Heilig werden, dreimal heilig
Bob Dylan zum 60. Geburtstag
Von Lutz Hagestedt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBob Dylan, der am 24. Mai sechzig Jahre alt wurde, ist vermutlich der kreativste Songschreiber seiner Generation, und seine "lyrics", seine Songtexte, umfassen in der erweiterten - jedoch keineswegs vollständigen - Edition von 1985 mehr als zwölfhundert Seiten, darunter auch einige Langgedichte und Begleit- oder Covertexte ("liner notes"), die niemals als Song realisiert worden sind.
Seit 1963 begleitet dieser bedeutende Liedermacher, Sänger, Komponist und Poet Generationen von Heranwachsenden und Erwachsenen, er ist ein Faszinosum, ein Mystagoge, ein Legendenbildner seiner selbst, der eine Fülle von Nachahmern und Interpreten gefunden hat.
Wer heute eine Dylan-Biographie schreiben möchte, steht vor dem besonderen Problem, dass der amerikanische Megastar seine Lebensgeschichte immer wieder neu erfunden und mystifiziert hat und wahrscheinlich selber nicht immer und nicht mehr ganz zwischen Wahrheit und Verklärung zu unterscheiden weiß. Der in Hamburg lebende Journalist und Literaturwissenschaftler Willi Winkler hat für jedes Darstellungsproblem, das sich daraus ergibt, eine recht überzeugende Lösung gefunden: er interpretiert Dylans Neigung zur Legendenbildung als Moment einer "selffulfilling prophecy", die innerhalb und außerhalb der erzählten Biographie Realität stiftet.
Winkler vergleicht Dylan mit Jesus, aber er verfasst keine Hagiographie. Er erzählt "apokryphe Geschichten", schildert den als Robert Zimmerman geborenen jüdisch-amerikanischen Barden als gut aussehenden, vielleicht sogar "engelhaften Knaben", als "Erzengel" gar, dem womöglich die "ewige Verdammnis" drohe. Winklers Antrieb ist es nicht, neue Fakten zu Dylan aufzubereiten. Seine Kunst ist vielmehr eine Kunst der Darstellung, insofern er Topoi der Dylan-Forschung neu arrangiert und dem Meister (und uns) einen ironischen Vexierspiegel vorhält. Winklers Buch ist durchwirkt mit versteckten und offenbaren Zitaten, man merkt ihm an, dass sein Verfasser hier das Ergebnis einer langen Beschäftigung mit Dylan präsentiert, dass er Dylan nicht auf den Leim geht wie andere Dylan-Exegeten, sondern dass er gewillt ist, mit dem mythischen Material um Dylans Erscheinung produktiv umzugehen. Ein lesenswertes, geglücktes Buch.
Robert Sheltons Buch "No Direction Home. The Life and Music of Bob Dylan" ist mittlerweile ein Klassiker der Dylan-Forschung. Der Materialreichtum des Buchs verdankt sich unter anderem der Tatsache, dass Shelton über die Jahre offenbar einen guten persönlichen Draht zu Dylan hatte und ihm manches zu entlocken wusste. Shelton verdanken wir zahllose Hinweise auf Dylans Lyrik, auf literarische, politische, weltanschauliche Einflüsse, die wie eine zweite Spur die Texte und die Musik begleiten.
Aber handelt es sich bei Dylans Songs überhaupt um Lyrik, um Poesie, um Dichtung in einem emphatischen Sinne? Ist sie nicht nur sangbar, sondern auch interpretierbar und interpretationsbedürftig? Kann sie dem kritischen Urteil standhalten, wenn wir uns die Musik wegdenken? Dylans Anhänger glauben schon, und wenn Michelle Pfeiffer in "Dangerous Minds" vor einer Schulklasse Dylans Songtexte interpretiert, dann entspricht dies durchaus ihrem Common Sense. Dylans Lyrics erinnern die Amerikaner daran, was Poesie ursprünglich war: Gesang. Melodie und Rhythmus, Reim und Versmaß, Epos, Folklore, Litanei, Mythos. Ihr Interpret war Barde, Schamane, Seher, Troubadour, war Reisender in Sachen Liebe und Moral.
