen nicht vor- oder nachgeordnet ist“, bleibt wenig einzuwenden. Auch nicht gegen die damit verbundene, ständig wiederholte, gegen Hermeneutik wie Anti-Hermeneutik gerichtete Kernthese, dass Kunst nicht in erster Linie dazu da ist, moralische oder theoretische Erkenntnisse zu vermitteln. Doch dass die Berufung auf die Autonomie der Kunst als eines ästhetischen Spiels auch dazu dient, die hermetische Begrifflichkeit der philosophischen Ästhetik vor Übergriffen ‚gegenstandsfremder‘ Disziplinen zu bewahren, ist ein Rückfall hinter die jüngeren Errungenschaften inter- und transdisziplinärer Grenzüberschreitungen. Am Ende gelangt diese „Ästhetik des Spiels“ in ihrer Kritik an und dialektischen Vermittlung von Hermeneutik und Dekonstruktion über deren Horizonte nur in einigen scharfsinnigen Nuancen hinaus. Das ist jene Art traditioneller Philosophie und Kunsttheorie, die vor allem mit sich selbst beschäftigt bleibt: mit der Auslegung und Diskussion kanonisierter Texte der eigenen Disziplin. Sie duldet nichts Fremdes neben sich.
Die eigenen Nuancen sind geringfügig, werden aber umso entschiedener mit dem Anspruch auf einen „Neuanfang“ vorgetragen. Stil dieses Buches ist nicht der abwägende Zweifel, sondern das selbstgewisse Dekret, nicht die Mühe konkreter Auseinandersetzung mit Kunst (vom kurzen Exkurs über die Inszenierungen Christoph Marthalers abgesehen), sondern die kühne Abstraktion, nicht die vorsichtige Begründung, sondern die apodiktische These oder rasche Abfertigung. Wiederkehrende Wendungen wie „man muß“, „darf nicht“ oder „nur so kann man“ sind dafür symptomatisch: „Wenn man eine autonome ästhetische Erfahrung von Kunst verteidigen will, muß man grundsätzlich anders ansetzen als die Tradition der philosophischen Ästhetik.“ Ein typischer Satz. Er ist deswegen besonders ärgerlich, weil die derart abgefertigte Tradition um der eigenen Profilierung willen erheblich entstellt wird. In der neuen Disziplin der Ästhetik habe sich, behauptet Sonderegger beiläufig, der „Verstehensbegriff […] von Anfang an in den Vordergrund gedrängt“. Bei Kant, dem Schiller darin folgte, war indes bekanntlich nicht das Verstehen, sondern das „Wohlgefallen“ oder die „Lust“ Basis aller ästhetischen Erfahrungen und Urteile. Mit einigem Recht schrieb Derrida in den siebziger Jahren über die „Kritik der Urteilskraft“: „Das Rätsel der Lust bewegt das ganze Buch.“ Sie sei „Ausgangspunkt der dritten Kritik“.
Die Lust oder das Vergnügen gilt im Übrigen, schon damals, auch als konstitutives Merkmal und Motiv des Spielens. Doch an ihm hat Sonderegger zunächst kein Interesse. Sie dekretiert vielmehr: „Das Reizvolle am Begriff des Spiels in bezug auf die Ästhetik ist, daß es einen Ausweg aus jener festgefahrenen Debatte verspricht, die man mit den Oppositionspaaren Hermeneutik-Antihermeneutik, Hermeneutik-Dekonstruktion verbindet.“ Gegen Ende des Buches ist ein kleiner Abschnitt dann allerdings doch der „ästhetischen Lust“ gewidmet. Und an einer noch späteren Stelle erklärt die Autorin sogar, diese Lust sei es, „um die es der ästhetischen Erfahrung eigentlich und ausschließlich geht.“ Von „gängigen Vorstellungen ästhetischer Lust“ grenzt Sonderegger ihre „spielästhetische Konzeption der Lust“ wiederum entschieden ab: „von einem plötzlichen, erhabenen oder sonstigen Gefühlsschauer“, von der „Lust an einer Erkenntnis“, von der Lust am Entdecken einer formalen Ordnung oder von der „Lust an der Zerstörung von Sinn oder Form“. Das alles könne legitimer Teil der ästhetischen Erfahrung sein, mache jedoch nicht die ästhetische Lust aus. Weit entfernt vom postmodernen Programm einer Vielfalt von Spielen und Lüsten, das man bei der Lektüre dieses Buches zurückzuwünschen versucht ist, legt der Dogmatismus dieser Spielästhetik fest, was die ästhetische Lust ist: „Diese ist eine Lust an der Unendlichkeit des ästhetischen Spiels.“
