Franz-Josef Murau hat einen Scherz gemacht

Ernst-Wilhelm Händler ist immun gegen die Bernhard-Epidemie

Von Saskia SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Saskia Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Das einzige, das ich schon endgültig im Kopf habe, hatte ich zu Gambetti gesagt, ist der Titel Auslöschung, denn mein Bericht ist nur dazu da, das in ihm Beschriebene auszulöschen, alles auszulöschen, das ich unter Wolfsegg verstehe, und alles, das Wolfsegg ist, alles, Gambetti, verstehen Sie mich, wirklich und tatsächlich alles. Nach diesem Bericht muß alles, das Wolfsegg ist, ausgelöscht sein. Mein Bericht ist nichts anderes als eine Auslöschung, hatte ich zu Gambetti gesagt. Mein Bericht löscht Wolfsegg ganz einfach aus."

Die "Auslöschung" (1986) ist das zuletzt publizierte große Werk des gerühmten und gehassten Autors Thomas Bernhard. Sein Erzähler Franz-Josef Murau treibt hier die "Übertreibungskunst" auf die Spitze, seine Sprache ist Ausdruck seiner Zerstörungswut. Murau wohnt in Rom, wo er mit seinem Schüler Gambetti Gespräche führt über Philosophie, Literatur, Sprache - und über seine Vergangenheit in Wolfsegg, dem Gut seiner konservativen Familie in Österreich. Nach dem Tode seiner Eltern und des Bruders fällt ihm die Verwaltung des Erbes zu. Doch er will alles auslöschen, was Wolfsegg bedeutet, indem er es aufzeichnet.

Der zeitgenössische Autor Ernst-Wilhelm Händler greift in seinem zweiten Roman "Fall" (1997) Elemente aus Bernhards "Auslöschung" auf - allerdings ohne sich zum Epigonen zu machen. Imitationen von Bernhards Sprachgestus, wie sie etwa der humorige Autor Jörg Uwe Sauer verwendet, sind nicht Händlers Sache. Ihm mangelt es nicht an eigener Schöpferkraft, und er geht souverän mit der Vorlage um, die er bewusst für seinen "Fall" einsetzt. Der Roman erzählt vorrangig eine völlig eigenständige Geschichte: Der Ich-Erzähler Georg Voigtländer übernimmt nach dem Tode seines Vaters dessen Position im Familienbetrieb. Die Streitereien um Zuständigkeiten und Kompetenzfragen nehmen ihren Lauf - und führen letztendlich zum Fall Voigtländers. Doch lebt dieser nicht nur in der "corporate world" der Wirtschaft, sondern erschafft sich eine zweite Welt: Er fantasiert, er sei "als fünftes von sechs Kindern des gegenwärtigen Pächters auf dem sich seit Jahrhunderten im Besitz der Muraus befindenden [...] Reitbauerngütl geboren". Die "Gnädige" (Muraus Mutter) und der "italienische Priester" (ihr Geliebter Spadolini) verbringen dort des Öfteren Zeit miteinander. Der Pächtersjunge, als der sich Voigtländer sieht, schreibt aus Dankbarkeit Briefe an die Gnädige. Und er trifft ihren Sohn Murau in Rom. Doch während bei Bernhard die Geistesstadt die Gegenwelt zum primitiven Österreich darstellt, ist das Rom, in das sich Voigtländer flüchtet, als ein fiktiver literarischer Raum gekennzeichnet. Denn zu Murau und Gambetti aus der "Auslöschung" gesellt sich das Ehepaar aus Gert Hofmanns Roman "Auf dem Turm", wobei der Ehemann gleichzeitig auch als der "Schriftsteller" (Hofmann selbst) dargestellt ist. Die Ehefrau heißt Maria, wie die von Murau verehrte Dichterin in "Auslöschung" - und in "Fall" behauptet sie, Murau habe sie geschwängert.

Sowohl die Realität als auch die literarische Fantasiewelt der Figur Voigtländer sind Fiktion für den Leser von Händlers "Fall". Durch das Einfügen und Erweitern des Referenztextes entsteht also eine Fiktion zweiter Ordnung. Doch das genügt dem Autor nicht, der die Literatur als Versuchslabor sieht und seinen Roman "Fall" als Reagenzglas, in dem er Textelemente neu zusammenführt. Doch es wird nicht nur gerührt, es wird auch geschüttelt: Murau sucht einen neuen Erben für Wolfsegg mittels des "Todesversteckspiels" aus Paul Wührs Roman "Das falsche Buch" (1983). Die Figuren, die das Rom Voigtländers bevölkerten, nehmen daran teil - tot oder lebendig. In der literarischen Welt ist das ja möglich.