Es gibt jedoch nicht nur die Stimme der Fans, und die Ästhetik dieser "Rock Poetry" wurde bereits Mitte der 60er Jahre von einflussreichen Kritikern wie John Ciardi ("Saturday Review") thematisiert. "The Poet Returns" schrieb die Zeitschrift "Rolling Stone" bei Dylans Comeback 1974, und schon damals galt er als der "amerikanische Brecht" oder Jewtuschenko. Einige seiner frühen Stücke nannte Dylan "Talkings", und so trug er sie auch vor, als minimalistischen Sprechgesang, als Moritat oder Leitartikel, mit einer äußerst reduzierten Gestik, Mimik und Motorik, als wollte er sich distanzieren von den raumgreifenden Bühnenshows seiner Kollegen.
Nicht ohne Gewinn lässt sich auch die akademische Dylan-Forschung lesen, die neben überzeugenden Befunden freilich auch viel Assoziatives erbracht hat. Das Überzeugende betrifft die Dichtungstradition, in der Dylan sich bewegt: allein sein formales Repertoire - Reim und Strophe, Versmaß, Rhythmus und Rhetorik, Topik, Perspektive usw. - ist überreich und verdiente eine eigene Darstellung. Seine Dichtung tendiert zur erzählenden Dichtung, zur Ballade, und führt nicht selten die Gattung auch im Titel ("Ballad Of A Thin Man", "Ballad Of Hollis Brown"); sie tendiert zum Dialog (wie der Beginn von "Highway 61 Revisited"), oft auch zum Katalog von Ge- und Verboten. Altes und Neues Testament dürften seine wichtigsten, auf jeden Fall aber häufigsten Quellen sein, geschickt nutzt Dylan ihre Mythen als kulturelles Wissen, um damit zeitgenössische Geschichten zu erzählen. "All Along the Watchtower" (1968) beispielsweise geht unter anderem auf Kapitel 21 des Buchs "Jesaja" zurück. Die religiöse Metaphorik der frühen Texte ist in keinem Sinne orthodox, sondern arbeitet provokant mit christlichen Symbolen. Es ist ein poetisch-politisches Vexierspiel mit tradierten Glaubensinhalten.
Kunst entsteht immer auch aus Kunst. Eine Fülle von Einflüssen ist auf Dylans Lyrik nachgewiesen worden, durch wörtliche Übernahmen, Anspielungen, Referenztexte in Form von Parodien und Palimpsesten. So parodiert "Bob Dylans 115th Dream" (1965) Herman Melvilles "Moby Dick" - und das ist dann Amerika pur. "A Hard Rain`s A-Gonna Fall" (1963) geht auf Walt Whitman und dessen "Salute au Monde" zurück; auf Kafka-Lektüre deutet "Love Minus Zero/No Limit" (1965), auf Dantes "Inferno" der 1974 entstandene Song "Tangled Up In Blue"; für "Mr. Tambourine Man" ist unter anderem der Einfluss von Rimbauds "Bâteau Ivre" nachgewiesen, eine andere gesicherte Quelle ist Verlaines "Clair de Lune". Auch "Visions of Johanna" (1966) referiert noch auf Verlaine (auf "La Bonne Chanson"), die andere Inspiration kam von T. S. Eliots "Lovesong of J. Alfred Prufrock". Eliot ist neben dem bei uns unbekannten jüdischen Entertainer Lenny Bruce der vielleicht wichtigste Taktgeber der sechziger Jahre. Direkte Eliot-Zitate finden sich in Klassikern wie "All Along the Watchtower" (1968) und "Desolation Row" (1965). Nach dem Cut-up-Verfahren eines William S. Burroughs und der Écriture automatique der Surrealisten komponierte er sein Buch "Tarantula" (1971), ein "Roman" ohne - pardon - Handlung, ein Groß-Poem, das unter anderem vom Zweiten Weltkrieg, dem McCarthyism in den frühen 50er Jahren und von der schwarzen Bürgerrechtsbewegung erzählt. Eine kaum zu bändigende Collage oder Montage mit monströsen Bildern und Vergleichen, Verfremdungs- und Schockeffekten und grellen Überzeichnungen, wie unter Drogeneinfluss geschrieben.