Wieder einmal scheint der Spiel-Begriff kaum mehr als eine Leerformel zu sein. Im vorangehenden Kapitel über Schlegel hatte Sonderegger allerdings dann doch eine Explikation des Begriffs zitiert, und eine Fußnote verweist hier sogar auf „neuere Lexikonartikel“ (die sich mit ihren Hervorhebungen von Glücks- und Rollenspielen allerdings als unpassend für Sondereggers Argumentation erweisen) sowie auf das Grimmsche Wörterbuch. Zitiert wird Gadamer mit den Sätzen: „Wann reden wir von Spiel, und was ist damit impliziert? Sicherlich als erstes das Hin und Her einer Bewegung, die sich ständig wiederholt – man denke einfach an gewisse Redeweisen, wie etwa ‚das Spiel der Lichter‘ oder ‚das Spiel der Wellen‘, wo solch ein ständiges Kommen und Gehen, ein Hin und Her vorliegt, d.h. eine Bewegung, die nicht an ein Bewegungsziel gebunden ist. Das ist es offenbar, was das Hin und Her so auszeichnet, daß weder das eine noch das andere Ende das Ziel der Bewegung ist, in der sie zur Ruhe kommt.“
Diese vage Explikation des Spiel-Begriffs, die nur einen Bruchteil seiner Bedeutungsmöglichkeiten aufzeigt, ist offensichtlich darauf zugeschnitten, bestimmte Vorstellungen von Kunst und ästhetischer Erfahrung zu illustrieren: von Regelmäßigkeit, Ziellosigkeit oder Unendlichkeit. Sonderegger macht sie sich zu Eigen: In ihrem Konzept meint „ästhetische Erfahrung“ ein „ständiges“, unendliches „Hin und Her“ zweier Bewegungen, der hermeneutischen Konstruktion und der antihermeneutischen Destruktion von Sinn, wobei das jeweilige Ende einer jeden Bewegung nicht das Ziel der Gesamtbewegung ist. Diese kommt nicht „zur Ruhe“, lässt sich keinem Ziel zuordnen
Ob es der Spiel-Begriff in dieser sehr allgemeinen Bedeutung verdient, in das Zentrum einer ästhetischen Theorie gerückt zu werden, mag man bezweifeln. Er hat freilich mehr zu bieten. Wer seine Möglichkeiten für eine Kunst- oder Literaturtheorie ausschöpfen möchte, sollte anders mit ihm umgehen als Sonderegger.
Literatur als Spiel
Die Definition von „Spiel“ in Johan Huizingas Kulturtheorie ist gewiss unzulänglich, doch ermöglicht sie es zunächst immerhin, gleich eine ganze Reihe von Bedeutungsaspekten zu überprüfen, unter denen Literatur ein „Spiel“ genannt werden kann: „Spiel ist“, so Huizinga, „eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Raum und Zeit nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt bindenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des `Andersseins‘ als das `gewöhnliche Leben‘.“ Nach Roger Caillois, der diese Begriffsexplikation zu modifizieren versuchte, doch sich im Ergebnis von Huizinga nicht sehr weit unterscheidet, ist das Spiel eine Betätigung mit folgenden Merkmalen: 1. freiwillig, 2. abgetrennt in festgelegten Grenzen von Raum und Zeit, 3. ungewiß in Ablauf und Ergebnis, 4. unproduktiv, 5. geregelt, 6. fiktiv.
Literatur entspricht solchen Bestimmungen immerhin zum Teil. Sie im Sinne dieser Definitionen als spielerische „Beschäftigung“, „Betätigung“ oder „Handlung“ zu begreifen hat zunächst den Vorzug, dass nicht nur literarische Texte, sondern auch die mit ihnen verbundenen sozialen Aktivitäten in den Blick geraten, vor allem das Schreiben und das Lesen.
