Wo steckt das Genie im Totenschädel?

Albrecht Schönes Essay "Schillers Schädel"

Von Thorsten SchulteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Schulte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 8. Mai 1805 starb Friedrich von Schiller und wurde - dem Wunsch der Witwe nach bürgerlich-karger Zurückhaltung entsprechend - zwei Tage nach seinem Tod ohne jegliches Zeremoniell in die Gruft des sogenannten Weimarer Kassengewölbes zu den dort schon Bestatteten herabgelassen. Nach dieser beschämenden nächtlichen Verscharrung des Dichters sollten die Gebeine Schillers noch lange keine Ruhe finden. 1826 sollte Schillers Sarg aus dem Gewölbe in ein eigenes Grab gebracht werden, doch waren die übereinander gestapelten Särge in der feuchten, unterirdischen Gruft geborsten. Man fand im Durcheinander der verwesten Körper 23 Schädel. Der Weimarer Bürgermeister betrachtete die leiblichen Überreste und entschied, die Schädel mit einer Büste Schillers vergleichend, welches Haupt das des Dichters gewesen sei. Monatelang wurde zwischen den Skeletten in der Gruft nach den weiteren Knochen Schillers gesucht, ein unerfreulicher Skandal, der sich schnell verbreitete.

Der Tod ist für uns der Verfall des Körpers, dem möglicherweise durch künstliches Einwirken - beispielsweise Verbrennen - nachgeholfen wird, um diesen Prozess schnell zu seinem "guten Ende" zu führen; ein "gutes Ende", das aus dem vollständigen Verschwinden des Körpers besteht. Diese Erkenntnis ist tief in unserem kulturellen Bewusstsein verankert. Sie ist, je nach Bekenntnis, in verschiedener Form kulturell formuliert, in ein Konzept gefasst und zu einer Erklärung von Tod und Verheißung elaboriert: Was aus Staub geschaffen wurde, muss zu Staub werden. Die Weimarer Kirchenvertreter verglichen daher die Verehrung des blanken Schädels mit heidnischen Bestattungsritualen - nicht ohne Grund, wie Albrecht Schöne, emeritierter Professor der Deutschen Philologie an der Universität Göttingen, in seinem Essay "Schillers Schädel" schreibt. Die Inszenierung einer ,Schädelzeremonie' in der Weimarer Bibliothek, dem "Tempel der Kunst und Wissenschaft", wo das Haupt verbleiben sollte, "liefert ein Paradebeispiel für die ,Kunstreligion' des 19. Jahrhunderts gerade dadurch, dass sie handfeste Anleihen bei der Heiligenverehrung und dem Reliquienkult der Kirche macht und sie ins Weltliche kehrt".

Johann Wolfgang von Goethe wollte nicht, dass der Schädel seines Freundes zur Schau gestellt würde. Am 24. September 1826 wurde der Schädel Schillers nach Anordnung des Staatsministers Goethe aus der Großherzoglichen Bibliothek in sein Haus am Frauenplan getragen, wo man ihn fachgerecht präparierte. Goethe bettete ihn auf ein blaues Samtkisten unter einer Glasglocke - nicht als Kunstreliquie, sondern als osteologisches Studienobjekt. Die Wurzeln für Goethes Interesse an der Knochenkunde liegen in seinen Straßburger Studienzeiten. Bereits während seines Jurastudiums hatte er Anatomievorlesungen belegt. 1805 besuchte Goethe Vorträge des Mediziners Franz Joseph Gall (1758-1828), der bestimmten Partien des menschlichen Hirns besondere Eigenschaften zuordnete. Gall, selbst - nach Schöne - "eifriger Schädelsammler", entdeckte die graue Hirnrinde als Sitz der Geistestätigkeit. Der pantheistischen Weltsicht Spinozas (1632-1677) folgend, der betonte, die Natur sei aus sich selbst bewegt, denn Gott sei Natur, versuchte Goethe - wie Schöne eindrucksvoll belegt - das Schillersche Genie anhand dessen Kopfes zu erkennen: "Das Daseyn ist Gott", so Goethe. Und die Betrachtung der Wölbungen des Schädels bewirkte bei Goethe einen "unerhörten Produktionsschub", aus dem "das letzte der großen naturphilosophischen Altersgedichte Goethes" hervorging: das titellose Beinhaus-Gedicht, in dem Goethe seinen beobachtenden, von einer konkreten Situation ausgehenden Erkenntnisweg propagiert. Erst die Anschauung der Schädel im Beinhaus führt zur Kritik des lyrischen Ichs an der Ausgrabung der Gebeine Schillers, zu moralisch-weltanschaulichen Folgerungen und letztlich zum Bekenntnis des Betrachters, im "ernsten Beinhaus" das Göttliche zu finden.

Albrecht Schöne hat mit der Rekonstruktion und Deutung der Exhumierung von Schillers Schädel aus einem Massengrab, der seltsamen Erhebung zur Reliquie und deren Betrachtung durch Goethe ein klares, scharfzüngiges und nicht zuletzt leicht lesbares und spannendes Kabinettstück literarischer Archäologie vorgelegt. Die Untersuchung der Knochenkunde des frühen 19. Jahrhunderts und ihrer Wirkung auf Weimar und Goethe führen zur ausführlichen Interpretation des 34-zeiligen Gedichts, das Goethe sechs Jahre vor seinem Tod verfasste. Eine kriminalistisch-unterhaltsame Untersuchung, die es wert ist, gelesen zu werden - die letzte Umbettung von Schillers Schädel.

Titelbild

Albrecht Schöne: Schillers Schädel.
Verlag C.H.Beck, München 2002.
110 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-10: 3406486894

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch