Unendlicher Mangel an Realität

Die Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit erörtert die Perspektiven historischer Geschlechterforschung

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Perspektive, damit kann zweierlei gemeint sein. Zunächst die Inblicknahme von einer bestimmten Position aus, aber auch - meist positiv konnotierte - eine Zukunftsaussicht. Im Titel des von Andrea Griesbacher und Christina Lutter herausgegebenen Bandes "Die Macht der Kategorien. Perspektiven historischer Geschlechterforschung" scheint diese Ambiguität auf. Bei dem schmalen Bändchen handelt es sich um die vierte Ausgabe der noch jungen "Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit". Nachdem die bisher erschienen Hefte unter den Themen "Österreich in Europa", "NeuZeit?" und "Postkoloniale Kultur-Geschichte" standen, richtet die vorliegende Ausgabe ihre Aufmerksamkeit auf die Kategorie Geschlecht und unternimmt es, deren Relationen im Zeitalter der europäischen Neuzeit in einer "möglichst großen Bandbreite" vorzustellen. Besonderen Wert legen die Herausgeberinnen auf die Feststellung, dass Geschlecht eine "mehrfach relationale Kategorie" sei. Diesem Verständnis liegt ein Erkenntnisinteresse zugrunde, das nach den Möglichkeiten fragt, die "konkrete, mehrfach verortete Menschen" in "spezifischen historischen Kontexten" hatten.

Die Beiträge folgen der Chronologie der untersuchten Zeiträume und reichen von Michaela Hohkamps Untersuchung zu den Bedeutungen des Wortes "Geschlecht" in der Frühen Neuzeit bis hin zu "Überlegungen zu Geschlecht und Reproduktion in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts" (Maria Mesner). Dazwischen werden unter anderem "Magie und Frühaufklärung im sächsischen Erzgebirge zu Beginn des 18. Jahrhunderts" (Falk Bretschneider) oder die "Restaurierten Geschlechterverhältnisse nach dem zweiten Weltkrieg" (Gert Dressel und Nikola Langreiter) beleuchtet.

Michaela Hohkamp stellt sich am Beispiel von Geschlecht erfolgreich der Aufgabe das "Gestrüpp" der Kategorien in der Frühen Neuzeit zu lichten und legt dar, dass und warum 'gender' in prämodernen Gesellschaften nicht die "umfassend gesellschaftsstrukturierende Wirkung" entfalten konnte wie im "bürgerlichen Zeitalter". Zwar könne das Geschlecht als "gesellschaftsstrukturierender Faktor" betrachtet werden, doch die "konkrete Bedeutung von Frau- oder Mannsein" sei erst in einem "mehrrelationalen Raum von Zuordnungen und Zuweisungen" bedeutsam geworden. So verband sich Gender mit "verwandtschaftlichen Beziehungen" und "politischen Erwägungen", die seinen "gesellschaftlichen Gebrauchswert" wesentlich mitbestimmten. Die Lebensperspektive sei etwa besonders stark durch die "ständische Zuordnung" bestimmt worden, also davon abhängig gewesen, ob Männer und Frauen zum Stand der Ledigen, Verheirateten oder Verwitweten gehörten. Doch kam dem Geschlecht auch in fundamentalen Bereichen der Lebensäußerung eine zentrale Bedeutung zu. Die Möglichkeit legitimer Gewaltanwendung etwa war ausschließlich Männern vorbehalten. Die frühe Neuzeit unterschied zwischen Potestas, rechtmäßiger Gewalt, und Violentia, unrechtmäßiger Gewalt. Nur Männer hatte die Chance, die von ihnen ausgeübte Gewalt von einem Gericht im nachhinein als Potestas legitimiert zu bekommen. Gewalt von Frauen galt hingegen stets als Violentia und wurde hart bestraft, selbst dann, wenn eine beklagte Frau sich gegen einen Vergewaltigungsversuch gewehrt hatte. Die Ursache für die Unnachsichtigkeit der Obrigkeit gegenüber weiblicher Gewalt macht die Autorin in dem impliziten Widerspruch aus, den diese gegen die oktroyierte "geminderte Verantwortlichkeit" von Frauen erhebt. Die Obrigkeit operiere hier mit "eindeutigen geschlechterspezifischen Differenzierungen" und gestalte sie zu einem "wichtigen Segregationsfaktor", der zur Konstruktion von Geschlecht beitrug.

Ebenfalls lesenswert ist Karin Harrassers Relektüre von Donna Haraways Essay-Sammlung "Die Neuerfindung der Natur" (1995). Während Haraways bekanntester Text, das Cyborg-Manifest nach wie vor eine "anregende Lektüre" sei, ist Harrassers Verhältnis zu "Situiertes Wissen" ambivalenter. Wichtige Punkte dieses Textes seien inzwischen sowohl von Haraway selbst als auch von anderen Autorinnen prägnanter herausgearbeitet worden.

Der insgesamt recht positive Eindruck des Bandes wird etwas durch eine Rezension aus der Feder Wolfgang Müller-Funks getrübt, in der er den "langen Schatten" der Konstruktivismusdebatte beklagt, die, Anfang der 90er Jahre durch Judith Butlers Buch "Gender Trouble" ausgelöst, noch immer den feministischen Geschlechterdiskurs verdunkle. Überhaupt, so meint er, litten Poststrukturalismus, Dekonstruktion und Konstruktivismus unter einem "unendlichen Mangel an Realität".

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Andrea Griesebner / Christina Lutter (Hg.): Die Macht der Kategorien. Wiener Zeitschrift Zur Geschichte der Neuzeit.
Studien Verlag, Innsbruck 2003.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-10: 370651706X

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