Dass das Spiel eine „freiwillige Handlung oder Beschäftigung“ ist, kennzeichnet, übertragen auf Literatur, zwar nicht unbedingt die Tätigkeit professioneller Autoren, Berufsleser oder Schüler im Literaturunterricht, doch die ‚normale‘ Lektüre von literarischen Texten durchaus. Diese bleibt den von der Arbeit abgegrenzten Freiräumen und -zeiten vorbehalten und führt in imaginäre Welten, deren Zeit und Raum von der realen Welt der Autoren oder Leser deutlich unterschieden sind. Das literarische Lesen unterliegt auch nicht den Zwecksetzungen und Produktivitätsverpflichtungen der Arbeit, ist abgehoben vom gewöhnlichen Leben, und zumindest gesucht werden dabei Lust und Spannung. Zu den Spannungselementen gehört es, dass Ablauf und Ergebnis der Texte oder ihrer Handlungen partiell ungewiss bleiben. Dass Literatur zwar nicht immer, aber oft fiktional ist, wissen wir. Die Regeln, denen das Schreiben und Lesen folgt, sind zwar, zumal seit der Genieästhetik, nicht „unbedingt bindend“, aber Literatur ohne alle Regeln gibt es wohl nicht. Das „Originalgenie“ ist im 18. Jahrhundert nicht durch die Negierung aller Regeln definiert, sondern dadurch, dass es sich seine Regeln selbst gibt.
Definitionen des Spiels, wie sie Huizinga oder Caillois gegeben haben, sind im Blick auf Literatur zumindest von begrenzter Tauglichkeit. Ihre Grenzen findet sie, auch für eine plausible Gleichsetzung von Literatur und Spiel, in der Mannigfaltigkeit sowohl der spielerischen als auch der literarischen Tätigkeiten.
Ludwig Wittgenstein, dessen Begriff der „Sprachspiele“ die Philosophie der Postmoderne, insbesondere die Jean-François Lyotards und Richard Rortys, maßgeblich inspirierte, hat nachdrücklich vor Begriffsfestlegungen gewarnt, die vorschnell von der Vielfalt konkreter Spiele abstrahieren. Das Begehren nach einem eindeutigen Begriff des Spiels verfalle den Verführungen unserer Sprache. Allen Spielen gemeinsame Merkmale gebe es nicht, allenfalls Ähnlichkeiten zwischen einzelnen Gruppen von Spielen. „Es ist, als erklärte jemand: `Spielen besteht darin, daß man Dinge, gewissen Regeln gemäß, auf einer Fläche verschiebt …‘ – und wir ihm antworten: Du scheinst an die Brettspiele zu denken; aber das sind nicht alle Spiele. Du kannst deine Erklärung richtigstellen, indem du sie ausdrücklich auf diese Spiele einschränkst.“ Wittgenstein hat eine ebenso plausible wie praktikable Anweisung zur Begriffsexplikation gegeben. Sie lässt sich in einem Satz zusammenfassen: `Betrachte und vergleiche eine Vielzahl konkreter Spielpraktiken auf Gemeinsamkeiten und Differenzen hin!‘ In Wittgensteins Worten: „Betrachte z.B. einmal die Vorgänge, die wir ‚Spiele‘ nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiele, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? – Sag nicht: ‚Es muß ihnen etwas gemeinsam sein, sonst hießen sie nicht ‚Spiele‘ – sondern schau, ob ihnen allen etwas gemeinsam ist. – Denn wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. Wie gesagt: denk nicht, sondern schau! – Schau z.B. die Brettspiele an, mit ihren mannigfachen Verwandtschaften. Nun geh zu den Kartenspielen über: hier findest du viele Entsprechungen mit jener ersten Klasse, aber viele gemeinsame Züge verschwinden, andere treten auf. Wenn wir nun zu den Ballspielen übergehen, so bleibt manches Gemeinsame erhalten, aber vieles geht verloren. – Sind sie alle ‚unterhaltend‘? Vergleiche Schach mit dem Mühlfahren. Oder gibt es überall ein Gewinnen und Verlieren, oder eine Konkurrenz der Spielenden? Denk an die Patiencen. In den Ballspielen gibt es Gewinnen und Verlieren; aber wenn ein Kind den Ball an die Wand wirft und wieder auffängt, so ist dieser Zug verschwunden. Schau, welche Rolle Geschick und Glück spielen. Und wie verschieden ist Geschick im Schachspiel und Geschick im Tennisspiel. Denk nun an die Reigenspiele: Hier ist das Element der Unterhaltung, aber wie viele der anderen Charakterzüge sind verschwunden! Und so können wir durch die vielen, vielen anderen Gruppen von Spielen gehen. Ähnlichkeiten auftauchen und verschwinden sehen. / Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen.“
Will man Literaturtheorien als Spieltheorien konzipieren, ergibt sich daraus ein anspruchsvolles und ergiebiges Forschungsprogramm. Systematische Fortführungen der bislang zumeist nur metaphorisch angedeuteten Vergleiche zwischen verschiedenen Arten von Literatur mit verschiedenen Arten von (nicht-literarischen) Spielen führen rasch in die Zentren literaturtheoretischer Fragestellungen. Und wenn man dazu bereit ist, die Spielforschungen anderer wissenschaftlicher Disziplinen zur Kenntnis zu nehmen und ihrerseits miteinander zu vergleichen, dann wird man feststellen, dass die Probleme der Literaturtheorie mit denen anderer Spieltheorien vielfach übereinstimmen, dass andere Disziplinen diese Probleme zum Teil präziser und differenzierter bearbeitet haben – oder zum Teil auch unzulänglicher und daher ihrerseits von literaturtheoretischen Einsichten profitieren könnten.
