Die Flut trübt die Sinne

Marcel Beyer verspricht "Nonfiction" - und hält sich nicht daran

Von Ulrich SimonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Simon

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es scheint alles so schön eindeutig. Der Titel "Nonfiction" verheißt Eindeutiges, der Verlagstext verspricht Auseinandersetzungen des Autors "mit den poetologischen Vorgaben und den lebensgeschichtlichen Hintergründen" seiner Arbeit. Klingt nach Werkstattberichten, aber der Eindruck trügt. Denn Marcel Beyer, geboren 1965, hat etwa mit seinen Romanen gezeigt, dass man ihm misstrauen darf. Nicht, wenn er über Liebe schreibt wie in "Menschenfleisch" (1991), schon gar nicht, wenn er das Erzählen des Nationalsozialismus inszeniert wie in "Flughunde" (1995), und auch nicht, wenn die Bedingungen des Erinnerns mit dem Kalten Krieg verknüpft sind wie in "Spione" (2000).

"Nonfiction" versammelt nun auf 320 Seiten 25 Texte, alle nach 1995 entstanden und zumeist in der Tagespresse, in Literaturzeitschriften oder in Sammelbänden erschienen, teils Dankesreden und Poetikvorlesungen. Vier Stücke sind Erstveröffentlichungen.

Der umfänglichste Text, "Wasserstandsbericht", eröffnet den Band: Der Autor reflektiert hier über das Hochwasser 2002, das er in Dresden intensiv erlebte, wo er seit 1996 zu Hause ist: "Das erste Mal in meinem Leben bin ich Augenzeuge." Der Text vereinigt die Beyerschen Qualitäten - man ist begeistert von der Anschaulichkeit, betört von der Sinnlichkeit und beeindruckt von der Fülle der Beobachtungen und Reflexionen. Die Grenzen zwischen Reportage, Essay und Tagebuch sind fruchtbar verwischt.

Beyer fällt auf, dass während des Hochwassers den Radiosendungen die "sonst übliche Hintergrundmusik zu den Hinweisen, die auf die Hauptnachrichten folgen", fehlt. "Und ich erkannte, das Schlimmste war nun wirklich überstanden, daran, dass die Durchsagen wieder mit Musik unterlegt waren." Doch das Ende des Textes konfrontiert den Leser mit der Einsicht: Der Beobachtung des Erzählers ist nicht zu trauen. Augenzeugen gelten zwar nach wie vor als besonders glaubwürdig - besonders zuverlässig sind sie auch dann nicht, wenn sie Beyer heißen: "Ich bin noch immer zuversichtlich [...] das sichere Gefühl ist mir geblieben: Es wird nichts mehr geschehen." Doch die Aufforderung der Polizei, die eigene Wohnung zu räumen, zwingt zu der Einsicht: "An diesem Blick, an dieser Stimme erkenne ich unmißverständlich: Das Hochwasser beginnt."

Allein schon "Wasserstandsbericht" würde den Band rechtfertigen. Doch die kurzen Stücke, für ein größeres Publikum bislang kaum erreichbar, demonstrieren im Zusammenspiel Beyers Vielseitigkeit. Die Prosastücke in "Nonfiction" lassen sich als forcierte Anleitung zum Misstrauischwerden lesen. Der Erzähler in "Nachtwache" befremdet den Leser etwa mit der Bemerkung: "Die Augen nicht zu schließen hieß: die Lider können nicht verkleben, wie auch die Fensterscheiben nicht vereisen, solange man wach ist." Ist das naive Rollenprosa? Oder ist die ungewöhnliche Verknüpfung Anzeichen einer Bewusstseinsstörung? Will man dieser Kinderlogik trauen: wenn ich das Fenster beobachte, vereist es nicht, sondern die physikalische Reaktion wartet auf meinen Schlaf? Den Punkt, an dem Alltag durch minimale Verschiebungen ins Unfassbare, womöglich Bedrohliche kippt, vermag Beyer erstaunlich präzise zu fassen. Dies meint er unter anderem, wenn er für sich in Anspruch nimmt, "von Dingen sprechen" zu wollen, die "abseits des Definierten liegen", weil ihn das "Ausloten von Möglichkeiten" interessiere.

Man kann Marcel Beyers Poetik-Vorlesungen oder seine Literaturinterpretationen (zu T. S. Eliot etwa oder Zwetajewa, Johnson und Semprun, Thomas Kling oder Heinrich Böll) als Hinweis nehmen, welche Leser der Autor sich erhofft, indem er vorführt, wie es ihm als Leser geht: Er überantwortet sich seiner Neugierde, liest genau, recherchiert Wörtern hinterher, nutzt die Literaturgeschichten und die Selbstauskünfte. Was Beyer aus Michel Leiris' Autobiografie zitiert oder aus Celans Briefen, verlockt zum Weiterlesen. Das ausführliche Literaturverzeichnis kann man also kaum anders denn als Dienstleistung eines instruktiven Literaturwissenschaftlers betrachten, der Beyer auch ist.

Der Lyriker (etabliert durch seine Gedichtsammlungen "Falsches Futter" 1997 oder "Erdkunde" 2002) nimmt sein Handwerkszeug ernst, auch dies vermittelt "Nonfiction". Ein Gedicht, das "offensichtlich keiner Sprache zuzuordnen", ein Vers, der sich sperrt, ein Wort, das sich der Vereinnahmung entzieht: "Das ist, eindeutig, Politik."

Solche Bekundungen mag man von Lyrikern erwarten. Weniger hingegen, dass sie die verschiedenen Reclam-Ausgaben des "Ackermann" vergleichen, weil die Kombination von Neugierde und Misstrauen zu den antisemitisch motivierten Auslassungen der Ausgabe von 1937 führen, die auch 1969 noch verwendet wurde (Beyer hätte sich ebenso auf die Ausgabe von 1998 berufen können); erst seit 2000 gibt es eine Stuttgarter Ausgabe ohne völkische Untertöne. Beyer schärft den Blick dafür, dass sich auch in den Titeln die Ideologiegeschichte spiegelt: Mit dem "Ackermann aus Böhmen" und dem "Ackermann und der Tod" oder nur dem "Ackermann " verbinden sich verschiedene Ansprüche, zumal von heute aus betrachtet, denn die Erfahrung des Nationalsozialismus hat die Wahrnehmung verändert. Es ist dies Beyers Kommentar zu seinem Gedicht "Erdkunde", das sich der verschiedenen historischen Schichten der Gegend annimmt, die unter anderem mit dem "Ackermann" konnotiert ist.

Welch widersprüchliche Wahrnehmungen durch unterschiedliche historische Erfahrungen bestimmt sind, das interessiert Beyer in vielen Varianten. Welche Assoziationen Worte wie "Alpaka" bei Menschen hervorrufen, hängt zum Beispiel davon ab, ob sie in der BRD oder in der DDR gelebt haben. Beyer verdichtet dies in einer Miniatur. Wer über deutsche Geschichte(n) zwischen 1918 und heute erzählen kann, hat aufmerksame Leser verdient.

Titelbild

Marcel Beyer: Nonfiction.
DuMont Buchverlag, Köln 2003.
322 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-10: 383217835X

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