Verdrängter Luftkrieg ?

Drei Gegenbeispiele von Hans Erich Nossack, Gerd Ledig und Alexander Kluge

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vom Schriftsteller W. G. Sebald stammt eine viel beachtete These: Die deutsche Literatur weise an entscheidender Stelle eine "Leerstelle" aus. Nichts fände sich zu einer der zentralen traumatischen Kollektiverfahrungen der Deutschen, zu den verheerenden Luftangriffen auf deutsche Städte im Zweiten Weltkrieg. Der These haftet etwas Vorwurfsvolles an: Hätte etwa die Literatur hier eine Bringschuld versäumt? Ein Grund hierfür, auf den Sebald verwies, lag nahe: Von den Leiden der Leute sei schwer zu sprechen angesichts der Leiden, die man selber anderen, insbesondere den Juden zugefügt habe. So habe sich ein moralisch begründetes Schweigegebot über das Thema gelegt.

Später, so ergänzten andere die Ausgangsthese, sei dieses Schweigegebot zum Ausdruck politischer Correctness geworden. Von links habe man sämtliche deutschen Leidenserfahrungen, seien es die der Ostflüchtlinge und Vertriebenen, der deutschen Kriegsgefangenen oder auch der Zivilbevölkerung unter den marodierenden Befreiungstruppen unter den Kollektivverdacht revisionistischer Geschichtsklitterung gestellt. Von rechts wiederum wurde - wie zur Bestätigung dieses Verdachts - der Hinweis auf deutsche Leiden zur propagandistischen Allzweckwaffe. So unsinnig es auch ist, das Unrecht der Einen mit dem Unrecht der Anderen aufzuwiegen - im politisch-gesellschaftlichen Leben konnten sich derartige Wahrnehmungsmuster als kollektive Identitätskrücken (leider) bis hin zur Verleugnung historischer Geschehnisse steigern. Erst langsam, nachdem die Rechts-Links-Klischees im Gefolge des Untergangs der realsozialistischen Welt obsolet geworden sind, tastet sich eine neue Generation unvoreingenommener an die dunklen Stellen der eigenen Geschichte.

Indes der Literatur das Versäumnis einer Bringschuld vorzuhalten mutet einigermaßen verfehlt an. Ein Urteil aus der Positon des zeitfernen Besserwissers ist immer ungerecht. Es ist nicht nur der Gestus des ,Nun-schreib-mal!', hinter dem sich das Verständnis einer gesellschaftlichen Auftragsliteraur versteckt, es ist auch die Ignoranz gegenüber dem tatsächlich Vorliegenden und - sofern es denn ungeschrieben blieb - gegenüber den ursächlichen Motiven und Möglichkeiten der Schriftsteller. Zu Recht wurde deshalb auch vereinzelt daran erinnert, dass das Grauen der Luftkriege, die Überlebenden, sprachlos gemacht habe. So schrieb der in seinen Romanen erinnernde Rückschau haltende Dieter Forte im Spiegel: "Es gibt ein Grauen jenseits der Sprache, ein unaussprechliches Entsetzen ... das ist nicht mehr zu artikulieren." Schweigen über das Entsetzliche wird zur Voraussetzung späterer Erinnerung.

Und dennoch, so mag man einwenden, habe sich die Literatur gerade an das Unaussprechliche zu wagen - dabei das Risiko grandiosen Scheiterns durchaus einkalkulierend. Und rechtfertigend wird akribisch aufgelistet, wer was über den Luftkrieg wie geschrieben hat. Zählbar wird, was die einen viel und die anderen wenig nennen.

Es ist vor diesem Hintergrund auf drei Texte zu verweisen, die in Entstehung und Rezeption exemplarisch deutlich machen, in welcher besonderen Weise das Trauma des Luftkriegses in der bundesrepublikanischen Literatur eben doch verarbeitet wurde - freilich so, dass es letztlich als Thema verschwand, den Spätgeborenen als Leerstelle vorkommend.