Das „Hin und Her“ im „Spiel der Wellen“ mit dem Hin und Her zwischen Sinnkonstruktion und destruktion zu vergleichen, wie es Sonderegger im Anschluss an Gadamer tut, ist da nur ein allzu vager Anfang. Etwas weiter würde hier beispielsweise der Vergleich mit kindlichen Spielen im Sand führen, wie er von Nietzsche angedacht wurde, als er im Blick auf den ständigen Wechsel von „Bauen und Zerstören“ das kindliche Spiel mit dem des Künstlers gleichsetzte. Oder auch der nicht erst von Calvino vorgenommene Vergleich von Literatur und Schachspiel. Zu beachten wäre dabei allerdings der Unterschied zwischen „Spiel“ als System von Regeln (game) und Spiel als Tätigkeit (play) oder, in Anlehnung an linguistische Begriffe, zwischen Kompetenz (Beherrschung der Spielregeln) und Performanz (Ausführung der Regeln). Zu reflektieren wäre dabei weiterhin erneut eine Gretchen-Frage neuerer Literaturtheorien: ‚Wie hältst du’s mit dem Subjekt?‘ Schon Gadamer hatte sie bei seiner Verwendung des Spiel-Begriffs gestellt und mit seiner Antwort einiges von der poststrukturalistischen Rede über den ‚Tod des Autors‘ vorweggenommen: „Das eigentliche Subjekt des Spieles […] ist nicht der Spieler, sondern das Spiel selbst. Das Spiel ist es, was den Spieler im Bann hält, was ihn ins Spiel verstrickt, im Spiel hält.“ Oder: „Das Subjekt des Spieles sind nicht die Spieler, sondern das Spiel kommt durch die Spielenden lediglich zur Darstellung.“ Andererseits, so ließe sich dagegen einwenden, unterwirft sich ein Autor literarischen Spielregeln, beispielsweise denen des Sonetts, freiwillig, und es bleiben ihm, wie dem Schachspieler, Freiräume, die vorgegebenen Regeln individuell auszugestalten oder sogar, anders als beim Schachspiel, von ihnen abzuweichen.
In der Spielforschung haben Spieltypologien einen ähnlichen Stellenwert und stehen vor ähnlichen Problemen wie Gattungstypologien in der Literaturwissenschaft. Das Schachspiel etwa lässt sich als ‚Regelspiel‘ von ungeregelten oder ‚freien‘ Spielen unterscheiden. Sind auch im Blick auf Literatur solche Unterscheidungen angebracht? Welche Art von literarischer Tätigkeit gleicht eher dem ungeregelten Sandkastenspiel des Kindes, welche dem geregelten Schach- oder Kartenspiel? Das Schachspiel kann, im Unterschied zum Sandkastenspiel, auch dem Typus des „Wettkampf“- oder „Gewinnspiels“ zugeordnet werden. Doch wer spielt im Fall von Literatur mit wem oder gegen wen? Ist der Leser ein Mitspieler des Autors? Oder hat er eher den Status eines Zuschauers oder Jurors, der den Wettstreit zwischen Autoren beobachtet? Gibt es in diesem Wettstreit wie beim Schach einen Gewinner? Oder gleicht der Autor eher einem Solisten oder Geschicklichkeitsspieler und der Leser dem Zuschauer, der gespannt darauf wartet, ob das Kunststück gelingt?