Ernst-Wilhelm Händler besitzt die Dreistigkeit und die Größe zugleich, das Abgeschlossenste aller beendeten Bücher - weil das "ausgelöschte" Buch - seiner Endgültigkeit zu berauben. Bei Bernhard gab Murau sein Erbe weiter: "und Eisenberg hat mein Geschenk im Namen der Israelischen Kultusgemeinde angenommen", heißt es im vorletzten Satz. (Im letzten ist er schon verstorben.) In "Fall" jedoch berichtet Voigtländer aus seinen Gesprächen mit Murau: "Er werde Wolfsegg nicht der Israelischen Kultusgemeinde vermachen. Er sei, als er die letzten Sätze seiner Aufzeichnungen geschrieben habe, in so heiterer Stimmung gewesen, wie seit Jahren nicht mehr [...] Da sei es über ihn gekommen, daß er sich einen Scherz erlauben wollte." Einen Scherz! Hier wird deutlich, wie gewitzt der Zweittext mit seinem Ausgangsmaterial umgeht. Und geradezu irrwitzig wird es, wenn die literarische Figur Voigtländer an die für ihn fiktive Figur der "Gnädigen" schreibt, und in seinen Briefen die Aufzeichnungen ihres Sohnes erwähnt - die "Auslöschung", in der die Gnädige doch überhaupt erst existiert. Die literarische Figur Voigtländer versetzt sich in die räumlich-zeitliche Welt der "Auslöschung". Doch in eben dieser schreibt Murau erst den Text, in dem er existiert - er wäre also seine eigene Fiktion? In Wirklichkeit hat Bernhard Muraus Auslöschung geschaffen. Dies scheint die Figur Voigtländer zu ignorieren, ist aber seinem Erfinder Händler bewusst.

Und Ernst-Wilhelm Händler weiß, was er schreibt. "Das Neue ist doch nur das später Gesagte. Das später Gesagte hängt vom früher Gesagten ab, nicht von uns", heißt es, und weiter: "Wir erzählen nach, und wenn nicht einen Text, dann eben das Leben, wenn nicht das Leben, dann eben die Wirklichkeit, auch wenn es die, wie wir alle wissen, nicht gibt." Händler lässt seinen Erzähler reflektieren über die Transformationen in "Fall". Und der Roman wiederum ist ein Fallbeispiel dafür, wie aller Text funktioniert: als Intertext im weiteren Sinne, der mit den Zeichen der Wirklichkeit korrespondiert, und als Intertext im engeren Sinne, der als Literatur auf andere Literatur referiert. Bezüge kann es geben zu fremden wie zu eigenen Texten, und auch dies findet sich im Werk Händlers. Eine der Erzählungen aus dem 1995 erschienenen Band "Stadt mit Häusern" kann als eine Art "Ouvertüre" zu "Fall" gelesen werden: "Am Sengsengebirge, am Toten Gebirge" erzählt von der Schwester des Pächterssohns, den sich Georg Voigtländer vorstellt. Die Verhältnisse der Pächtersfamilie sind schon in diesem Text angelegt (und werden in "Fall" dann nur kurz erwähnt). Es wird von der "Gnädigen" erzählt, die im Hause einige Räume bewohnt, wenn der "italienische Priester" sie besucht. Ein Idiot streunt durch die unwirtliche Gegend. Auch die Tochter der Pächtersfamilie fantasiert: Während sie die Stiegen putzen muss, erfindet sie sich eine romantische Liebesgeschichte, die in einem Gewaltausbruch endet - wie das so ist in einer Bernhard'schen, Träume zertrümmernden Welt.

Zertrümmert scheint auch die Absolutheit der Auslöschung, dadurch, dass Händler sie erweitert und ihr Ende zum Scherz degradiert. Doch schadet es der Abgeschlossenheit des ursprünglichen Textes eigentlich nicht, wie Händler ihn umwandelt. In ihm, einem 'schreibenden Leser' sind Prozesse in Gang gesetzt worden. Die Transformationen sind Ausdruck dessen, was Text möglich macht im Text. Die Dynamik, mit der hier schöpferisch 'nachgeschaffen' wird, könnte Thomas Bernhard dazu bringen, sich im Grabe herumzudrehen. Was er aber sicher ohnehin ständig tut. Und man kann sich wunderbar vorstellen, wie der Verwesende immer wieder neu Schwung holt, wenn Schreiberlinge seinen Stil nachahmen, Geistesarme seine Motive stehlen, und Germanistikstudentinnen etwas "hinein-interpretieren". Vielleicht aber hält er einmal kurz inne - und lacht ein Leichen zerfledderndes Lachen über Muraus "Scherz" bei Ernst-Wilhelm Händler.

Titelbild

Paul Wühr: Das falsche Buch.
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1985.
722 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 3596259444

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Titelbild

Gert Hofmann: Auf dem Turm. Roman.
dtv Verlag, München 1993.
224 Seiten, 6,10 EUR.
ISBN-10: 342311763X

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Titelbild

Ernst-Wilhelm Händler: Stadt mit Häusern.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 1995.
264 Seiten, 19,40 EUR.
ISBN-10: 3627000331

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Thomas Bernhard: Auslöschung. Ein Zerfall.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1996.
652 Seiten, 15,20 EUR.
ISBN-10: 3518390589

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Titelbild

Ernst-Wilhelm Händler: Fall. Roman.
dtv Verlag, München 2000.
416 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-10: 3423127317

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