1. Hans Erich Nossacks stiller Text "Der Untergang" ist das Gegenteil des Infernos, dem er sich verdankt. Dem ,Genre' Luftkriegsliteratur konnte der als Ausnahme von der Sebald'schen Regel angesehene Text nicht zum Durchbruch verhelfen. Weder verstand der Autor seinen Text als originäre Schilderung des Schreckens und Entsetzens, noch lasen ihn die Zeitgenossen so. Entstanden ist der Text wenige Wochen nach den verheerenden Luftangriffen auf Hamburg im Sommer 1943. Fürchterlich gebannt von der Katastrophe beginnt der Schriftsteller den tastenden Versuch einer existentiellen Vergewisserung. Was bleibt dem Menschen angesichts dieses jedes menschliche Erfahrungswissen übersteigenden Ereignisses? Zugleich ist da eine Anforderung: Etwas muss gesagt werden zu diesem Geschehen, das die Vernunft "niemals als Wirklichkeit begreifen" und das als "böser Traum allmählich verwischen wird". Wie aber etwas beschreiben, das als Wirklichkeit nicht mehr zu begreifen ist? Die von Forte diagnostizierte Sprachlosigkeit beginnt unmittelbar und mit der besten aller denkbaren Begründungen: Es gibt nichts mehr zu beschreiben. Totalverlust!

Doch schon im Moment der Stille nach der Katastrophe entsteht eine neue Erfahrung: Auf nichts als auf sein Leben zurückgeworfen erahnt der Schriftsteller seine existentielle Einsamkeit als Neuanfang. Ihr spürt er mit seinen literarischen Mitteln nach. Wenn aber das Ereignis nur der Auslöser für ein inneres existentielles Erlebnis ist, so müssen die literarischen Formen dem angemessen sein. Infolgedessen verzichtet Nossack auf die Schilderung der konkreten Apokalypse. Realistische Impressionen sind schon im Moment ihrer Wahrnehmung so exklusiv, dass sie als Allegorie zu verstehen sind - so etwa, wenn der Autor auf dem Weg in die Trümmerstadt an einem brennenden Koksberg vorbei muss: Durchs Höllentor tritt der Wanderer hinein in die glühende Hölle. Wie man zu Tode kam in diesem Inferno, schildert Nossack gleichsam bescheiden, ohne ,Effekt'. Erst im stillen Nachklang des Gelesenen wird klar, was tatsächlich geschehen ist: Dass Menschen im bombensicheren Keller zugrunde gingen, weil sie in der allgegenwärtigen Hitze verglühten. So tastet sich der Text schließlich in die Nähe jener Gegenden vor, in denen auch Kasacks "Stadt hinter dem Strom" liegt. Hier, in einer unwirklich wüsten Trümmerlandschaft erklingt ein leise-mahnendes "Besinnt euch! Kehret um!" In der Düsternis leuchtet den Geschundenen ein fernes Licht. Doch in die Reihe der abgehobenen, in vager Abstraktion und Transzendenz metaphysische Tröstungen anbietender Texte zeitgenössischer Kollegen reiht Nossack sich am Ende doch nicht ein. Zur Wirklichkeit verpflichtet ihn die zögernd gestellte Frage nach dem "hätte": Hätte etwas anderes geschehen können? Die Frage zielt auf eine kritische Selbstvergewisserung. Es ist nicht nur die verzweifelte Frage, die sich der Ausgebombte stellt, als er erfährt, dass dieses, sein Haus hätte gerettet werden können ... Es ist auch die grundsätzlichere Frage nach Schuld und Verantwortung: Was hätte verhindert werden müssen? Auch und gerade von ihm, der zu wissen glaubte, was unter der Naziherrschaft zu erwarten war. War am Ende die Katastrophe sogar verdient? Die Antwort bleibt offen, die Frage aber ist gestellt, vor ihr gibt es kein Entrinnen. Wer aber wollte sich so prüfen in den frühen Jahren der Republik? Jene Geschundenen, mit denen Nossack im Moment der Stille eine gleiche Erfahrung teilt, und deren Gesichter in der staubig-heißen Trümmerlandschaft ihn gemahnen an das Ecce-Homo-Antlitz, sind doch die, deren Gesichter wenige Monate vorher glühten vor Begeisterung. Die hatten ihn schon vor der Katastrophe nicht verstanden und würden es jetzt auch nicht können. Vor ihnen flüchtete Nossack in seinen elitär-einzelgängerischen Existentialismus. Und überließ so seinen Text einer zeitgenössischen Würdigung, die ihn las als sensibel vorgetragene Trauer über den Untergang einer geliebten Stadt. Das war nicht falsch, es war nur nicht alles. Alle Nachfolgenden aber konnten gewarnt sein: Hütet euch vor wahrhaftigem Realismus!