Die Reihe solcher literaturtheoretisch gewiss nicht bedeutungslosen Fragen, die durch Vergleiche oder Gleichsetzungen von Literatur und Spiel zu stellen angeregt werden, sei hier nur noch um einige wenige erweitert. Folgt man etwa Caillois‘ Unterscheidung von Wettkampfspielen, Glücksspielen, Verkleidungs- bzw. Nachahmungsspielen und Rauschspielen, hat Literatur wohl am wenigsten mit Glücksspielen, dagegen einiges mit Wettkampfspielen (Literaturwettbewerbe) und viel mit Verkleidungs- und Rauschspielen gemeinsam. Aber gleicht die hermeneutische Suche danach, wie sich die Teile eines Textes in ein sinnvolles Ganzes fügen, oder die strukturalistische Analyse von Äquivalenz-, Oppositions- oder Kontiguitätsbeziehungen zwischen Textelementen nicht eher einem Puzzlespiel? Oder die Entschlüsselung hermetisch verdunkelter Texte nicht eher einem Rätselspiel, das Autoren für ihre Leser inszeniert haben?
Eine von anthropologischen und psychologischen Spieltheorien ständig gestellte Frage, die zweifellos auch für die Literaturtheorie von eminenter, allerdings selten ganz erst genommener Bedeutung ist, lautet: Warum spielen wir? Die Antworten, die darauf gegeben wurden, haben mittlerweile ihre eigene Geschichte. Sie zeigt einmal mehr, wie eng Literaturtheorie und Spieltheorie miteinander verbunden sind. Sie unterliegen ganz ähnlichen Argumentationsmustern und Wandlungen. Vor pathologischer Lesesucht wurde gewarnt wie vor der Spielsucht. Umgekehrt wurden sowohl dem Spiel als auch dem literarischen Schreiben oder Lesen therapeutische Potenzen und andere Nützlichkeiten zugeschrieben. Die Vorlieben für bestimmte Lesestoffe wie Spielarten wurden unter entwicklungspsychologischen Gesichtspunkten untersucht. Spiel wie Literatur wurden pädagogisch ‚wertvollen‘ Zwecken untergeordnet oder aber für autonom erklärt.
Nützlichkeits- und Fortschrittskonzepte aus der Tradition der Aufklärung erklärten seit dem 19. Jahrhundert mit zum Teil evolutionsbiologisch fundierten ‚Einübungs-Theorien‘ das dem Spiel zugrundeliegende Explorationsbedürfnis zur treibenden Kraft zivilisatorischer Entwicklung. Literatur und Spiel sind in dieser Perspektive Vorschule intellektuellen und emotionalen Verhaltens für den Ernst der Lebenspraxis, simulatives Probehandeln in Phantasie- und Schonräumen künstlich herabgesetzten Risikos (so bei Karl Groos, Jurij Lotman, D.E. Berlyne oder auch noch Dieter Wellershoff), fiktive Konkretisierungen imaginierter Möglichkeiten (so bei Wolfgang Iser).
Nützlichkeiten solcher Art gelten jedoch auch in dieser utilitaristischen Perspektive nicht als dominante Motivation zum Spielen. Insofern das Spielen (wie das Lesen) eine freiwillige Tätigkeit ist, die im Gegensatz zur Arbeit nicht den Zwängen der Lebenserhaltung unterworfen ist und nicht in erster Linie an irgendwelchen Nutzeffekten orientiert ist, hat man es auch mit dem Kennzeichen „autotelisch“ versehen, oder in der Definition von Huizinga: Es hat sein „Ziel in sich selber“. Übertragen auf Kunst und Literatur, entspricht dies den Positionen der Autonomieästhetik. Die Autonomie, die in ästhetischen Theorien für Kunst geltend gemacht wird, wird in Spieltheorien für jedes Spiel reklamiert. Sie ist demnach also keineswegs eine Eigenart speziell der Kunst, sondern der Kunst als eines unter vielen Spielen. Spiel und Kunst sind, in der Terminologie jüngerer psychologischer Forschung, „intrinsisch“ motiviert. Man spielt primär um des Spielens willen, höchstens sekundär aus „extrinsischen“ Motiven, die von außen durch irgendwelche Gratifikationsangebote oder Sanktionsandrohungen veranlasst sind. Die Gratifikation, die das Spielen selbst bietet, ist die mit ihm verbundene Lust.