Dylans Dichtung verdichtet. Susanne Koheil konnte in ihrer Dissertation (1995) überzeugend belegen, dass "Motorpsycho Nightmare" (1964 auf dem Album "Another Side of Bob Dylan" veröffentlicht) nicht nur explizit auf Alfred Hitchcocks Thriller "Psycho" (1960) zurückgreift, sondern ironisch zugleich das Genre des Westerns und seine typische Ereignisstruktur bedient. Mit sehr viel Sinn für Komik setzt Dylan hier seine Mittel ein. Vermutlich sind seine Texte immer mehrfach kodiert, auch die Namen, Wörter, Begriffe. Sie verknüpfen dann den metaphysischen mit dem irdischen Raum ("Hölle auf Erden"), die Religion mit der Bürgerrechtsbewegung ("Luther" für Martin Luther und Martin Luther King), die Erzählformen der Ballade und des Films mit dem Rollenspiel der Pop-Kultur. Das filmische Erzählen in "Black Diamond Bay" (1975) etwa spielt auf Joseph Conrads Roman "An Island Tale" an und evoziert die "Sprache" des Film noir.
Kein Wunder, dass Dylan als Epigone von Jack Kerouac, als "Bastard" von Chaplin, Céline und Hart Crane bezeichnet wurde, und ein frühes "Epitaph", das partiell auf T. S. Eliot ("Sweeney Agonistes") zurückgeführt wird, bekennt sich zum Plagiat: "Ja, ich stehle Gedanken" ("ein Wort, eine Melodie, eine Story"), jedoch um "sie recht zu verwenden / sie neu zu formen, mit neuen Harmonien".
"Einflüsse?" fragte er, "Hunderttausende / vielleicht Millionen". Und Einflussnahmen? Auch, zur Genüge. So unterschiedliche Autoren wie Peter Handke und Peter Härtling, Wolf Wondratschek und Rolf-Dieter Brinkmann, Ulf Miehe, Reinhard Lettau und Chlodwig Poth haben sich zu Dylan bekannt. Auch dies wäre einmal darzustellen - der Impuls, der von diesem so unerhört produktiven Lyriker an die deutsche Literatur weitergegeben worden ist.
Günter Amendt interpretiert in seinem Buch "Back to the Sixties. Bob Dylan zum Sechzigsten" den Blues als Anfang und Ende des Songwriters und Entertainers Bob Dylan. Leider verweigert er sich allem akademischen oder philologischen Zugang zu Dylans Werk und stellt auch die Forschungsergebnisse, die seit den sechziger Jahren auf diesem Terrain erzielt worden sind, radikal infrage. Amendt ist quasi auf dem Stand der 60er Jahre stehen geblieben.
Einen Schwerpunkt auf Interpretation legt Paul Williams mit seiner Dylan-Trilogie, von der zwei Bände ("Like a Rolling Stone. Die Musik von Bob Dylan 1960 - 1973" und "Forever Young. Die Musik von Bob Dylan 1974 - 1986") auch ins Deutsche übertragen worden sind. Williams interpretiert Dylan vor allem als "performing artist", untersucht also Varianten, Nuancierungen, Gewichtungen in Dylans Vortragskunst, ein fruchtbarer Aspekt, zumal Dylan zeit seines Lebens auf einer "Never Ending Tour" unterwegs ist und kaum jemals einen Song in gleicher Bühnenform realisiert.
Die Selbstauskünfte, die Dylan gibt, sind mit Vorsicht zu genießen, aber selbst dort, wo Dylan seine Gesprächspartner gezielt dupiert, gibt er Einblick in seine Person. Insofern ist sehr zu begrüßen, dass der Palmyra Verlag eine erweiterte Buchausgabe von "Bob Dylan in eigenen Worten" vorgelegt hat.
All diese Bücher helfen dabei, einen ganz eigenen, faszinierenden Kosmos zu erschließen - den Kosmos Pop Dylans.
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