2. Und da erschien dieses ungeheuer wahrhaftig grausame Buch, Gerd Ledigs "Vergeltung". Das 1956 erstveröffentlichte Buch war ein kühner Versuch dem Unaussprechlichen eine sprachliche Form zu geben. Doch der Mut Ledigs blieb unbelohnt. Das Buch wurde heftig abgelehnt, schweres Schweigen legte sich auf Buch und Thema und lastete. Erst nach Sebalds Monetum wurde das Buch 1999 wieder vorgelegt.

Ein apokalyptischer Totentanz, jede Figur zum Tode verdammt. Amerikanischer Bombenangriff auf eine deutsche Stadt. Ein Todesreigen, der hoch oben am Himmel über den Wolken beginnt, in der Flugzeugkanzel, wo der Tod blutvoll und grausam erste Ernte hält. Auf dem Hochbunker zerstäuben die jungen Kanoniere in blutige Einzelteile; auf der Straße "grillen" die Passanten in kochendem Asphalt; im Keller sterben die Verschütteten (ungeheuer: verschüttet, der Mann und das Mädchen aufeinanderliegend, er vergewaltigt sie; müde, trostlos, nass... )

Alles passiert im Zeitraum von 70 Minuten, Beginn 13.51, Ende 15.10 Uhr. Alle Geschehnisse sind Schnappschüsse. Wohin der Chronist sich auch wendet, jeder Augenblick ist Tod und Sterben. Die in der deutschen Literatur einzigartige Schilderung erschüttert, weil trotz der extremen Kürze aller Ereignisse, jede der totgeweihten Figuren eine eigene Geschichte aufzuweisen hat: das Ehepaar, das sich in seiner Wohnung zerbomben lassen will, nachdem beide Söhne gefallen sind (es gelingt nicht, ein Soldat rettet sie und verbrennt selber); die Schüler an den Flakgeschützen; der Mann, der seine Frau und sein Kind noch einmal am Bahnhof sehen möchte stirbt auf dem Weg; der Gefreite mit seinem Haufen betrunkener, hoffnungslos junger Soldaten; der Funker im Bunker, die verzweifelte Mutter; der US-Sergeant, der den Fallschirmabsprung überlebt, dabei bis auf sein Hemd alle Kleidung verliert und so grotesk nackt in einen Bunker gerät, wo ihn geifernde Rächer lynchen wollen; der Priester, der das Feuer auf sich zukommen sieht ... Die meisterhafte Collage wird durch knappe, in die Chronik eingeflochtene Lebensläufe einiger Todgeweihter oder gerade Gestorbener ergänzt: "Ich, Anna Katharina Gräfin ..." Letztere erzählt eine grotesk-tragische Geschichte vom Tode ihres Sohnes, der im Eismeer über Bord geht. Wegen des U-Boot-Alarms wagt der Admiral keinen Rettungsversuch. Der gesamte Verband zog an dem Schiffbrüchigen vorbei. Die Mannschaften stehen in Reihe und grüßen den Todgeweihten. "Er war ein winziger Punkt auf einer regungslosen Fläche, und er blieb zurück, bis ihn keiner mehr sah. Das war mein Sohn."

In diesem Text ist nicht die Kasack'sche Melancholie einer unbegreiflichen Tragik spürbar, mit der die Literatur jener Jahre das Geschehen oftmals aus der direkten Erlebniswelt in eine metaphysische Dimension hob - zur Belehrung, zur Besinnung. Es ist auch nicht der Text eines existentialistischen Einzelkämpfers, der sich ausgeschlossen sieht von Gesellschaft und Staat. Nein, der Text ist radikal direkt, er verschont nicht. Er vermeidet Effekte ebenso wie Moral, Tröstliches gibt es bis zum Schluss nicht. Eher lakonisch die Schlusssätze: "Die Vergeltung verrichtete ihre Arbeit. Sie war unaufhaltsam. Nur das Jüngste Gericht. Das war sie nicht."