Spiel, Literatur und Lust
„Spiel gibt es nur“, so heißt es in der spieltheoretischen Schrift von Roger Caillois, „wenn die Spieler Lust haben, zu spielen, und sei es auch das anstrengendste und erschöpfendste Spiel […]. Vor allem aber müssen die Menschen aufhören können, wann es ihnen gefällt, müssen sagen können: ich spiele nicht mehr.“ Wer Literatur als eine Art Spiel begreift, kann die Zusammenhänge von Literatur und Lust kaum übersehen. Der amerikanische Psychologe Victor Nell wählte dafür den treffenden Begriff „ludic reading“. Die lexikalische Bedeutung des lateinischen Wortes „ludus“ ist sowohl „Spiel“ als auch „Spaß“. „Ludic reading erinnert daher daran, dass die Wurzeln lustvollen Lesens im Spiel liegen. Und in der Tat gerät die Lust am Text besonders solchen Reflexionen über Literatur in den Blick, die ihren Spielcharakter hervorheben.
Psychologische Spieltheorien haben zur Beantwortung der Frage nach den Arten und Gründen dieser Lust mehr beigetragen als Literaturtheorien. Ihre Auskünfte über die Lustquellen spielerischer Tätigkeit fallen allerdings verschieden aus: Lust beim Spiel gehe einher mit Abreaktionen überschüssiger Energien (Herbert Spencer), mit Erholung von der Erschöpfung einseitig überbeanspruchter Kräfte (Moritz Lazarus), mit der Befriedigung über das Funktionieren der herausgeforderten Fähigkeiten (das meinte Karl Bühlers Begriff der „Funktionslust“), mit dem Stolz über die Bewältigung von Schwierigkeiten (Dietrich Dörner) oder mit der Befreiung bzw. Ablenkung von diversen Besorgnissen im tranceartigen Zustand narkotischer Entrücktheit (Mihaly Csikszentmihalyi).
Ein seinerzeit keineswegs singuläres, sondern symptomatisches Beispiel für eine unter dem dominanten Aspekt der Lust stehende psychologische Theorie, die Literatur als ein Spiel konzipierte, ist Sigmund Freuds 1907 gehaltener Vortrag „Der Dichter und das Phantasieren“. Angeregt auch von den damals resonanzreichen Schriften des Spieltheoretikers Karl Groos, versucht der Vortrag, „eine erste Aufklärung über das Schaffen des Dichters zu gewinnen“, und glaubt sie im Vergleich der dichterischen Tätigkeit mit dem Spiel des Kindes zu finden: „Sollten wir die ersten Spuren dichterischer Betätigung nicht schon beim Kinde suchen? Die liebste und intensivste Beschäftigung des Kindes ist das Spiel. Vielleicht dürfen wir sagen: Jedes spielende Kind benimmt sich wie ein Dichter, in dem es sich eine eigene Welt erschafft oder, richtiger gesagt, die Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung versetzt.“ Und umgekehrt: „Der Dichter tut nun dasselbe wie das spielende Kind; er erschafft eine Phantasiewelt, die er sehr ernst nimmt, d.h. mit großen Affektbeträgen ausstattet, während er sie von der Wirklichkeit scharf sondert.“ Wie der Tagtraum sei die Dichtung „Fortsetzung und Ersatz des einstigen kindlichen Spielens“. Der Erwachsene mag nach Freud nicht auf den Lustgewinn verzichten, den er als Kind aus dem Spielen bezogen hat. Er phantasiert, auch literarisch. Und er erfüllt sich wie das Kind beim Spiel in seinen Phantasien jene Wünsche, deren Befriedigung ihm in der Wirklichkeit versagt bleibt.
Spielen, Phantasieren, Erzählen
Die Bemerkung Freuds, das Kind versetze die „Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung“, ist vielleicht erläuterungsbedürftig. Das Kind macht Dinge, die es in seiner Umwelt vorfindet, zu seinem Spielmaterial, benutzt einen Hocker als Pferd, einen Topf als Hut, baut aus Büchern einen Turm oder füttert mit Gras ein Stück Holz, das als Hamster fungiert.
Etliche Spieltypologien erklären häufig gebrauchte Gegenstände oder Materialien, mit denen jeweils gespielt wird, zum dominanten Kriterium ihrer Unterscheidungen. Wenn in manchen Spielen mit Bällen oder in anderen mit Karten gespielt wird, womit spielt dann Literatur? Die naheliegende Antwort lautet: mit den Materialien der Sprache. Ähnlich wie Kinder diverse Alltagsgegenstände zu Spielzeugen umfunktionieren, können Autoren vorgefundenes Sprachmaterial aus seinem gewöhnlichen Funktionszusammenhang herauslösen und es in eine andere Ordnung integrieren. Der Dichter spiele „mit Worten wie mit Bauklötzchen“, hatte Alfred Liede 1963 in seiner umfangreichen Monographie „Literatur als Spiel“ erklärt und sich dabei auch auf Freud berufen. Über das bloße Spiel mit Worten, Lauten oder Buchstaben, das Liede in seinen Untersuchungen zur „Unsinnspoesie“ im Blick hatte, geht Literatur jedoch weit hinaus. Da die Materialien der Sprache zu einem hochentwickelten Symbolsystem von Zeichen gehören, die alle möglichen Dinge und auch Vorstellungen repräsentieren können, steht der Literatur im Medium der Sprache die ganze Welt als Spielmaterial zur Verfügung.
In seinem Buch „Spielen, Erzählen, Phantasieren“ hat der Sozialpädagoge Johannes Merkel die Ansätze Freuds, Literaturtheorie als Spieltheorie zu konzipieren, fortgeschrieben. Zwar greift er weniger auf Freud als auf C.G. Jung zurück, und diese Rückgriffe sind gewiss nicht das Beste an diesem Buch, aber die noch knappen und vagen Ideen Freuds, Literatur als weiterentwickelte Form des Kinderspiels zu analysieren, werden hier unter Berücksichtigung entwicklungspsychologischer Spiel- und Erzählforschungen des 20. Jahrhunderts erheblich weitergeführt.
Literaturwissenschaftlern bietet das Buch etliche Überraschungen. Es konfrontiert sie nämlich mit Phänomenen und Untersuchungen, die eines ihrer angestammten Gebiete, die Erzählforschung, unmittelbar betreffen, die von ihnen jedoch kaum beachtet wurden. Man reibt sich als Literaturwissenschaftler bei der Lektüre oft verwundert die Augen und fragt sich, wie es dazu kommen konnte, dass verschiedene Disziplinen sich intensiv mit dem gleichen Gegenstand, dem Erzählen, befassen und dabei einander offensichtlich kaum zur Kenntnis nehmen. Ein wesentlicher Grund dafür ist allerdings bei der Lektüre rasch gefunden. Er betrifft eine traditionsgefestigte und daher allzu selbstverständlich geltende Voraussetzung literaturwissenschaftlichen Arbeitens. Trotz aller medienhistorischen Reflexionen jüngerer Zeit über das Verhältnis von Schriftlichkeit und Mündlichkeit literarischer Kommunikation hat die Definition von „Literatur“ als „schriftlich fixierten Texten“ den literaturwissenschaftlichen Blick auf die keineswegs nur in ferner Vergangenheit liegende, sondern ganz gegenwärtige Vielfalt mündlichen Erzählens weitgehend versperrt. Dafür, dass und wie das Erzählen von Geschichten selbstverständlicher Bestandteil alltäglicher Kommunikation zwischen Erwachsenen ist, interessiert sich Literaturwissenschaft wenig. Dafür, dass Erwachsene Kindern Geschichten erzählen oder vorlesen, schon eher. Aber dass umgekehrt auch Kinder Erwachsenen ständig etwas erzählen und dass es dazu einschlägige Forschungen gibt, liegt gänzlich außerhalb des literaturwissenschaftlichen Horizonts. Johannes Merkels Buch kann uns da die Augen öffnen. Wiederzuerkennen ist der eigene vertraute Gegenstand, doch plötzlich gesehen mit fremdem Blick.
In der instruktiven Auseinandersetzung mit entwicklungspsychologischen Spiel- und Erzählforschungen, innerhalb derer Jean Piagets nun schon ein gutes halbes Jahrhundert altes Buch „Nachahmung, Spiel und Traum“ einen zentralen Stellenwert hat, geht Merkel der Frage nach, wann, warum und wie Kinder zu spielen, zu erzählen und zu phantasieren beginnen, wie diese Aktivitäten miteinander verflochten sind und wie sie sich mit zunehmendem Alter weiterentwickeln.
Gewiss, das Buch kann nicht vorbehaltlos empfohlen werden: Der oft übergangslose Wechsel von einem Thema und Kapitel zum nächsten, lässt vermuten, dass der Autor in diesem Buch diverse Aufsätze gesammelt hat, wobei ihm ihre Verknüpfung zu einem in sich kohärenten Buch nicht recht gelungen ist. Problematischer noch ist, dass überall da, wo Defizite in der Forschung konstatiert werden, C.G. Jung und seine Vorstellungen von kollektiv unbewussten Archetypen als geeignete Kandidaten zu ihrer Beseitigung angeführt werden.