Unzumutbar für die Zeitgenossen. Von "makabrer Schreckensmalerei", "abscheulicher Perversität" war die Rede. Zudem erzeugte die glänzend inszenierte Montagetechnik des Romans eine Zeitgleichheit, die den Leser schmerzhaft direkt wieder mit dem Geschehen konfrontierte, dem er doch auf immer zu entkommen suchte. Kein wissender oder gar mitfühlender Erzähler stand bereit, an dessen Überleben man sich hätte klammern können und dessen rückschauende Betrachtung das Schreckliche hätte dämpfen können. In Form und Inhalt bot dieser Roman vor allem nichts von dem, was noch Nossacks Text verträglich machte: Jene metaphysische, abgehobenen Perspektive, die als tröstender Ausweg erscheinen konnte und deren ästhetische Ausformung sich wie ein dämpfender Teppich auf das wahrhaftig Reale legte. Ledig war nicht der Einzige, der diese Erfahrung mit den damaligen Zeitgeist machen musste - aber seine Resignation angesichts der ihm entgegengebrachten Ablehnung ist folgenschwerer. Mit ihm verschwindet dieser Strang des literarischen Erzählens bis auf weiteres aus der bundesrepublikanischen Literatur.

3. Als Beleg dafür kann Alexander Kluges ,später' Text "Der Luftangriff auf Halberstadt am 8. April 1945" gelten. Der Text erschien 1977 und ist jetzt wieder zugänglich in der grandiosen "Chronik der Gefühle". Der zeitliche Abstand zum Geschehen verschaffte dem Autor jene Erkenntniszusammenhänge, die es ihm ermöglichten, Thema und Form noch einmal sinnstiftend zusammenzubringen. Ausgangspunkt ist die eigene Zeitzeugenschaft: "Die Form des Einschlags einer Sprengbombe ist einprägsam. Sie enthält eine Verkürzung. Ich war dabei, als am 8. April 1945 in 10 Meter Entfernung so etwas einschlug." Und, so möchte man hinzufügen, die Geburtsstadt zerstörte.

Ein Gefühl wird zum subjektiven Ordnungsmaß, dessen Formausdruck die scheinbar zufällige Aneinanderreihung von Szenen, Figuren, Handlungen während des Luftangriffs ist. In der collagenartigen Aneinanderreihung des Materials ähnelt der Katastrophenbericht Ledigs Herangehensweise. Doch während dessen Episoden unausweichlich im Tod münden, erspürt Kluge in seiner Zerstörungschronik Lebendiges. Wie ordnet der von Strategen zum Tode bestimmte Mensch seinen Untergang? Wie orientiert er sich im Angesicht des Todes? Wie empfindet er die Katastrophe? Wie organisiert der Berufsfeuerwehrmann den Einsatz? Welche Strategie lenkt die Bomber? Indem er derartige Fragen stellt, ,objektiviert' Kluge den realen Zusammenhang, in dem seine Figuren gefangen scheinen. Während sprachlich und atmosphärisch der Eindruck einer kühl und zynisch geschilderten Vernichtung entsteht, wird doch gleichzeitig die Katastrophe auch bereits als technischer, rational-kausaler Zusammenhang ,verstehbar'. Die Vivisektion des Realen ist der erste Schritt zur Befreiung aus den Fesseln der betäubenden Zustände und der Wiederherstellung wacher Autonomie. In der speziellen Dialektik von Subjektivität und Objektivität erfahren wir Neues von den Personen und der Katastrophe. Wir sehen sie agieren, sich als Individuen behaupten. Lernprozesse sind möglich - wenn auch (noch) "mit tödlichem Ausgang".

In der ungeheuren Katastrophe des Luftkriegs pulverisiert das freie, selbstbestimmte Individuum. In der apokalyptischen Wüstenei torkeln demütige und bewusstlose Todmenschen willenlos und schicksalsergeben. Der düsteren Apathie dieses Szenarios verweigern sich die Texte. Gegen die alles gleichmachende Gewalt der Trümmerlandschaft behaupten die Texte eine kühne ästhetisch-formale Eigenständigkeit. Verweigern ein gemeinschaftliches melancholisches Klagelied. Eine strenge Zumutung für Autor und Leser. Zu streng für eine Generation, die in Verdrängung Läuterung zu finden meinte.

Titelbild

Alexander Kluge: Chronik der Gefühle. 2 Bände.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
1.004 und 1.032, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3518412035

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Titelbild

Gert Ledig: Vergeltung. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
210 Seiten, 8,50 EUR.
ISBN-10: 3518397419

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Titelbild

Hans Erich Nossack: Der Untergang.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2002.
81 Seiten, 10,80 EUR.
ISBN-10: 3518015230

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