Die zentrale, in wiederholter Berufung auf den Jung-Schüler Erich Neumann formulierte These des Buches besagt, dass in den schöpferischen Prozessen des Phantasierens, Spielens und Erzählens die Wiederherstellung einer „Lebensganzheit“ erfolgt, eine temporäre Aufhebung des existenziellen Zwiespalts „zwischen der inneren Erfahrung und der Wahrnehmung der äußeren gegenständlichen und sozialen Welt“. Da werden dann beifällig feierliche Worte wie „Weltausgedehntheit der Psyche“, „das Seelische des Welthaften“ oder „Weltseele“ zitiert. Sie sind jedoch zum Glück nicht repräsentativ für den Stil dieses Buches.
Wer mit dem Material der Außenwelt spielt, so heißt es an anderer Stelle etwas nüchterner, „sucht die Außenwelt mit den inneren Gegebenheiten in Einklang zu bringen“ und die eigene Innenwelt anderen mitteilbar zu machen. Von Freuds Bemerkung, das spielende Kind versetze die „Dinge seiner Welt in eine neue, ihm gefällige Ordnung“, ist das nicht weit entfernt. Was allerdings bei Freud noch kaum mehr als eine spekulative These ist, wird hier auf der Basis reichhaltiger empirischer Beobachtungen aufgezeigt: Das Erzählen ist eine weiterentwickelte Form frühkindlichen Spielens. Das Bindeglied zwischen Spielen und Erzählen bildet die Inszenierung von Rollenspielen. Sind die ersten kindlichen Erzählungen noch eingebettet in Dialoge mit erwachsenen Partnern, so entwickeln sie sich später im Spiel mit leblosen Figuren erheblich weiter. Im Gegensatz zu einem lebendigen Mitspieler bleibt die leblose Figur stumm, die Antworten müssen ihr vom Kind eigenständig in den Mund gelegt werden. Hier wird im Kind eine erzählende Haltung herausgefordert. Ohne Hilfe von Mitspielern nähert es sich, gleichsam als Regisseur und Darsteller zugleich, der Stellung eines Erzählers an, der frei über seine Figuren und Handlungen verfügt. Kindliche Rollenspiele lassen sich so als in Szene gesetztes Erzählen verstehen, das Erzählen wiederum als versprachlichtes Rollenspiel. Wie auch bei anderen Spielen durch vorgegebene Regeln oder neue Vereinbarungen der Ort und die Mitspieler festgelegt werden, so benennen Erzähler zu Beginn in der Regel Ort, Zeit und Figuren des erzählten Geschehens. Dieses ist von der gegenwärtigen Situation des Erzählenden und seiner Zuhörer ähnlich abgegrenzt wie, nach Huizingas Definition, jedes Spiel vom alltäglichen Leben.
Beim mündlichen Erzählen ist die Nähe zu Rollenspielen noch weit deutlicher erkennbar als beim schriftlichen. Was Merkel hierzu mit der ihm eigenen Klarheit und Anschaulichkeit über die Bedeutung der Gestik ausführt, macht den auf schriftliche Texte fixierten Literaturwissenschaftlern die Nähe des Erzählens zum Spiel einmal mehr bewusst. Das Buch enthält darüber hinaus viele erhellende Beobachtungen und Einsichten über die Verwendung und Funktion bestimmter Handlungsmuster, über erzählte Nacht- oder Tagträume oder über die Affinitäten von Erzählung und Film. Weil dabei das den Literaturwissenschaftlern oft schon Vertraute in Beziehung zu spielerischen Aktivitäten gesetzt wird, können sie dem Buch eine Fülle von Anregungen entnehmen, wenn sie Literaturtheorie als Spieltheorie konzipieren.
Die Versuche dazu sind fast so alt wie die Literatur selbst, und sie haben die Theorie gelegentlich eher verdunkelt als geklärt. Was der Begriff des Spiels für die Literaturtheorie zu leisten vermag, scheint jedoch noch längst nicht ausgeschöpft zu sein.
Der Beitrag basiert zum Teil auf dem umfassenderen Kapitel „Literatur als Spiel“ (S. 33-76) in Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 1998.
|
||||||